Charleston, Jazz & Billionen. Walter Rauscher

Charleston, Jazz & Billionen - Walter Rauscher


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Varietés der eleganten Luxusstädte« sinnieren. Dieser kann das Interesse für »diese Massenvergnügungen, diese amerikanischen«, nicht verstehen, nicht begreifen, was es zu suchen gab, »in den Weltausstellungen, auf den Korsos, in den Vorträgen für Bildungsdurstige, auf den großen Sportplätzen«.

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       Howard Carter untersucht den Sarg des Pharaos Tutanchamun.

      Die Zwanzigerjahre waren unter vielem anderen eben auch eine Ära der Sensationen, Dramen und Rekorde aller Art. Die Geschehnisse rund um die Entdeckung des altägyptischen Grabmals von Tutanchamun durch Howard Carter, das Erreichen bislang unvorstellbarer Geschwindigkeiten durch Fritz von Opel in einem Raketenauto oder die Weltumrundung Hugo Eckeners mit seinem Zeppelin waren nur drei Ereignisse dieser Dekade der Extreme und Spektakel, die die Welt in Atem hielten. Millionenfach besuchte Messen, große Sportveranstaltungen, der Erfolg von Kino, Schallplatte und neuerdings des Radios bewiesen, dass die Menschen in bis dahin unbekanntem Ausmaße informiert und unterhalten werden wollten.

      Eine neue Zeit brauchte auch neue Gesichter: unverwechselbare, herausragende Persönlichkeiten, Helden, Idole. Und sie brauchte ein Genie. So konnte es geschehen, dass ein naturwissenschaftlicher Theoretiker, der als junger Forscher noch als Verlierer, ja als Schande für die Familie galt, der sogar von seinen Kollegen, die seine Erkenntnisse zunächst selbst nicht verstehen konnten, für verrückt gehalten worden war, dass aus einem Technischen Experten dritter Klasse, einem »ehrwürdigen eidgenössischen Tintenscheißer mit ordentlichem Gehalt« am Patentamt in Bern beinahe im wahrsten Sinne des Wortes eine Lichtgestalt menschlichen Geistes wurde: Am 10. Dezember 1922 erhielt Albert Einstein – in Abwesenheit – den Nobelpreis für Physik.

      Schon seit Jahren hatte Einstein mit dem Erwerb der höchsten Auszeichnung, die ein Wissenschaftler für seine Arbeiten erhalten konnte, spekuliert. Doch innerhalb der Wissenschaft war man sich über die Richtigkeit und den Wert seiner Theorien keineswegs vollkommen einig. Einstein hatte eine Reihe namhafter Gegner, die seine Thesen bestritten und die Welt von deren Unhaltbarkeit zu überzeugen suchten. Nach jahrelangem Widerstand erhielt er 1922 den Nobelpreis auch nicht für seine Hauptarbeit, die Relativitätstheorie, sondern für die Entdeckung des Gesetzes der fotoelektrischen Wirkung. Diese datierte bereits aus seinem »Wunderjahr 1905« und wurde schließlich zur Basis der Quantenmechanik.

      Wegen einer Vortragsreise nach Japan blieb es Einstein zu guter Letzt gar verwehrt, an der Preisverleihung am 10. Dezember 1922 in Stockholm teilzunehmen. Das Preisgeld überließ er Mileva Marić, seiner ersten Ehefrau, die seinerzeit für die Familie ihre Laufbahn als Physikerin aufgegeben hatte, und den beiden gemeinsamen Söhnen. Auf dem Weg zu internationaler Berühmtheit hatte er ihr dies voller Selbstvertrauen in seine weitere Karriere bereits bei der Scheidung Anfang 1919 versprochen. Einstein, ein Mann mit vielen Gesichtern, war allerdings weder ein mitfühlender Vater, noch ein treuer Ehemann.

      Bereits zu Beginn der neuen Dekade galt der am 14. März 1879 in Ulm geborene, freiheitsliebende Revolutionär der Naturwissenschaften als »kosmische Berühmtheit«. Sein neuer Blick auf die Welt, seine intellektuelle Furchtlosigkeit, die sich in der Auflehnung gegen traditionelles Denken manifestierte, faszinierten die Öffentlichkeit. Seine umwälzenden Ideen machten ihn zum Liebling der Massen. Die Öffentlichkeit bewunderte diesen, wie sie meinte, genialen Kauz, der die Welt mit den Augen eines Kindes betrachtete, begeisterte sich für seinen Humor, seine Schlagfertigkeit, seine ungewöhnlich direkte Art.

      Sein Äußeres trug unzweifelhaft mit dazu bei. Auf seine Zeitgenossen hinterließ er aufgrund seines unkonventionellen Erscheinungsbilds weniger den Eindruck eines trockenen, strengen Gelehrten als vielmehr den eines Künstlers oder Dichters. Auch wenn seine eigentlichen Forschungen für viele unbekannt blieben, attestierte man ihm allgemein eine unbestreitbare Aura des Genialen. Einstein erreichte Menschen, die sich für gewöhnlich nicht mit Physik beschäftigten. Seine Zuhörerschaft war bunt gemischt, wie beispielsweise ein Vortrag im bis auf den letzten Platz besetzten Großen Saal des Wiener Konzerthauses unter Beweis stellte: Zu Universitätsprofessoren gesellten sich in der österreichischen Hauptstadt weilende britische Offiziere, Bankdirektoren, Ärzte, Techniker, Studenten, und es fiel auf, dass das Publikum aus besonders vielen Frauen bestand.

      Für seine Bewunderer führte Einsteins Relativitätstheorie die Welt an die höchsten Probleme menschlicher Philosophie heran, stellte physikalisch-mathematisch ein komplett anderes Lösungsmodell auf. Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Wahlschweizer am Patentamt in Bern, als Professor in Zürich, Prag und schließlich Berlin sowie als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik an der Preußischen Akademie der Wissenschaften unter seinem Mentor Max Planck nichts Geringeres als eine neue Theorie der Gravitation und des Universums entwickelt. Einstein brach dabei mit der traditionellen Lehrmeinung, wonach Zeit und Raum fest und unveränderlich wären. Er erkannte sie vielmehr als variable Größen des physikalischen Geschehens. Für seine Anhängerschaft bedeutete diese Erkenntnis einen gewaltigen Schritt für die Menschheit: »Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte des Menschengeistes. Die Zukunft wird Einsteins Theorie gehören«, hieß es in einem Zeitungskommentar. Der als das Genie des 20. Jahrhunderts schlechthin gefeierte Physiker sah seine Theorie freilich als logische Folge der Erkenntnisse seiner Vorgänger Galilei und Newton, nicht als Revolution. Dem Hype um die Quintessenz seiner Forschungsarbeit stand er distanziert gegenüber: »Über Relativität ist so viel geschrieben worden«, meinte er einmal. »Recht viel Gescheites, aber noch viel mehr Dummes.«

      Vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet lag für Einstein der eigentliche Wert seiner Theorie »in ihrer logischen Einfachheit«. Demnach gaben »einige wenige Prinzipien die Erklärung für viele komplizierte Vorgänge«. Aber selbst wenn bereits Taxifahrer angeregt über die Relativitätstheorie diskutierten, glaubten Einsteins Physikerkollegen keineswegs, dass gewöhnliche Menschen in der Lage wären, diese so schwierige Materie zu begreifen. Auch seine zweite Frau (und Cousine) Elsa ließ sie sich von ihm wiederholt erläutern. Mochte sie dabei die komplexen Zusammenhänge zunächst noch verstehen, musste sie jedoch schließlich zugeben, sie tags darauf wieder vergessen zu haben. Ihr Mann hielt seine Theorie als für gewöhnliche Menschen allerdings ohnehin uninteressant. Außerdem empfand sich Einstein für durchaus ungeeignet, seine Erkenntnisse einem breiteren Publikum allgemein verständlich zu vermitteln. Doch dies tat der Begeisterung keinen Abbruch. Er selbst vermochte die große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht zu verstehen. »Es scheint mir, dass diese Tatsache wert ist, psychopathologisch untersucht zu werden.«

      Offensichtlich gab es aber eine weit verbreitete Sehnsucht nach einem Genie, das die aus den Fugen geratene Welt neu erklärte. Die Gesellschaft war in nervöser Aufbruchsstimmung, und Einstein sollte ihr helfen, das Universum und seine Gesetze besser zu verstehen. Nachdem die alte Ordnung durch einen von ihr selbst verschuldeten Krieg abgewirtschaftet hatte, kam ein unkonventioneller Freigeist, der sich um traditionelle Vorstellungen nicht sorgte, gerade recht. Die Autoritäten eines überkommenen Zeitalters waren erschüttert, in Teilen Europas entmachtet, verjagt, in Russland regelrecht vernichtet sogar. Im Gegenzug erschien für eine neue Epoche eine echte geistige Autorität umso mehr willkommen.

      Einstein galt wohl als der klügste Mensch der Welt. In jeder Metropole, die er mit seinem Besuch beehrte, wurde er bejubelt. So feierte er etwa auch in Paris Triumphe. »Alle Vorträge«, so hieß es während seines Aufenthalts in der französischen Hauptstadt Anfang April 1922, »trugen ihm Ovationen ein.« In New York erwarteten 50 000 Menschen seine Ankunft. Die Presse verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Einstein empfand Interviews jedoch als eine Art Striptease und versuchte, angesichts seiner wachsenden Popularität vergeblich, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Er wollte sich lieber seiner Arbeit widmen oder Violine spielen. »In meinem Leben spielt das künstlerisch Ahnungsvolle eine nicht geringe Rolle«, ließ der Wissenschaftsstar die Reportermeute nach seiner Überfahrt über den Atlantik wissen. »Daraus ist auch meine große Liebe für die Musik zu erklären.«

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       Der Triumphzug eines Genies: Albert Einstein nimmt die Ovationen der Menge entgegen.

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