Die Erscheinungen von Kibeho. Immaculée Ilibagiza
Wenn ich mir eine Welt vorstellte, in der es keinen Gott gäbe, dann, so schien es, erwartete mich ein schweres, sinnloses Leben. Bestenfalls.
Gott muss meine Not gespürt haben, denn er fand einen Weg, meine Zweifel zu zerstreuen, ehe sie zu tiefe Wurzeln schlugen.
Einige Wochen nachdem meine Glaubenskrise begonnen hatte, rief uns eine meiner Lieblingslehrerinnen nach vorn an ihren Tisch, um uns eine Geschichte vorzulesen: Sie handelte von den Erscheinungen von Fatima, und sie hat mein Leben für immer verändert. Ich hatte das Wort »Erscheinung« vorher noch nie gehört und hatte keine Ahnung, wie immens wichtig das, was ich jetzt hören würde, für mich werden sollte.
»Das ist eine Geschichte darüber, wie die Jungfrau Maria in Fatima erschienen ist und mit drei Kindern gesprochen hat, zwei Mädchen und einem kleinen Jungen, die in den Bergen die Schafe hüteten«, erklärte Miss Odette.
Trotz meines heftigen Anfalls von religiöser Skepsis hing ich noch immer an der Vorstellung, dass wir im Himmel eine Mutter haben, die über uns wacht, und bei der Erwähnung der seligen Jungfrau Maria horchte ich auf. Das, was meine Lehrerin nun vorzulesen begann, kam mir wie ein schönes Märchen vor:
Die Kinder waren die zehnjährige Lucia dos Santos, ihr kleiner Cousin, der neunjährige Francisco Marto, und seine Schwester Jacinta, die erst sieben Jahre alt war. Es war ein schöner Frühlingstag und die Kinder passten auf ihre Schafe auf. Sie beschlossen, den Rosenkranz zu beten, wie ihre Eltern es sie gelehrt hatten, doch als sie sich hinknieten, um zu beten, erschreckte sie ein plötzlicher Lichtblitz am Himmel. Weil sie Angst hatten, vom Blitz erschlagen zu werden, liefen sie los und suchten Schutz unter einem großen Baum. Als sie nach oben schauten, um zu sehen, ob ein Sturm aufzog, erblickten sie gleich vor sich eine schöne Dame, die in einem strahlenden Lichtkranz schwebte. Die Dame trug ein fließendes weißes Gewand und hielt einen Rosenkranz in ihren zum Gebet gefalteten Händen.
Lucia, Francisco und Jacinta fürchteten sich sehr, doch dann sprach die Dame, und ihre Stimme war sanft und klang wie Musik: »Habt keine Angst vor mir, liebe Kinder, ich will euch nichts Böses tun«, sagte sie.
»Woher kommen Sie?«, fragte Lucia, die spürte, dass sie es hier mit etwas Großem zu tun hatte. Sie hatte überhaupt keine Angst mehr, sondern wurde von einem Gefühl tiefer Liebe überwältigt.
»Ich bin vom Himmel und bin vom allmächtigen Gott hierher gesandt worden«, antwortete die Dame freundlich.
Gierig sog ich jedes Wort auf und dachte: Großartig, was für eine schöne Geschichte. Ich frage mich, wer sie wohl erfunden hat. Wie schön wäre es, wenn mir so etwas passieren würde; dann wüsste ich sicher, dass es Gott gibt, und ich würde mich beim Beten wieder wohlfühlen.
Miss Odette las weiter:
»Was wünschen Sie von uns?«, fragte Lucia, die nicht wusste, dass sie mit der Jungfrau Maria sprach. Die Dame sagte, sie wünsche, dass die Kinder sechs Monate lang jeden Monat am selben Tag an diesen Ort kommen sollten. Lucia versprach, dass sie das tun würden, und sie fragte die Dame, ob sie eines Tages bei ihr im Himmel sein werde.
»Oh ja«, antwortete die Dame.
»Und meine Cousine Jacinta – wird sie in den Himmel kommen?«, fragte Lucia.
»Oh ja«, antwortete die Dame.
»Und mein Cousin Francisco – wird er auch in den Himmel kommen?«
»Ja, er wird, aber vorher wird er noch viele Rosenkränze beten müssen«, antwortete die Dame sanft. Dann sagte sie den Kindern, dass sie Jacinta und Francisco bald in den Himmel holen werde, dass Lucia aber noch eine Aufgabe auf der Erde habe und sich deshalb gedulden müsse, bis sie in den Himmel komme.
Die Dame kam wie versprochen Monat für Monat wieder. Bei ihren vielen Besuchen fragte sie, ob die drei Kinder bereit wären, sich Gott darzubieten zur Sühne für die vielen Sünden der Welt und Leiden zu ertragen, wie Jesus es getan habe.
»Wollt ihr zur Sühne und für die Bekehrung der Sünder Leid auf euch nehmen?«, erkundigte sie sich, und die Kinder versprachen ihr alle, dass sie dazu bereit wären.
Die Kunde von den Erscheinungen verbreitete sich rasch im ganzen Land und auch in fernen Ländern. Zuerst wurden die Kinder verspottet und sogar von ihren eigenen Familien Lügner genannt, doch bald schon kamen alle, die zunächst gezweifelt hatten, zum Glauben – siebzigtausend Menschen pilgerten sogar eigens nach Fatima, um beim letzten Besuch der schönen Dame dabei zu sein. Obwohl die Muttergottes nur Lucia, Francisco und Jacinta erschien, wurden Tausende von Menschen, die die jungen Seher beobachteten, Augenzeugen vieler Wunder, die während der Erscheinungen geschahen: Sie sahen die Sonne am Himmel tanzen, sie sahen Bilder von Heiligen in den Wolken und wunderbare Heilungen.
Maria sagte den Kindern immer wieder, dass sie sie sehr liebe, und bat sie, den Rosenkranz zu beten, weil dies der beste Schutz vor dem Bösen und der sicherste Weg sei, einen Platz im Himmel zu bekommen.
»Ist das nicht eine schöne Geschichte?«, fragte Miss Odette die Klasse.
Das ist die schönste Geschichte, die ich je gehört habe, dachte ich. »Was ist aus den drei Kindern geworden, denen Maria erschienen ist?«, fragte meine Mitschülerin Miriam.
»Nun«, antwortete unsere Lehrerin, »genau wie die Dame es versprochen hatte, hat sie Jacinta und Francisco noch als Kinder zu sich in den Himmel geholt. Aber Lucia lebt noch und hat jahrelang Großartiges für die selige Jungfrau Maria geleistet.«
»Was?!«, rief ich laut und sprang auf. »Was sagen Sie da? Lucia ist noch am Leben? Das war doch nur eine Geschichte, was Sie uns da erzählt haben, oder nicht, Miss Odette? Das war doch bloß erfunden, oder nicht?«
»Oh nein, Immaculée. Das alles ist wirklich genau so geschehen, wie ich es euch vorgelesen habe«, sagte Miss Odette und lachte über meinen verblüfften Gesichtsausdruck.
»Nein!«
»Doch«, beharrte sie.
»Wie ist das möglich, Miss Odette? Wie kann das sein, dass die selige Jungfrau Maria auf die Erde gekommen ist? Wie ist das möglich, dass jemand sie gesehen hat?«
»Nun, es war ein Wunder.«
»Aber ich dachte, Wunder wären nur in alten Zeiten geschehen, in biblischer Zeit und nur im Heiligen Land.«
»Aber nein, Immaculée, Wunder geschehen jeden Tag … Gott wirkt sie, wann und wo es nötig ist. Das Wunder von Fatima geschah 1917, vor 64 Jahren. Und Fatima liegt in einem Land, das Portugal heißt und das gar nicht so weit von Ruanda entfernt ist, wie man meinen könnte.«
»Miss Odette« – jetzt wollte ich es genau wissen –, »nehmen Sie uns auf den Arm oder hat die selige Jungfrau Maria diese Kinder wirklich besucht?«
»Ja, sie hat Lucia, Jacinta und Francisco wirklich besucht«, versicherte sie mir geduldig.
»Und weiß die Kirche davon?«
Wieder lachte meine Lehrerin. »Natürlich weiß die Kirche davon! Die Kirche hat alle möglichen Priester und Ärzte geschickt, um die Kinder zu untersuchen und um sicherzugehen, ob die Wunder wirklich vom Himmel stammten – sie haben viele, viele Jahre geforscht, weil sie ganz sicher sein wollten, dass das alles wahr ist.«
»Aber warum haben wir nichts davon gehört? Warum spricht in der heiligen Messe niemand darüber?«
»Nicht jeder kennt sich mit Erscheinungen aus, Immaculée, und nicht jeder glaubt daran. Aber Fatima ist nicht der einzige Ort, wo Maria Kindern erschienen ist. An einem anderen Ort, der Lourdes heißt, ist sie einem Mädchen namens Bernadette erschienen, und sie wird auch in Zukunft jungen Menschen erscheinen, die glauben. Wo Maria einmal war, dort wird sie nie vergessen. Noch heute reisen Tausende von Menschen nach Fatima, um den Ort zu sehen, wo sie zu den Kindern gesprochen hat. Dort nennen sie sie ›Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz‹ oder ›Unsere Liebe Frau von Fatima‹ und sie wird sehr geliebt.«