Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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der ganzen Schlucht besaß und seit der Privatisierung viel Geld angehäuft hatte. Musa war in die Höhe geschossen, nahezu einen Kopf größer stand er vor ihr, kräftig und voller Tatendrang, mit einer zittrigen Unruhe in den Gliedern, als wäre es ihm unmöglich, still zu stehen, als wäre die ständige Bewegung sein natürlicher Zustand, er wippte mit dem Oberkörper hin und her und trat von einem Fuß auf den anderen und machte sie ganz unruhig und wirr.

      – Wegen dir mache ich mir ganz bestimmt nicht in die Hose. Was treibst du dich hier rum? Hast du nichts Besseres zu tun, als Mädchen aufzulauern?

      – Ich lauere niemandem auf. Du stehst vor meinem Haus, ich kann hier machen, was ich will, das ist mein Bereich.

      Er zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche und nahm sich gleich zwei Zigaretten heraus. Auch das traute er sich nur, weil keine Erwachsenen in der Nähe waren und ihn der Nebel von ungebetenen Blicken abschirmte. Die eine steckte er sich hinters Ohr und die andere zwischen die Lippen. Das Aufleuchten der Feuerzeugflamme erzeugte eine kurze Illusion von Geborgenheit und Wärme, die ihr gut gefiel.

      – Ich muss nach Hause, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Musa. Sie hatte noch eine weite Strecke vor sich, und der Himmel war bereits vom Nebel verschluckt worden.

      – So ängstlich bist du, soll ich dich begleiten, was? Nicht dass dich einer klaut, erwiderte er und lachte laut und dreckig, wie es seit eh und je seine Art war. Ein Lachen, als hätte er etwas Verbotenes im Kopf.

      – Nein, nicht nötig, danke.

      – Komm schon, es sind keine guten Zeiten für ein Mädchen, um so spät am Abend umherzulaufen.

      – Wieso das denn?

      Einerseits fand sie den Gedanken angenehm, sich den Weg nicht alleine durch die Dunkelheit bahnen zu müssen, andererseits war ihr Musas Nähe nicht ganz geheuer. Erst beim Glühen der Zigarette erkannte sie, dass er sich einen Bart wachsen ließ, der noch nicht so dicht gelingen wollte wie erwünscht. Sie musste schmunzeln.

      – Na ja, es treibt sich in letzter Zeit alles Mögliche an Gesindel in unserer Gegend herum. Ungläubige und Gotteslästerer.

      Diese Worte klangen aus seinem Mund etwas befremdlich; ihr fiel ein, dass Mutter und ihre Cousins erzählt hatten, dass Musa sich im Gemeindezentrum sehr stark für den Bau der neuen Moschee einsetzte und sein Vater den Großteil des Baus finanzieren wollte. Sie konnte den leichtsinnigen, albernen, zappeligen Musa nicht mit einem gottesfürchtigen und streng gläubigen Moslem in Verbindung bringen. Sie setzte sich in Bewegung und ärgerte sich darüber, dass sie nicht auf Mutter gehört hatte und keine Taschenlampe dabeihatte. Sterne waren nicht da, um ihr den Weg auszuleuchten, überhaupt schien alles verschwunden, verschluckt von dem dichten Nebel und der so urplötzlich hereingebrochenen Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Eine ungewohnte Spannung lag in der Luft, die sie sich nicht anders erklären konnte als durch das Wetter. Musa folgte ihr stumm.

      – Wirklich, vielen Dank, aber ich laufe lieber alleine …

      – Ich muss dich nach Hause bringen, ich bin es deiner Mutter schuldig.

      – Warum das jetzt?

      – Ihr ist schon genug Unglück geschehen!

      Der Satz hatte einen bitteren und frostigen Beigeschmack. Sie wollte etwas erwidern, aber sie hatte keine Kraft. Sie wollte nichts mehr rechtfertigen, erklären, niemanden in Schutz nehmen. Es war ihr egal, was in der Vergangenheit gewesen war, es war ihr egal, was Vater für Probleme hatte, es war ihr egal, wohin er gegangen war, es war ihr egal, wie beschämend all das für Mutter war, sie wollte nicht mehr zurückschauen müssen, sie wollte nach vorne blicken, sie wollte ihren Blick über die Ränder dieser Welt richten. Schweigend liefen sie am Gemeindezentrum und an dem ehemaligen Gastronom vorbei, es herrschte gespenstische Stille, die Laute, die Geräusche, sogar das Atmen schien dieser verdammte Nebel zu fressen, als wäre er nicht satt, bis er die ganze Welt aufgegessen hätte.

      – Du solltest dir langsam ein Tuch zulegen, sagte er, immer noch ein paar Schritte hinter ihr, und sie fühlte sich auf eine merkwürdige Art ertappt, als hätte er etwas gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Sie zupfte aus Verlegenheit an ihrem Mantel.

      – Was ist mit dir los?

      Sie konnte sich nicht weiter beherrschen, der Vorwurf, der lauter geriet als gewollt, huschte ihr einfach so über die Lippen.

      – Was soll denn das heißen, was mit mir los ist … ich … ich …

      Plötzlich fing er an zu stammeln, als hätte er sich an seinem eigenen Gedanken verschluckt. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. Sie erriet mehr, als sie sah, und dennoch konnte sie seine Angst spüren, oder war es etwas anderes, das man fast riechen konnte, war es Scham? Und er beugte seinen Kopf, brachte sein Gesicht plötzlich so nah an ihres, dass sie vor Schreck erstarrte, kein Junge, kein Mann war ihr bislang so nahe gekommen, auch dies verboten die Ahnen, und sie wusste nicht, was er vorhatte, und war hin- und hergerissen zwischen Neugier und Abscheu. Würde er sich trauen? Würde er seinen feuchten Mund, seine vollen Lippen auf die ihren legen, und würde er genauso schmecken wie Juan Carlos del Villar Montenegro? Wollte sie es überhaupt? Wollte sie ihren ersten Kuss von Musa Osmajew erhalten? Hatte sie nicht stets von etwas Aufregendem geträumt? Aber irgendwie fing ja jeder an, auch María hatte irgendwie angefangen. Sie verharrte so, in Erwartung, ihr drehte sich der Magen um, es fühlte sich so an, als führe sie Karussell. Aber im gleichen Augenblick hörte sie die schweren Flügel eines großen Vogels die Luft durchschneiden und schreckte zurück. Musa hatte den Kopf nach oben gerichtet, und sie wusste bereits, dass er seinen sehnlichsten Wunsch in die Knie gezwungen und gezähmt hatte, jetzt würden sie wieder wortlos den Weg fortsetzen.

      Vielleicht war es ein Gänsegeier. Vielleicht auch ein fremder schwarzer Vogel, der Unglück witterte, wie in den Geschichten, die manchmal die Alten erzählten. Da gab es immer einen schwarzen Vogel, der herbeigeflogen kam, wenn etwas Unheilvolles im Gange war, eine Art Warnsignal, das dann aber niemand hörte und niemand sah, außer der zur Tatenlosigkeit verdammte Erzähler.

      – Musa …, sie sprach seinen Namen aus, und plötzlich hatte er einen ganz anderen, einen bedrohlichen Klang. Die vier Buchstaben sprangen ihr nicht mehr so locker von der Zunge.

      – Also …, setzte er an und entfernte sich schlagartig von ihr, als gelte es von nun an, immer eine vorgegebene Distanz zwischen ihren Körpern einzuhalten. Also, wenn die Moschee fertig ist, dann fang ich mit dem Hausbau an.

      – Welchem Hausbau?

      Sie setzte sich wieder in Bewegung, es war leichter so, er lief hinter ihr.

      – Meinem.

      – Ach so?

      – Ja, unten am Fluss, direkt am Hang, dort ist die fruchtbarste Erde. Dort, wo früher der alte Pankow lebte.

      – Wo ist der denn hin?

      – Ist doch egal.

      – Nein, ich würde es gerne wissen; wo du seinen Namen erwähnst, fällt er mir wieder ein, ich habe so lange nicht mehr an ihn gedacht. Wie oft wir damals in seinen Garten geklettert sind und die Birnen geklaut haben, erinnerst du dich?

      – Ja, natürlich.

      – Völlig idiotisch, ich meine, auch bei uns im Garten gab es Birnen, aber seine schmeckten besonders gut, zumindest bildeten wir es uns ein, stimmt’s?

      – Ja. Irgendwie schon.

      Plötzlich war die Leichtigkeit jener Tage wieder da, sie konnte sie in ihrem Körper spüren, wie gerne sie auch Musa davon etwas abgegeben hätte, wie gerne sie ihm die Zunge rausgestreckt, ihn geschubst, mit ihm um die Wette gerannt wäre. Aber sie hatte in den letzten Jahren gelernt, der Welt mit Misstrauen zu begegnen. Sie konnte nicht mehr unüberlegt handeln, das war wohl der Preis des Erwachsenwerdens.

      – Und wie gut er mit den Tieren war. Er konnte alle Tierkrankheiten heilen.

      – Na ja.

      – Nein, wirklich, er war der beste Tierarzt der Region. Und erinnerst du dich, wie gerne


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