Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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offenen Haaren. Sie entdeckte, wie sie ihre Fantasie trainieren konnte, dressieren wie ein gehorsames Pferd. Und so lernte sie, immer tollkühnere und schrillere, immer abenteuerlichere Geschichten zu erfinden. Wenn sie sich zum Beispiel nicht allzu sehr anstrengen wollte, dann war sie einfach eine Prinzessin, das kostete gar keine Mühe. Aber auch nicht irgendeine beliebige, sondern eine japanische. (Sie hatte einmal in der alten Dorfbibliothek, die voller sozialistischer Propagandabücher war, eine zerfledderte Zeitschrift entdeckt, eine alte Modezeitschrift, in der alles in lateinischer Schrift geschrieben stand, in einer fremden und schön anmutenden Sprache, und in der schöne, gut gekleidete Frauen abgebildet waren. Und dort gab es eine adrette junge Dame, die sich als eine japanische Prinzessin erwies, mit dem exotischen und Fernweh weckenden Namen Michiko – so viel hatte sie entziffern können.) Sie trug schicke Kostüme und winkte dem Volk von einem kaiserlichen Palast aus zu, der vollständig vergoldet war.

      Aber in letzter Zeit war sie meist María. Die wunderschöne María aus der mexikanischen Telenovela Simplemente María, die sie zusammen mit den anderen Dorffrauen allabendlich bei den Gasujews im Fernsehen sah – man hatte den Fernseher wegen des großen Andrangs mithilfe eines mit Klebestreifen zusammengefügten Verlängerungskabels in den Hof gestellt, damit alle Platz finden konnten. Dort ging es um das einfache Bauernmädchen, die titelgebende María, die es trotz aller Widrigkeiten und Hindernisse zu einer ruhmreichen Modedesignerin schaffte, die alle sozialen Hürden überwand, obwohl sie ihre Liebe zum reichen Juan Carlos del Villar Montenegro nicht leben durfte. Es war schön, María zu sein. Und es war auch einfach, sich Marías Wirklichkeit auszuleihen, da die russisch synchronisierte, farbenfrohe mexikanische Realität so prall und detailreich war. Sie hatte genaue Vorstellungen, wie die Räume aussahen, durch die María schritt, von den Kleidern, die sie anhatte, den Gegenständen, die sie berührte, und den Rest, ja, den Rest vervollständigte sie in ihrem Kopf. Zum Beispiel den Geschmack der Lippen von Juan Carlos del Villar Montenegro. Auch wenn ihre Liebe unglücklich war, auch wenn es ihnen nicht vergönnt war, zueinanderzufinden (noch konnte sie dies aber nicht mit Gewissheit sagen, noch durfte sie hoffen, immerhin hatte sie noch einhundertzweiundzwanzig Folgen vor sich), so war sie wunderschön, geheimnisvoll, aufregend, so wie sie sich vorstellte, dass sie sein sollte, und nicht die, die ihr die Realität aufzwang. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass die Schauspielerin, die María verkörperte, Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo hieß, und hatte sich den Namen eingeprägt wie eines der vielen patriotischen Gedichte, die man ihr in der Schule eingetrichtert hatte. Wie magisch und verlockend dieser Name klang! Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo, wie Zuckerwatte schmolz dieser Name auf der Zunge und hinterließ einen Geschmack, der Sehnsucht nach mehr weckte. Die Welt von Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo war eine, wie sie sich vorstellte, dass die Welt zu sein hatte, wenn man schon das Glück hatte zu leben, dann mussten das Leben und die Umgebung doch mitspielen, das war ja wohl nicht zu viel verlangt. Oder doch? War es denn so falsch, sich mehr zu wünschen? Mehr als das, was einer Frau zustünde, wie ihre Mutter meinte? Was diese alten Frauen meinten, die auf dem Marktplatz saßen und sie mit ihren gelben Eidechsenaugen auffraßen, tadelnd, schmähend; sie fanden es schon unverschämt genug, dass sie so jung war, jung und voller geheimer Versprechen, die ihr Körper machte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Musste sie sich dafür entschuldigen, so geschmeidig und anmutig zu sein wie ein freilebendes Tier?! Musste sie sich dafür entschuldigen, sich fortzuträumen? Dass ihr das Dorf nicht genug war? Und die Dorfbewohner noch viel weniger! Hinter diesen Bergen, hinter der gewaltigen Schlucht, hinter dem zornigen Fluss lag eine Welt, die so viel beinhaltete, so vielfältig war, so bunt. Dort wollte sie hin. Sie musste dorthin. Sie musste es schaffen. Die Vorstellung, sie könnte eines Tages ihre Zauberkraft einbüßen und sich nicht mehr in eine andere Realität versetzen, weil die gegenwärtige, die reale sich durch alle Fantasieschichten hindurchfressen würde wie eine ätzende Säure, versetzte sie in Schockstarre. Das Furchtbarste, was passieren könnte, wäre der Verlust ihrer magischen Fähigkeit. Diese Fähigkeit hielt sie am Leben, sie schenkte ihr Zuversicht, ließ sie alles erdulden, was das Gegenteil von Glück und trotzdem kein Unglück war, für das sie bisher aber keinen Namen gefunden hatte.

      »Ist das nicht endlos traurig, Nura, dass die meisten Menschen sich nichts sehnlicher wünschen als das Mittelmaß? Das Mittelmaß an Leben, das Mittelmaß an allem, und dass ich mich vor nichts so sehr fürchte wie genau davor?«

      Plötzlich sah sie Natalia Iwanowna vor sich stehen, am Fenster, mit dem Rücken zu ihr, in der linken Hand eine Zigarette. Sie war Linkshänderin und hatte immer gesagt, es liege daran, dass die linke Hand nun mal näher am Herzen sei und sie nichts machen könne, was nicht in direkter Verbindung mit ihrem Herzen stehe. Es war Winter – fast immer, wenn sie an Natalia Iwanowna dachte, war es Winter, als wäre ihre gemeinsame Zeit ein endloser, schneebedeckter weißer Winter gewesen, als hätte es in der Zeit mit ihr keinen Sommer gegeben –, und im Blechofen brannte Holz, das Knistern hatte etwas Einschläferndes, das Geräusch lud zum Träumen ein. Draußen war es kalt, und durch das Fenster wirkte die Welt so unbarmherzig, so unfreundlich, während es in diesem kleinen Zimmer so warm und gemütlich war. Nura konnte ihr Gesicht nicht sehen, als sie diesen Satz sagte, aber sie bekam auf einmal Gänsehaut. Ob ihr der Satz so vertraut vorkam, sie eher abstieß oder ihr Angst machte, das konnte sie nicht festmachen – aber er zog sie in seinen Bann, und sie erstarrte.

      »Immerzu haben wir dagegen angekämpft, mein Mann und ich, wir beide haben nichts anderes getan. Und jetzt nach so vielen Jahren frage ich mich, ob das ein Fehler war, ob wir nicht kläglich gescheitert sind. Ja, wenn du mich fragst, dann ist das Mittelmaß der Fluch des Menschen, nicht die Schlange brachte die Sünde in den Garten Eden, es war das Mittelmaß …«

      Natalia Iwanowna zog an ihrer Zigarette (in der Welt, in der Nura lebte, eine für eine Frau unerhörte, verbotene Tat), und sie überlegte sich, ob sie sich von hinten an sie heranschleichen und sich an sie drücken, sie trösten, ihr sagen sollte, dass sie der außergewöhnlichste Mensch war, den sie je getroffen hatte.

      »Aber manchen Menschen, nur sehr wenigen, gelingt es … Sie können diesen Fluch durchbrechen …« Wieder verstummte sie abrupt, wartete auf etwas, irgendein Urteil musste sie noch fällen, und das tat sie auch, nachdem sie die Zigarette auf einer zu einem Aschenbecher umfunktionierten Untertasse ausgedrückt hatte: »Vielleicht, ja, vielleicht … könntest du es schaffen, Nura …«

      Ein größeres »Ja« hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie bekommen. Aber für dieses »Ja« galt es zu kämpfen, wie eine Löwin musste sie kämpfen, auch das hatte sie von Natalia Iwanowna gelernt. Andernfalls würde auch sie eines Tages wie diese alten Frauen auf dem Marktplatz enden, mit einem Wolltuch um den Kopf, mit auf dem Schoß zusammengefalteten Händen, mit gelben, klebrigen Augen und mit galligen Worten, die den Mund giftig machten – wenn sie nicht fortginge, wenn sie nicht diesen Bergen und diesem Fluss entkäme, dieser Natur, die so trügerisch schön war. Oder es würde noch schlimmer kommen, und sie würde werden wie Mutter, triefend vor Selbstmitleid, mit jeder Faser des Körpers um den Schutz des Auls bangend, um die penible Berechtigung jeder Handlung, jeder Entscheidung bemüht – seit Vater fort war und sie wie ein hilfloses Wesen durch die Galaxie schwebte, ängstlich und unsicher, verschüchtert bis ins Mark, und sich in sinnloser Tüchtigkeit verlor.

      Nein, sie würde ihren Lebenssinn niemals an einen Mann koppeln, nicht einmal an einen wie Juan Carlos del Villar Montenegro. Sie würde die Sonne ihres eigenen Planetensystems sein. Sie würde nichts verbergen, sie würde die allerschönsten, allerbuntesten Kleider tragen und sowohl ihre Knöchel zeigen als auch die Linie, die sich erst seit zwei Jahren zwischen den so runden und festen Brüsten abzeichnete. Und wie schön würde sie die Wohnung einrichten, die sie einmal beziehen würde! Mit geblümten Tischdecken und Porzellanvasen, mit handgeknüpften Teppichen und mit weichen Sofas. Ähnlich wie die Haziendas aus der Telenovela. Vielleicht aber – und dieser Traum war der aufregendste, tollkühnste, verrückteste und daher vielleicht der innigste aller ihrer Träume – würde sie eine Schauspielerin werden, eine, zu der man aufsah, in die sich alle reihenweise verliebten, die lauter Preise abräumte und in edelsten Roben herumstolzierte und die mit feuchten Augen von der Bühne Handküsse verteilte. Eine wie Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo!

      Aber diesen Traum wagte sie nicht so richtig in jeder Konsequenz


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