Hinkels Mord. Christina Bacher

Hinkels Mord - Christina Bacher


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nervös rüber zur Bahnhofsuhr. Noch acht Minuten, bis der verflixte Bus kam. Gerade wollte sie sich verabschieden, da versuchte Gunnar erneut ihre Aufmerksamkeit mit einem Trommelwirbel zu erreichen.

      »Hömma, tut mir echt leid mit Alex. Ist jetzt fast auf den Tag drei Jahre her, oder?«

      Erstaunlich, dass er sich nicht nur an ihren Bruder, sondern auch noch an das Datum seines Verschwindens erinnern konnte. »Das war’n feiner Kerl. Ich hab noch nie einen getroffen, der sich so gut mit der Marburger Geschichte und dem ganzen alten Kram auskennt. Voll der Nerd. Schad drum, echt. Aber gegen bad vibration kann man nix machen.« Gunnars helle, blaue Augen standen im krassen Gegensatz zu seinen großen, schwarzen Pupillen. »Bad vibration everywhere.«

      »Was, wenn er noch lebt?«, entgegnete Liva trotzig. Es klang nicht sehr überzeugt. Schnell wandte sie sich ab. Fünf Minuten bis der Bus kommen würde. Eigentlich fehlten ihr gerade die Nerven für ein solches Gespräch. Während Liva sich anschickte, die Straße rüber zur Haltestelle zu überqueren, schien Gunnar ganz versunken in seine Erinnerungen und bemerkte nichts von ihrer Eile.

      »Hab ihn ja noch kurz vorher getroffen. Waren wieder mal oben im Wald spazieren, haben ein Tütchen geraucht und rumphilosophiert. Ging in unseren Gesprächen viel um Schuld und Vergebung, den ganzen big stuff. Um Hater und Love, Selbsthass und Selbstliebe und so. Mega interessante Themen, aber schon harter Tobak, wenn man grade selbst am Wanken ist. Und wenn man nicht weiß, zu wem man gehört.«

      Liva verstand jetzt gar nichts mehr von dem, was der Junkie da faselte. Der Typ schien ihr wirklich komplett durch den Wind und brachte offenbar einiges durcheinander. Der sprach doch nur von sich selbst – Alex hätte nie im Leben gekifft. Und gehörte ganz sicher nicht zu der Sorte Menschen, die nicht wussten, wer sie waren und wo sie hingehörten. Ganz im Gegenteil!

      »Nur, wenn wir uns unserer Wurzeln bewusst werden, haben wir eine Chance, mit uns selbst in Frieden zu leben. Hat er gesagt. Immer wieder. Hat wohl geahnt, dass da was nicht stimmt. Alter, was für eine Geschichte. Crazy stuff!«

      Liva sah, wie der Bus nun in die Bahnhofsstraße einbog und auf die Haltestelle zusteuerte. Sie hatte eh genug gehört. Nichts wie weg hier.

      Als sie endlich auf einem der Fensterplätze im Bus Platz genommen hatte, schaute sie noch mal rüber zu Gunnar, der immer noch an seinem angestammten Platz auf dem Asphalt saß. »It’s a crazy world!«, krächzte er und hatte die Augen dabei fest geschlossen.

      Eine Passantin schüttelte verächtlich den Kopf. Jemand wie Gunnar wurde hier geduldet, klar. Es gab genug Verrückte und Grenzgänger in der kleinen Stadt. Ernstgenommen wurden sie nicht. Liva ging der Typ dennoch nicht aus dem Kopf. Was hatte er damit gemeint, dass Alex immer schon geahnt hatte, dass etwas nicht stimmte?

       12. September 1861, Oberstadt, Lorenz Reinhardt

      Er war so schnell gerannt, wie ihn seine Füße mit den klobigen Schuhen tragen konnten. Den ganzen Berg durch den Wald hinunter, an Lederers Garten vorbei, durchs Kalbstor, die Kugelgasse lang rüber zum Markt. Es waren nur wenige Menschen so früh schon unterwegs, manche schliefen vielleicht noch selig, andere fütterten das Vieh.

       Lorenz Reinhardt betrat mit eiligen Schritten das Eckhaus an der Reitgasse und bog ganz gegen seine Gewohnheit nicht zur Wirtschaft im Erdgeschoss ab, sondern nahm die steilen Treppen ins Obergeschoss, wo sich seit Jahr und Tag die Kurfürstliche Polizei-Direktion befand. »Esch häße Reinhard«, keuchte er mit hochrotem Kopf. »Forstläufer. Mir hun e Leich obbe am Dammelsberch! Kumme se schnell!«

      In der Amtsstube hatte der Regierungs-Polizeidirektor offenbar gerade seinen Dienst angetreten. Er schien sich über die überschwängliche Energie des jungen Mannes am frühen Morgen zu wundern, sicher hatte er wieder die halbe Nacht unten in der Gaststätte verbracht. Man munkelte schon länger, dass er ein Verhältnis mit dem Staatsprokurator habe und deswegen regelmäßig nach den Dienstbesprechungen noch auf ein paar Schnäpse beim Georg unten einkehrte, um später mit seinem Geliebten in einem Hinterzimmer zu verschwinden. Das passierte natürlich nicht täglich, aber schon hin und wieder. Manchmal, so unkten die Leute, lohne sich für ihn nicht mal mehr der Heimweg in sein windschiefes Häuschen zu seiner kugelrunden Frau unten an der Augustinertreppe.

      »Jetzt mal langsam!« Betulich nahm der hohe Staatsbeamte erst einmal Platz und knöpfte in Ruhe seine Jacke auf. Dann suchte er gemächlich einen Stift und ein Blatt Papier auf dem zugemüllten Schreibtisch, auf dem sich Geständnisse und Zeugenaussagen stapelten.

      Keiner Wunder, dachte Reinhardt, dass die Schuldigen der Massen-Schlägerei der betrunkenen Verbindungsstudenten am 1. Mai oder des Branntwein-Skandals vom Frühjahr noch nicht überführt waren. Was für eine abgründige Arbeitsmoral hier herrschte! Mitten auf allen Blättern und Kladden lag ein dickes, angebissenes Brot mit ahler Wurst. Unter anderen Umständen hätte er ihm das geneidet, heute war Reinhardt der Hunger wirklich vergangen.

      »Eine Leiche also. Männlich, weiblich, tot oder lebendig?« Er lachte über seinen eigenen Witz.

      Lorenz Reinhardt kratzte sich am Kopf. Er hätte es gleich wissen müssen. Der Alte war der falsche Ansprechpartner für einen solchen Notfall. Die Frau dort oben im Wald war übel zugerichtet worden. Alles blutverschmiert, und es saßen Tausende Fliegen auf ihren halbgeschlossenen Augen. Ihr Bauch hatte eine deutliche Wölbung, so als hätte sie ein Kind getragen. Reinhardt hatte sich ein ganzes Stück weiter unten im Wald gehörig übergeben müssen und stand unter Schock. Totes Wild hatte er ja schon oft geborgen. Ein totes Weib bislang noch nie.

       »Es ess e Frah. Dos Gesicht is unkenndlich«, stammelte er jetzt. Er konnte die Schnapsfahne seines Gegenübers bis zur Tür riechen. »Isch kenne se nit. Esch mähn, s’ könnt ä Tagelöhnerin sain!«

       »Sehr gut, Reinhardt. Das ist ein neuer Fall für die Kurfürstliche Polizeidirektion Marburg. Endlich mal was los in der Bude. Ich schreibe das jetzt alles genauestens auf, und Sie setzen Ihren Egon drunter. Dann sind wir schon einen großen Schritt weiter!«

      »Egon?« Was wollte der von ihm? Der Mann dachte sicher, er sei was Feineres als er, nur, weil er kein Platt sprach.

       »Na, Ihre Unterschrift, mein Lieber«, fügte der Beamte selbstgefällig hinzu. Und während er den Gerichtsdiener aus dem Vorzimmer herrief, um beim Kriminalgericht Meldung zu machen, schrieb er gleichzeitig dem Physikus Stadler eine Botschaft. »Jetzt fehlen nur noch die Männer aus der Anatomie in der Ketzerbach. Dann geht es los!«

       »Häst dos, mir müsse noch wordde?«

       »Eins nach dem anderen, nicht wahr? Entspannen Sie sich! Wenn schon die Fliegen da sind, liegt die Leiche eh schon ein paar Tage. Da kommt es auf ein paar Stunden jetzt auch nicht mehr an. Und wehe, wir finden dort oben nix. Sagen Sie es lieber gleich, wenn Sie heute Morgen schon einen über den Durst getrunken und sich das Ganze nur eingebildet haben.« Der Polizeidirektor brach in schallendes Gelächter aus. Dann nahm er sich das Brot vom Teller und biss herzhaft hinein. »Köstlich, Reinhardt. Es geht doch nichts über die ahle Wurst vom Liebig!«

       2. Kapitel

      Der weiße Verband verdeckte die langen, grauen Haare, die Theresa Lohrey sonst am Hinterkopf zum Knoten trug. Kaum sichtbar hob und senkte sich ihr Brustkorb. Sie lebte. Das war die Hautsache.

      Liva starrte die Frau, ihre Mutter, einfach nur an. So fremd kam sie ihr vor, wie sie da lag, um Jahre gealtert. Jetzt nahm sie behutsam die kleine Hand der Patientin. Ob sie überhaupt etwas mitbekam? Konnten Komapatienten hören, riechen, fühlen, etwas empfinden?

      »Mama.« Wie lange hatte sie dieses Wort nicht mehr gesagt. Liva kam sich seltsam vor. So klein und schutzlos, wie ein Kind, verkleidet mit einem Mundschutz und einer albernen Kopfbedeckung. Jetzt brachen sich doch die Tränen Bahn, und Liva vergrub das Gesicht in die weiße Bettdecke, die Hand auf die ihrer Mutter gelegt. »Ich habe dich so sehr


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