Hinkels Mord. Christina Bacher

Hinkels Mord - Christina Bacher


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der Tod ist am dritten Tage, höchstens vierten Tage vor Auffinden eingetreten. Der Tod wurde durch Verbluten in Folge des Durchschneidens der Gefäßstämme mit einem kräftigen Schnitt bewirkt«, er machte eine Pause, weil er sah, dass sein Gehilfe so schnell nicht mitschreiben konnte. »Mit absoluter Gewissheit handelt es sich nicht um eine Selbsttötung.« Stadler räusperte sich und nahm das Lineal zur Hand. Äußerlich tat er so, als wäre nichts. Innerlich schäumte er wegen Naus deutlichen Würgegeräuschen. Die konnte man nicht ignorieren. Der Mann war hier fehl am Platz, so viel stand fest. »Contenance, mein Lieber«, rutschte ihm ein aufmunternder Spruch heraus. Er konnte nur hoffen, dass diese Mimose sich nicht auch noch auf der Leiche erbrach und wichtige Spuren verwischte. Akribisch legte er das Lineal an die lange, klaffende Halswunde der Toten, die so tief war, dass sie die Wirbelsäule freigab.

       »Weiter also: Der Körper ist kräftig und fünfeinhalb Fuß lang. Auf der Vorderseite des Halses, dicht unter dem Unterkiefer, befindet sich eine weitklaffende, fünf Zoll lange, eineinhalb Zoll tiefe, an der Grundfläche drei und ein drittel Zoll messende, scharfrandige Wunde. Die Halsadern und der Kehlkopf sind bis zu den Halswirbeln durchdrungen. Unterhalb der Wunde befinden sich noch alle drei Hautdecken durchdringende Schnittwunden. Haben Sie das, Nau?«

      »Hm«, murmelte der schlaksige Jüngling, der inzwischen am Schreibtisch Platz genommen hatte, möglichst weit von der Leiche entfernt.

       Stadler sehnte sich in solchen Momenten nach dem Treuerchen. Die junge, aufstrebende Medizinerin hatte ihm einige Monate assistiert, bevor sie – als Mann verkleidet – einen Studienplatz an der Universität bekommen hatte. Eine Schande, dass man Frauen mit einer solchen Begabung nicht ganz offiziell zum Studium zuließ. Sie war nicht nur wenig zimperlich und unglaublich schlau, sondern dazu noch unfassbar schön. Selbst seine Frau hatte ihn in diesen Wochen mehrfach gelobt, weil er so gut gelaunt von der Arbeit nach Hause kam. Mit einem Liedchen auf den Lippen. So ganz ohne den Leichengeruch, der ihm sonst an manchen Tagen anhaftete. Mit einem sauberen Hemd am Leib. Die Körperpflege war ihm zeitweise wichtiger als sonst gewesen. Ob das Treuerchen – eigentlich hieß sie Anna Treuer – irgendwann mal wieder zu ihm zurückkommen würde?

      »Weiter, Nau, allez«, Stadler bemühte nun die Lupe. »An beiden Oberschenkeln finden sich rötliche, zum Teil der Haut beraubte Quetschungen und Eindrücke von Fingernägeln«, jetzt verharrte er kurz und dachte nach. Der Täter musste sich zunächst auf die Frau gelegt haben, um sie wehrlos zu machen. Die tödlichen Stiche hatten eindeutig im Liegen stattgefunden, bevor es zu einem Kampf gekommen war. Daran gab es keinen Zweifel. Die Frau hatte in ihrem Todeskampf keinerlei Chance gehabt, sich gegen den Täter zu wehren.

      »Wichtig: Die Gebärmutter der Getöteten enthielt eine regelmäßig gebildete Frucht von sechzehn bis zwanzig Wochen.« Wer wohl der Kindsvater gewesen war? Der machte sich von vornherein verdächtig, denn die Tote trug weder einen Ehering noch die Tracht, die man von verheirateten Frauen kannte. Es war ja nicht an ihm, Schlüsse aus seinem Bericht zu ziehen. Aber die ermittelnden Kollegen würden das auch vermuten, da war er sich sicher.

      In dem Moment erbrach Nau sein offenbar reichhaltiges Frühstück in das eigentlich für Leichenteile- und Gedärme-Reinigungen vorbereitete Waschbecken. Das, so dachte Stadler verächtlich, ohne sich herumzudrehen, würde er schön selbst saubermachen müssen. »Augen auf bei der Berufswahl«, murrte er nur. Die ganze Sache hier würde sich unnötig durch diesen Trottel herauszögern.

       »Ein Letztes noch, dann sind Sie erlöst, Nau. Schreiben Sie, schreiben Sie: Die rechte, mit halbgeronnenem Blut ausgefüllte Hand zeigt auf der Innenseite des Mittel- und Ringfingers eine querlaufende Schnittwunde, die linke blutige Hand, in welcher das Tuch lag, auf der Innenseite des Zeigefingers zwei Hautabschürfungen, auf dem Mittelfinger nach innen eine Schnitt-, nach außen eine Schramm- oder Schnittwunde.« Stadler schaute nun rüber zu Nau, der sich wieder gefangen hatte. »Sag ich’s doch, Sie Idiot. Die hat sich bis zuletzt gewehrt. Und ihr Sterben muss sehr schmerzhaft und langwierig gewesen sein.«

      In dem Moment betrat Gerichtsdiener Philipp Lyding den Raum, um sich nach den Ergebnissen des pathologischen Befunds zu erkundigen. Entsetzt starrte er auf die Leiche, die er am Morgen schon am Fundort gesehen hatte. Jetzt aber hatte man ihr das blutige Gesicht gewaschen. »Das … das …«, stotterte er.

      »Was ist los, Lyding. Kommen Sie zum Punkt!« Stadler fehlte für solche Animositäten die Geduld.

      »Erkennen Sie die Tote?«, fragte Nau. Und seine Stimme klang plötzlich ganz klar, und sein Gesichtsausdruck drückte deutliche Neugier aus. So hatte Stadler ihn noch nicht gesehen.

       Lyding nickte nur und wandte die weit aufgerissenen Augen nicht von dem schlimm zugerichteten, aufgequollenen Gesicht der Leiche ab. »Das ist doch … das ist doch … die Dorothea Wiegand aus Ockershausen. Wird auch das Hinkel genannt, weil sie so dumm wie Brot ist. War. Und einen Hinkefuß hatte, mit Verlaub.«

      Und nun falteten die drei Männer fast gleichzeitig die Hände andächtig zum Gebet und schwiegen für eine Minute. Die Tote hatte nun eine Identität – und dieser Tatsache zollten sie tiefen Respekt.

       3. Kapitel

      Das kleine, schräge Wohnhaus der Lohreys lag oben am Hang. Mit dem Rollkoffer und dem schweren Rucksack kein Spaziergang, stellte Liva fest. Schon zu Schulzeiten hatten sich ihre Freundinnen über diesen Anstieg beschwert. Manchmal hatte Liva den Eindruck gehabt, dass keiner aus der Klasse sie besuchen komme, weil man die Steigung so scheute. Das war natürlich Quatsch. Selbst ihre Mutter bewältigte ja noch in ihrem hohen Alter diesen Weg. Die Hohe Leuchte. Heute kamen Liva die paar Meter von der Ockershäuser Allee zum Haus ewig lang vor. Sie merkte, wie ihre Kräfte schwanden und sich der Schlafmangel der letzten Nacht bemerkbar machte. Hatte sie heute überhaupt mal was gegessen? Außer einem kleinen Keks zum Espresso in der Klinik nämlich nichts. Aber wie sie ihre Mutter kannte, war der Kühlschrank gut gefüllt.

      Dass die schräge Alte von nebenan hinter den Gardinen saß und die Straße beobachtete, war dann auch keine Überraschung mehr. Manche Dinge änderten sich eben nie. Den Gefallen, sie von dem alten Hund zu erlösen, würde sie ihr trotzdem noch nicht tun. Sie musste erst mal ankommen, tatsächlich, aber auch mental. Das verlorene Schaf kehrte nun in die Herde zurück. Doch die Herde gab es nicht mehr. Das verlorene Schaf war die Herde. Da brauchte es genaugenommen gar keinen Hütehund mehr.

      Liva steckte den Schlüssel in das Schloss, es war unbeschädigt. Wie waren die Einbrecher dann hineingekommen? Durch den Garten? Sie betreten hier einen Tatort, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Den ganzen Tag hatte sie mit Bauchschmerzen daran gedacht, wie es sich wohl anfühlen würde, in dem verlassenen Haus ganz alleine zu sein. Sie hatte auf Wodka gebaut, der zwar schüchtern und klein war, aber eben ein Hund. Die Einbrecher hatte er ja aber auch nicht in die Flucht schlagen können. Warum überhaupt hatte er nicht angeschlagen, um sein Frauchen zu warnen? Hatte er die Täter vielleicht sogar gekannt und war ihnen schwanzwedelnd um die Beine gelaufen?

      »Okay, stay cool, Liva«, redete sie sich gut zu und betrat den dunklen Flur.

      In der Diele hing dieser bestimmte Geruch, den sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Eine Mischung aus Putzmittel und Essen, aus feuchtem Keller und dem Holz, aus dem das Fachwerkhaus vor einigen hundert Jahren maßgeblich errichtet worden war – zwischen den Balken der Lehm der Geschichte. Was diese Wände erzählen konnten, wenn sie reden könnten. Vielleicht würden sie dann auch Auskunft geben über Alex’ letzte Tage und Wochen. Warum er sich immer häufiger in das kleine Dachzimmer im Haus seiner Mutter zurückgezogen hatte? Geredet hatten die Geschwister in dieser Zeit kaum miteinander. Ob es da etwas gegeben hatte, das ihn belastet hatte?

      Nur, wenn wir uns unserer Wurzeln bewusst werden, können wir mit uns selbst Frieden schließen. Was hatte Gunnar da vorhin gefaselt? Wirre Fantasien eines Junkies? Oder wusste er mehr über den jungen Mann als die Menschen, die täglich um ihn gewesen waren? War sie nicht genug für ihn da gewesen? Tagsüber hatte sie für ihr Abitur gelernt, und abends war sie mit Jessi durch die Clubs gezogen.

      »Hey


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