Charleston, Jazz & Billionen. Walter Rauscher

Charleston, Jazz & Billionen - Walter Rauscher


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Meisterverhandler, gewiefter Taktiker mit bemerkenswerten Fähigkeiten und Redner mit immenser Überzeugungskraft. Seine taktische Beweglichkeit war für manchen allerdings eine Charakterschwäche. Colonel Edward House, der aus Texas stammende engste Berater Wilsons, sah in Lloyd George einen oberflächlichen »Unheilstifter«, jemanden, »der seine Meinung ändert wie ein Wetterhahn«. In der Kampagne zu den britischen Parlamentswahlen übte sich der liberale Premier tatsächlich noch in radikalem Populismus und forderte, den Deutschen den »Knockout-Schlag« zu versetzen und ihren ehemaligen Kaiser Wilhelm zu hängen. Auf der Konferenz in Paris besann sich Lloyd George aber wieder seiner Rolle als Staatsmann und beabsichtigte vielmehr, ganz in alter Bismarck-Manier als »ehrlicher Makler« zu fungieren. Keineswegs im Zweifel über die Kriegsschuld des Hohenzollernreichs, wollte er Deutschland zwar bestrafen, es gleichzeitig für eine gesunde europäische Zukunft aber keinesfalls ruinieren. Daher hatte sich seiner Ansicht nach Frankreich mit seinen Wünschen zurückzuhalten. Die Deutschen sollten einen Frieden bekommen, den sie akzeptieren konnten, ohne nur mehr an Rache zu denken. Ein ruhiges Europa würde London die Möglichkeit bieten, sich auf sein Empire zu konzentrieren. Aber Großbritannien hatte im Vergleich zu Frankreich von einem regenerierten Deutschland viel weniger zu befürchten und durchaus mehr zu gewinnen. Diese Position teilte es mit den Vereinigten Staaten, die planten, sich nach erfolgreicher Ausübung ihrer Schiedsrichterrolle auf der Konferenz nicht mehr in Europa einzumischen.

      Die ausgedehnte Diskussion der oft uneinigen Siegermächte über den Vertrag mit Deutschland erzeugte jedoch in weiterer Folge nicht nur eine höchst gereizte Stimmung, sondern auch erheblichen Zeitdruck. Zu allem Übel wurden viele Staaten in Europa von Krisen geschüttelt, so auch Frankreich, wo Clemenceau gerade den Attentatsversuch eines Anarchisten überlebt hatte. Der mittlerweile in die Jahre gekommene »Tiger« erholte sich rasch, begnadigte den zum Tode verurteilten jungen Mann und machte sich sogar über dessen miserable Schießkünste lustig.

      Die »Großen Drei«, längst müde und genervt, waren sodann nicht mehr willens, sich auf lange Debatten mit am Ende doch nur uneinsichtigen Deutschen einzulassen. Die Sieger entschieden sich für die unübliche Vorgehensweise, einfach Bedingungen zu stellen, auf die die Vertreter der besiegten Staaten lediglich schriftlich zu antworten hatten. Letzteren sollte nicht bloß jegliche direkte Verbindung zu den Delegationen der Alliierten, sondern auch die Zusammenarbeit untereinander verwehrt bleiben. Dass es zu Verhandlungen zwischen den gegnerischen Parteien an einem gemeinsamen Tisch gar nicht kam, bedeutete einen erheblichen Bruch der diplomatischen Tradition eines klassischen Friedenskongresses und musste ein Diktat der Sieger befürchten lassen.

       Die österreichische Delegation in Saint-Germain

      Die Nachfolger der einstigen Mittelmächte sollten einzeln, jeder für sich, zur Rechenschaft gezogen werden. Deren Abordnungen wurden in verschiedenen Pariser Vororten einquartiert. Dies geschah schon aus Gründen der Sicherheit, Anschläge in jener noch immer aufgewühlten Zeit waren durchaus möglich.

      Die österreichische Delegation bestellte der Oberste Rat nach Saint-Germain-en-Laye. Sie wurde von Staatskanzler Karl Renner angeführt. Der gebürtige Südmährer hatte sich zu Zeiten der Monarchie als gemäßigter sozialdemokratischer Abgeordneter zum Reichsrat und Experte für staatsrechtliche Fragen an der Seite des Gründers der österreichischen Arbeiterbewegung, Victor Adler, profiliert. Seit den Umsturztagen im Herbst 1918 stand der betont konstruktive Politiker an der Spitze der Regierung des neuen deutschösterreichischen Staats.

      Der österreichischen Friedensdelegation gehörten über 40 Mitglieder an. Zum Vergleich: Die britische Abordnung zählte beinahe 400 Personen. Die Delegierten aus Wien reisten mit einem aus zehn Waggons bestehenden Sonderzug nach Paris und benötigten für die Reise fast zwei Tage. In Saint-Germain bezogen die Österreicher ihre Unterkünfte in einem ruhig gelegenen Nobelviertel. Staatskanzler Renner erhielt gemeinsam mit drei Sektionschefs eine Villa mit großem Arbeitszimmer, einer Bibliothek und einem schönen französischen Garten mit malerischem Ausblick auf die Seine zugeteilt. In die benachbarte Villa zog der letzte kaiserliche Ministerpräsident, der als Pazifist bekannte Heinrich Lammasch, mit Frau und Tochter ein. Die beiden Anwesen gehörten den Brüdern Reinach, von denen der ältere, Joseph, ein alter Freund Clemenceaus war. »Ich lebe in der Villa eines der reichsten Pariser Geldmenschen«, schrieb Renner seiner Frau Luise, »habe einen eigenen französischen Diener ›Anton‹ […], übe mich im Französischen, halte mit meinen Delegationsmitgliedern Besprechungen ab, studiere Akten und gehe im Park spazieren. Das ist alles!« Doch der Kanzler musste zugeben: »Wir sind vollständig eingesperrt.«

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       Karl Renner nach der Entgegennahme der Friedensbedingungen in Saint-Germain

      Die österreichischen Delegierten, so das Journal des Débats, hätten sofort gezeigt, was sie von den Deutschen unterschied, den Franzosen für den guten Empfang gedankt und ihre gute Laune, ja ihre Freude gezeigt. »Der Wiener gleicht nicht dem Berliner.« Britische Blätter nannten die Mitglieder der Abordnung bald eine »happy, smiling family-party«. Dies mochte darauf zurückzuführen sein, dass man sich so manchen Abend mit Tanz oder Klaviervorträgen vertrieb. »Die Schreibfräulein sind zum Range von Damen der Gesellschaft vorgerückt, was zufällig durch die Qualität der Frauenzimmer etwas weniger auffällig ist«, schrieb der ursprünglich als Delegationsleiter vorgesehene ehemalige k. k. Justizminister Franz Klein privat in die Heimat. »Natürlich täglich ein- oder zweimal Kartenspiel, eine Art Bar ist dazu gekommen.« All dies mochte dazu geführt haben, dass die französische Presse die Österreicher denn auch als »lustige, gern essende und unernste Menschen« beschrieb.

      Der äußere Schein trog. Die aus Politikern, Beamten, Experten, Journalisten und Hilfspersonal bestehende Abordnung war gezwungen, ein Leben in vollkommener Isolation zu führen. Für den frustrierten Franz Klein war dies ein »Leben von Gefangenen, die nur am Grün der Bäume und an der frischen Luft sich mehr erfreuen dürfen und besser genährt sind als Sträflinge«. Vom gleichermaßen korrekten wie distanzierten Militär überwacht, standen den Gästen aus Österreich bloß drei Straßen und ein Teil eines Parks für die freie Bewegung zur Verfügung. Außerhalb der durch Holzzäune und Stacheldraht umgebenen Sperrzone der »Ville autrichienne« auch nur einkaufen gehen zu können, bedurfte einer Genehmigung. Renner indes ließ man ein Auto und die Möglichkeit für Ausfahrten, die ihn in Begleitung anderer Delegationsangehöriger bis zu den Schlössern der Loire führten. Da sich der Aufenthalt in Saint-Germain jedoch über Monate hinzog, fand auch Renner schließlich »das Zuwarten unerträglich«, wie er seiner Frau in einem Brief eingestand. »Man bekommt allmählich die Stimmung absoluter Hilflosigkeit, dabei wird das Heimweh immer mächtiger. Es ist Zeit, dass die Geschichte hier ein Ende nimmt.« Seinem Parteifreund Otto Bauer schrieb er von einer allmählich um sich greifenden Verzweiflung innerhalb der Abordnung, »die meisten Mitglieder leiden schon an Stacheldrahtpsychose. Alles fängt an, reizbar zu werden.«

      Noch vor der Abreise nach Saint-Germain war dem Staatskanzler allerdings bereits klar geworden, dass »der Gang, den die Friedensdelegation jetzt unternimmt, nicht so sehr einem Gang an den Beratungstisch als einem Bußgang gleichen« würde. Diese Worte hatte er jedenfalls vor der Nationalversammlung in Wien gewählt. Die österreichische Abordnung war eine Woche nach Überreichung der alliierten Friedensbedingungen an das Deutsche Reich in Paris eingetroffen. Diese galten in Deutschland ebenso wie in Österreich schlicht als »unerträglich« und »unerfüllbar«.

       Versailles

      Die Besiegten hatten auf Wilsons Friedensprogramm, auf die berühmten 14 Punkte des US-Präsidenten vom 8. Jänner 1918, als Grundlage der Konferenz in Paris gesetzt. Die deutsche Delegation unter der Leitung von Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau legte ihre Strategie darauf aus, in Verhandlungen zu einer möglichst günstigen Auslegung dieser teilweise vage formulierten amerikanischen Nachkriegskonzeption zu gelangen. Doch am Nachmittag des 7. Mai 1919 kam im Hotel Trianon-Palace dann alles ganz anders. Als Sieger und Besiegte


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