Hinkels Mord. Christina Bacher

Hinkels Mord - Christina Bacher


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Blick fiel auf die silberne Kette mit dem Elisabeth-Taler, die ihre Mutter stets um den Hals trug. Jemand hatte sie ihr wohl vor der Operation abgenommen und in ein offenes Schälchen auf den Nachttisch gelegt. Nachdenklich nahm sie sie in die Hand und betrachtete das Bild, das die Marburger Heilige zeigte und die Elisabethkirche, die man über dem Grab der Landgräfin errichtet hatte.

      Als kleines Mädchen hatte sie einmal unachtsam an der Kette gerissen. Da hatte es ein großes Donnerwetter gegeben, weil das gute Stück danach repariert werden musste. Das Prägejahr der Münze war auf 1509 datiert – so etwas war selten und unglaublich wertvoll. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, woher der Taler stammte. Nur einmal hatte sie angedeutet, dass sie ihn trage, um nicht zu vergessen. Was sie damit meinte, war immer im Dunkeln geblieben.

      Liva legte sich die Kette um. An ihrem Hals war sie sicherer als in ihrem Geldbeutel oder in der Hosentasche. »Ich passe auf deinen Anhänger auf, so gut ich kann.« Es war weniger der weiße Verband um den Kopf, der sie beunruhigte, als dieser bittere Zug um die schmale Lippen der Frau, der ihr fremd war. Dieser Mund hatte ihr früher so oft Trost gespendet und sie zum Lachen gebracht. Verdammt, sie musste sich zusammennehmen. Auf keinen Fall wollte sie ihrer eigenen Wut und Trauer Raum geben und noch mal hier losheulen. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht vor dem Arzt, der angekündigt hatte, mit ihr »über Wichtiges« sprechen zu wollen. Nicht vor den Schwestern, die hier nur leise miteinander redeten, sicher auch aus Respekt vor den Angehörigen auf dieser Station, in der Sterben und Hoffnung Hand in Hand gingen. Und schon gar nicht vor ihrer Mutter, die jetzt all ihre Kraft und Zuversicht brauchte.

      »Gut, dass Sie da sind.« Lautlos hatte sich ein Mann im weißen Kittel hereingeschlichen und stand jetzt direkt hinter ihr. »Konrad Naumann, ich bin der behandelnde Arzt.« Er beließ seine Hände im Arztkittel. Immer wieder ein seltsamer Moment, fand Liva, dass sich die Begrüßungsrituale in Zeiten von Pandemien und weltweiten viralen Katastrophen so massiv veränderten. Aus reiner Angst vor Ansteckung verzichteten viele inzwischen darauf, sich die Hand zu geben, und selbst gute Freunde umarmten sich nicht mehr zur Begrüßung. Was verband denn Menschen noch, wenn sie sich permanent voreinander fürchteten?

      Dennoch: Er hatte ja bereits am Telefon einen sympathischen Eindruck gemacht, der sich nun bestätigte.

      »Was … genau ist denn überhaupt passiert?« Liva hörte sich mehr stammeln als reden. »Wer hat ihr … das angetan?«

      Dr. Naumann zeigte auf die Kranke und deutete dann mit dem Kinn zur Tür. »Gehen wir lieber in mein Besprechungszimmer!«

      Liva folgte dem Arzt. Während sie den langen, weißen Krankenhausflur durchquerten, erzählte ihr der Mediziner, was sich des Nachts in ihrem Elternhaus zugetragen haben musste. Es habe also einen Einbruch gegeben, das Türschloss sei unversehrt geblieben, was der Polizei wohl Rätsel aufgebe. Ihre Mutter müsse die Täter reingelassen haben oder sie hätten einen Schlüssel gehabt. Jemand müsse ihr mit einem harten Gegenstand den Hinterkopf zertrümmert haben, daraufhin sei sie die steile Treppe hinuntergestürzt und habe sich mehrere Rippenbrüche zugezogen. Eine Nachbarin habe sie am Morgen im Flur gefunden und sofort den Notarzt gerufen. Die habe auch erst mal den Hund zu sich genommen.

      »Welche Nachbarin?«, fragte Liva tonlos.

      »Müller heißt sie, glaube ich. Sie hat schon mehrfach heute hier angerufen, um zu fragen, was jetzt mit dem Hund passieren soll. Sie hat ihn erst einmal zu sich genommen, will ihn aber nicht behalten«, er blätterte in seinen Unterlagen. »Madeleine Müller, ja richtig.« Liva nickte. Die kannte sie natürlich. Eine unfreundliche Person, die Kinder und Haustiere gleichermaßen auf dem Kieker hatte – das war schon immer so gewesen. Der arme, kleine Wodka war also jetzt bei dieser Schreckschraube untergekommen. Sie würde ihn aus deren Klauen retten müssen.

      Gemeinsam mit Alex hatte sie es damals geschafft, das Herz der Mutter für den kleinen Rehpinscher aus dem W-Wurf eines Hobbyzüchters aus dem Siegerland zu erwärmen. Ihn Wodka zu nennen, weil er auf seinen kleinen Beinchen immer so torkelte, hatten sie besonders lustig gefunden. Das war jetzt zehn Jahre her, Wodka war inzwischen ergraut und ein alter Herr geworden. Was würde mit ihm passieren, wenn die Mutter nicht mehr gesund wurde? Mit nach Köln würde sie ihn jedenfalls nicht nehmen können, Haustiere waren in ihrer Studentenbude untersagt. Sie nickte. »Ich kümmere mich!«

      Mit einladender Geste bat der Arzt sie Platz zu nehmen. Medizinische Fachbücher türmten sich auf seinem Schreibtisch, das Foto eines kleinen Mädchens stand in einem goldenen Rahmen daneben. Der Typ war also Vater einer süßen Tochter und somit sicher liiert. Einen Ehering trug er jedoch nicht, das war ihr gleich aufgefallen. Im selben Moment schämte Liva sich, dass sie selbst, wenn es um Leben und Tod ging, bei attraktiven Typen auf den Familienstand achtete. Das war ja schon fast pathologisch.

      »Espresso?«

      Sie nickte.

      Das heiße, duftende Getränk baute sie auf. Ihre Laune besserte sich schlagartig. »Und ich dachte, Ärzte hätten kaum Zeit für Gespräche mit Angehörigen. Dachte, die wären immer furchtbar gestresst und in Eile!«

      »Ertappt. Sie sind einem Mythos auf den Leim gegangen«, sein Lächeln war wirklich entwaffnend. »Angeheizt durch etliche Arztserien, die man täglich im Fernsehen sehen kann.«

      Veralberte er sie gerade? Und woher wusste er, dass sie mal eine ganz intensive Arztserien-Phase gehabt hatte? Noch gar nicht lange her.

      Er hängte seinen weißen Kittel an die Garderobe. »Tatsächlich habe ich schon Feierabend. Aber wir müssen noch darüber reden, was passiert, wenn es Ihrer Mutter schlechter gehen sollte«. Der flunkernde Ton war jetzt weg, das fröhliche Leuchten aus seinen Augen verschwunden. Er schob ihr eine Erklärung zu, die aus mehreren Seiten Papier bestand. »Sie müssten das hier unterschreiben, damit die Kollegen handlungsfähig sind, wenn heute Nacht eine Verschlechterung eintreten sollte. Das Leben Ihrer Mutter hängt am seidenen Faden …«

      Wieso sprach er es nicht einfach aus? Es ging darum, ob man sie künstlich am Leben erhalten sollte, wenn sie eigentlich tot war. Und das – da war sie sich sicher – wollte ihre Mutter nicht. Oder ging es um das Einverständnis wegen der Entnahme der Organe? Auch eine siebzig Jahre alte Niere konnte noch ein paar Jahre ihren Dienst tun und jemandem ein besseres Leben ermöglichen. Würde ihre Mutter Organe spenden wollen? Leber, Niere, Netzhaut? Was würde Alex in dieser Situation tun? Warum musste sie solche schwerwiegenden Fragen ganz alleine klären? Was hätte ihre Mutter sich jetzt gewünscht? Sie hatten nie darüber gesprochen.

      »Ich bin unsicher. Ich …«, Liva zögerte. In den meisten Ländern wurde einem diese schwere Entscheidung automatisch abgenommen, nur in Deutschland galt die Widerspruchsregelung nicht. »Keine lebenserhaltenden Maßnahmen«, sagte sie.

      Der Arzt reichte ihr einen Kugelschreiber und tippte mit dem Finger auf eine Zeile, die für die Unterschrift vorgesehen war. Sie bestimmte hier gerade über Leben und Tod eines anderen Menschen. Mit welchem Recht eigentlich?

       12. September 1861, Medizinalrat Dr. Stadler

      Jemand hatte die Frau regelrecht abgeschlachtet. Selbst für einen erfahrenen Gerichtsarzt wie Medizinalrat Dr. Stadler stellte die Leiche, die ihm da frisch auf den Tisch gelegt worden war, einen schauderhaften Anblick dar. Und ausgerechnet bei so einem besonderen Fall hatte man ihm diesen Grünspan Julius Nau zur Seite gestellt. Der machte einen so unterbelichteten Eindruck, dass man daran zweifeln musste, ob der überhaupt lesen und schreiben konnte.

       »Parat, Nau?«

      Er konnte den jungen Mann einfach nicht ernst nehmen. Gerade schien er zu überlegen, wie er Protokoll schreiben und das Taschentuch mit Veilchenduft weiterhin unter seine Nase pressen konnte – beides ging ja nun nicht gleichzeitig! Der Geruch der Leiche war in der Tat unerträglich. Die Fliegen hatten ganze Arbeit geleistet, und die Augen der Frau fast vollständig vertilgt. Ihr Körper war von Flecken übersät, der Leichnam bereits in Verwesung begriffen. Kein Wunder. Die Frau hatte drei Tage lang bei Höchsttemperaturen im Wald gelegen, bis man sie gefunden hatte. Die Identität des Opfers, so hatte man Stadler mitgeteilt, sei nicht bekannt.


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