Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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Wieso sagst du das?

      – Was?

      – Ich meine, er war so nett zu uns, wieso machst du ihn schlecht?

      – Ist doch egal. Ich wollte was anderes …

      – Nein, ist nicht egal! Du sollst ihn nicht schlechtmachen.

      – Tue ich doch gar nicht. Ist ja gut.

      – Nein, machst du sehr wohl. Und genau aus dem Grund ist auch Natalia Iwanowna weggegangen. Weil sie alle nur noch angestarrt haben, als hätte sie die Pest.

      – Du meinst die verrückte Russin aus der Scheune?

      – Sie war keine verrückte Russin, sie war meine Freundin!

      – Sie war komisch.

      – Du kanntest sie überhaupt nicht.

      – Ist ja gut, jetzt beruhige dich.

      – Nein, ich will mich nicht beruhigen, ich bin es leid … Woher weißt du das immer? Woher willst du immer wissen, was richtig und falsch ist, was gut und was schlecht ist? Zweifelst du nie, dass du vielleicht im Unrecht sein könntest?

      – Wieso sollte ich?

      – Weil du auch nur ein Mensch bist.

      – Ist dir eigentlich klar, was die Russen mit uns gemacht haben? Ist dir klar, dass deine Großmutter und mein Großvater 1944 mit einer halben Million Nachtschi nach Kasachstan deportiert wurden und erst nach Stalins Tod zurückkehren durften? Ich meine alle, er wollte sie alle weghaben, das musst du dir mal vorstellen! Seit Jahrhunderten wollen sie uns am liebsten ausrotten, sie haben uns unserem Gott abschwören lassen, sie …

      – Musa, aber das haben doch nicht Pankow oder Natalia Iwanowna gemacht?

      – Das spielt keine Rolle. Sie sind zu uns gekommen, haben sich genommen, was uns gehörte, haben sich hier breitgemacht, haben uns eingeredet, wir wären Menschen zweiter Klasse, aber jetzt sind wir dran. Wir lassen uns nicht mehr unterjochen. Wir sind ein Kriegervolk, darauf müssen wir uns wieder besinnen, müssen uns erinnern, wer wir sind und woher wir kommen und dann …

      – Und dann?

      – Dann sind wir an der Reihe.

      Wie zwei Blinde bahnten sie sich den Weg durch die Dunkelheit, sie erreichten die Metzgerei und bogen nach links ab, Richtung Bushaltestelle, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden war, passierten dann die Wehrturmruinen, von da aus würden sie auf die Hauptstraße gelangen, dort gab es ein paar Laternen, die aller Wahrscheinlichkeit nach funktionierten, und ab da, hoffte sie, würde sie alleine weitergehen können. Er hatte wieder abrupt aufgehört zu reden, als hätte er den Faden verloren, aber ihr war es nur recht, sie verstand ihn nicht, sie wollte ihn nicht verstehen, sie wollte nicht schon wieder alles der Vergangenheit unterordnen, sie wollte nichts von Taips und Adat hören.

      – Ich werde dort mein Haus bauen. Und dann …

      Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, wovon er sprach, bis sie sich daran erinnerte, dass er etwas von fruchtbarem Boden erzählt hatte. Sie drückte den Stoffsack mit dem Mehl gegen die Brust und beschleunigte den Schritt.

      – Wieso willst du denn ausziehen? Ich meine, euer Haus ist doch groß genug, fragte sie eher aus Höflichkeit, nicht weil es sie wirklich interessierte.

      – Weil ich heiraten werde und meine Brüder im Haus bleiben sollen.

      – Heiraten? Du?

      Irgendwie wirkte dieser Gedanke absurd, sie sah den stets unruhigen, zappeligen kleinen Jungen, der zufällig in den Körper eines Mannes geraten war, der immer Blödsinn im Kopf hatte, alle Jungs aus dem Dorf zu verschiedenen Streichen anstiftete und alle Mädchen ärgerte, und ausgerechnet der wollte nun eine Familie gründen? Das erschien ihr vollkommen unpassend, und sie lachte auf. Er blieb stehen. Sie hatte ihn gekränkt.

      – Ist ja gut, sei doch nicht gleich beleidigt. So habe ich das nicht gemeint. Und wer soll die Glückliche sein?

      – Du.

      Zuerst entfuhr ihr ein weiteres Lachen, aber bevor sie zu Ende lachen konnte, verstummte sie und machte ein Gesicht wie ein Fisch an Land, mit offenem Mund, nach Luft schnappend. Zum Glück war es dunkel, zum Glück war er einen Schritt vorausgegangen.

      – Mein Vater wird nächste Woche mit deiner Mutter reden.

      Er sprach leise, aber klar, bedacht, als hätte er all die Worte bereits oft genug geübt.

      – Das ist vollkommen unnötig, unterbrach sie ihn und eilte voran, überholte ihn und beschleunigte immer mehr den Schritt, bis sie fast rannte.

      – Hey, warte … Was heißt denn unnötig?

      – Ich werde dich nicht heiraten. Ich werde überhaupt nicht heiraten. Ich ziehe weg.

      – Wie? Wohin?

      – Erst mal vielleicht nach Grosny. Ich muss nur ein paar Wochen warten, bis ich achtzehn werde, und dann …

      – Aber, aber …, stammelte er. – Das geht nicht.

      – Wieso geht das nicht?

      – Das gehört sich nicht. Außerdem wird deine Familie …

      – Das spielt keine Rolle.

      Sie lief weiter, und plötzlich schien die Dunkelheit gar nicht mehr so gefährlich, im Gegenteil, sie bot ihr Schutz und nahm sie in ihre Obhut. Sie rannte und rannte in Richtung Hauptstraße und hörte Musa schnaufend hinter sich herrennen.

      – Nura, warte, Nura!

      Früher war er schneller gewesen, dass er sich jetzt schwer damit tat, sie einzuholen, zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen, das er nicht sehen konnte. Entweder er war langsamer geworden, oder sie hatte gelernt, mit dem Wind Schritt zu halten.

      – Aber ich liebe dich!, hörte sie ihn auf einmal nahezu schreien, und die Worte hallten noch lange nach.

      Sie blieb stehen. Etwas in ihr zog sich zusammen. Etwas riss ab. Er tat ihr leid, und zugleich freute sie sich über das Geschenk, das er ihr machte, auch wenn sie es nicht annehmen konnte und wollte. Sie war froh, dass er etwas sagte, das von ihm kam und nicht angelernt war, das nicht vorbestimmt und durch die Ahnen diktiert wurde. Sie empfand so etwas wie Dankbarkeit und hätte ihm um ein Haar einen Kuss auf die Wange gedrückt, aber nein, das könnte falsch gedeutet werden. Das Schwierigste im Leben, so verriet es ihr einmal Natalia Iwanowna, sei die große Mühe, die man aufwenden müsse, um im Alltag nicht man selbst zu sein.

      – Danke.

      Sie wusste nicht, wieso sie sich bedankte, auch begriff sie, dass das Wort zu dieser Situation überhaupt nicht passte und Musa sich darüber ärgern würde, aber ihr war nichts Besseres eingefallen.

      – Hast du mir zugehört?

      Jetzt mischte sich Wut in seine Stimme.

      – Ja, habe ich, und das ist schön, aber ich werde dich trotzdem nicht heiraten. Ich muss jetzt wirklich heim, meine Mutter wird sich Sorgen machen, und ich will nicht, dass sie einen meiner idiotischen Cousins losschickt, um mich zu suchen.

      – Du solltest nicht so reden …

      – Wie so?

      – So arrogant.

      – Das ist nicht arrogant. Das ist ehrlich.

      Auf der Hauptstraße war es tatsächlich heller, obwohl das Laternenlicht nur wenige Meter weit reichte, aber immerhin sah sie plötzlich wieder, wo sie war, erkannte die Umgebung, den Boden unter ihren Füßen. Die Umrisse der Wehrturmruinen waren ebenfalls zu erahnen. Sobald sie sich ihnen näherte, hörte sie ihre Klassenlehrerin mit der piepsigen Stimme sprechen: »Die Kaukasischen Wehrtürme dienten in den Bergregionen des Nordkaukasus als Wachtürme und zur Verteidigung von Familienverbänden sowie als Zuflucht im Angriffsfall, Mynaev, die Hand aus der Nase, sofort …«

      Der Nebel begann sich zu lichten.


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