Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


Скачать книгу
bis er eines Tages nicht mehr aufwachte und in fiebriger Agonie in den Armen seiner schönen Mutter starb.

      Wie versteinert saß Hava da und regte sich nicht mehr, während Rabyats Mutter und andere Frauen Totengesänge anstimmten und das Schicksal verfluchten. Die Hitze ließ das Beweinen nicht viel länger zu, man musste den Jungen bestatten. Nur wiederholten die Wachen stumpfsinnig, der Befehl von oben sehe keinen zusätzlichen Halt vor. Rabyats Mutter schrie, die anderen Frauen schrien auch, sie warfen den Wachen vor, Unmenschen zu sein, dafür in die Hölle zu kommen, nur die schöne Hava – ein wahrer Filmstar, so sah Hava in Nuras Vorstellung aus, da Rabyat ihre Schönheit rühmte, mit sumpfgrünen Augen und einer milchweißen Haut, mit dichtem kupferrotem Haar und einer gebrechlichen Trauer im Gesicht – regte sich nicht, ließ das Kind nicht mehr aus den Armen und starrte durch sie alle hindurch, als sähe sie in der Ferne etwas, was den anderen verborgen blieb und das eine Lösung für all ihre Probleme bereithielt. Und so war es auch …

      Sie müsse das Kind aus dem Zug werfen, lautete schließlich der Befehl. Es gebe leider keine andere Möglichkeit. Bei den Todesfällen in den anderen Waggons sei man ebenfalls so verfahren, eine Ausnahme könne man daher nicht machen. Ja, wo würde man denn bitte hinkommen, würde man für jeden, der darum bitte, eine Ausnahme machen, nein, nein! Man gab Hava noch eine Stunde, dann würde man die Tür öffnen und den kleinen reglosen Körper der gnadenlos durstigen Erde der Steppe überlassen.

      Rabyats Mutter weinte und drückte den Säugling ihrer Schwester an die Brust, und Rabyats Geschwister weinten, all die anderen Frauen weinten, nur Hava saß stumm mit dem toten Jungen auf dem Arm da und starrte vor sich hin, in die Erlösung. Und als der Augenblick kam und die schwere Metalltür aufgerissen wurde, die sandige, hitzige Luft hineinwirbelte und jeder voller Schrecken sein Gesicht abwandte, trat die schöne Frau an die Türschwelle, ruhig, gelassen, drehte sich noch einmal um, lächelte den anderen zu, sah ihrer Schwester in die Augen, als nehme sie ihr ein Versprechen ab – und Rabyat sagte, dass ihre Mutter es gewusst habe, in dem Augenblick habe sie es spüren müssen und verstanden, dass es keinen Sinn haben würde, Hava davon abzuhalten, und sie habe ihr zugenickt, das Versprechen würde sie halten, komme, was wolle, ja, dem Säugling würde nichts passieren –, und so drehte Hava sich wieder um, und als der Wachmann ihr zurief, sie solle sich beeilen, sprang die junge Frau mit ihrem toten Sohn in den Armen ins blendende Licht.

      Sie warf Asma noch ein Lächeln zu, das die Kleine nicht sah, aber hoffentlich spürte, und ging davon. Im Geflügelhof herrschte Ruhe. Die Hühner schliefen. Wie sehr Mutter es doch hasste, diese »abscheulichen Tiere« hüten zu müssen. Nura hatte niemals verstanden, warum sie diese harmlosen Vögel so schrecklich fand. Dabei waren sie nützlich, und alle drei Töchter hatten die Küken so sehr geliebt und sie als Kinder oft mit ins Haus genommen, heimlich ihre Lippen gegen ihr weiches Gefieder gedrückt. Außerdem hatte sich die Geflügelzucht als sehr profitabel erwiesen, da in der Schlucht überwiegend Schafe und Ziegen gehalten wurden. Aber wahrscheinlich hätte sie alles gehasst, egal welches Tier oder welche Beschäftigung, solange es sich um Vaters Hinterlassenschaft handelte. Die Hühner mussten sie an ihn erinnern und somit an ihre Schande. Jeden Morgen in der Früh, wenn sie das Gehege betrat, um es zu reinigen, verfluchte sie ihn. Jedes Mal, wenn sie mit ihr und Asma die Eier einsammelte, versank sie in ein tiefes und bedrücktes Schweigen, und ihre Töchter wussten sofort, dass sie wieder an ihren Mann dachte. Daran, dass er hier stehen müsste, dass er diese Tiere versorgen und sie schlachten sollte, er sich um die Sauberhaltung des Geheges und um die Fütterung kümmern müsste, dass er hier zu sein hätte, hier bei ihnen, bei seiner Frau und seinen Töchtern. Und dass er nicht krank im Kopf hätte sein dürfen, dass er andere Wünsche und Träume hätte hegen sollen und ihre Ehe einen anderen Verlauf hätte nehmen und ihre Zukunft eine andere hätte werden sollen als die, die er ihr hinterlassen hatte.

      Sie umrundete das Gehege und folgte blind dem so vertrauten Pfad, der um den ganzen Hof führte. Rabyats Mutter hat ihr Versprechen gehalten, den Säugling mit Ziegenmilch gefüttert, bis ein gesunder Junge aus ihm geworden war. Und Ende der fünfziger Jahre kehrten sie dann endlich zurück in ihre Schlucht, in ihre Berge, nach Hause, in das Aul, in dem man, wie überall im Land, inzwischen Fremde aus dem Westen angesiedelt hatte, Slawen mit hellen Haaren und kaum Bartwuchs, wie Pankow einer war, der geschickte Tierarzt, der bunte Bonbons an die Kinder verteilte. Aus dem Kind wurde ein Mann, und Rabyat und ihre Geschwister waren zeit ihrer Kindheit eifersüchtig auf ihren Cousin, denn die Hingabe, mit der ihre Mutter sich um ihn kümmerte, überhaupt ihre ganze Liebe, schien nur ihm zu gehören, als verdiente er eine besondere Zuwendung, eine, die man stets betonen und unterstreichen musste. Der Mann, auf dessen Schultern das Gewicht seiner Familiengeschichte tonnenschwer lastete, sollte Großes vollbringen. Und er wurde diesen Erwartungen gerecht. Als Einziger aus Rabyats Familie zog er aus der Schlucht fort. Er studierte in Moskau, arbeitete im diplomatischen Dienst und kehrte später in seine Heimat zurück, um bei Grosneftegas einzusteigen und binnen kurzer Zeit zu einem sehr reichen Mann zu werden.

      Ein einziges Mal sah sie diesen zu einem grimmigen und groß gewachsenen Mann gereiften Säugling auf der Hochzeit von Rabyats ältestem Sohn, und sie war enttäuscht gewesen und hatte sogar gegen Tränen der Entrüstung kämpfen müssen, hatte sie ihn sich doch so klar und deutlich vorgestellt, ausgemalt in den buntesten Farben und in den nuanciertesten Schattierungen. Aber nun, wo er einige Meter von ihr entfernt am Tisch saß und Reden hielt, zerschellte ihre Fantasie an der Wirklichkeit wie ein kleines Boot an mauerhohen Klippen. Da saß ein bärtiger Mann, der bei seinen Trinksprüchen für ihren Geschmack zu oft Gottes Segen einforderte, als wäre sein Überleben nicht Segen, als wäre seine Geschichte nicht Wunder genug. Alle himmelten ihn an, aber nicht, weil er als Einziger aus seiner Familie der Hölle entkommen war, und das dank der wild entschlossenen Liebe seiner Tante, sondern weil er es zu etwas gebracht hatte. Aber was war dieses Etwas? War es das, was seine schöne Mutter für ihn vorgesehen hatte, als sie aus dem Zug gesprungen war, mit dem toten Körper seines Bruders in den Armen? War es folgerichtig, was er tat und was er wurde? Wie hätte er denn sein müssen, wenn seine Biografie, wenn sein Leben eine gerade Linie gewesen wäre? Wie naiv es von ihr war, anzunehmen, dass er eine Art Hadschi Murad hätte werden müssen. War das Leben an sich nicht Grund genug, um am Leben bleiben zu wollen, oder rechtfertigte seine Existenz den Tod seiner Familie nur dann, wenn er es zu etwas brachte?

      Den ganzen Abend, während sie und ihre Mutter Rabyat und ihren Töchtern und den Schwägerinnen beim Kochen und bei der Bewirtung aushalfen, hatte sie darüber nachgedacht. Warum schmerzte sie der Anblick dieses Mannes so? Was irritierte sie? Irgendwann hatte sie sich, wie sie es so oft tat, davongeschlichen, wie ein Dieb hatte sie sich davongemacht, zum großen Zorn ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Malika, und sich in Rabyats Gewächshaus versteckt. Es hatte geregnet, und das Gewächshaus war in einen warmen Dunst eingehüllt. Sie fühlte sich auf Anhieb geborgen. Sie hatte dort gesessen und hinaus in den Regen gestarrt, in das Leben, das so viele Fragen aufwarf und das sie so überforderte und gleichzeitig so anzog. Und da hatte sie auf einmal seine Schritte gehört und dann ihren Namen. Sie war verwirrt, es war Mutters Aufgabe, nach ihr zu suchen, er hatte es niemals getan, zumal er doch mit den anderen Männern am Tisch gesessen und nach dem »offiziellen Teil«, nachdem die »wichtigen« Gäste gegangen waren, mit den Nachbarsmännern selbst gebrannten Schnaps aus der Teekanne getrunken hatte.

      – Bist du hier, Nura?

      Seine Stimme war stets ruhig, bedacht, niemals wurde er laut, niemals übte er mit seiner Stimme Druck aus. Er ging so geizig mit seinen Worten um, dass dadurch jedes seiner Worte ein besonderes Gewicht bekam. Ohne zu zögern, rief sie »Ja!« und rannte ihrem Vater entgegen.

      – Was machst du hier?

      – Ich wollte meine Ruhe haben.

      – Ja, verstehe. Aber irgendwas hat dich traurig gemacht, ich habe dich beobachtet, sagte er nach einer Weile. Er hatte sich zu ihr gestellt und sah in den Regen hinaus.

      – Dieser Mann, Rabyats Cousin …

      – Was ist mit ihm?

      – Ich hatte ihn mir anders vorgestellt.

      – Ja, er ist eben ein wichtiger Mann.

      – Aber seine Geschichte, du weißt doch,


Скачать книгу