Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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und Beschmutzer der Ehre Sergei Alexandrowitschs verließ er die Akademie und kehrte zu seiner ihn nun mit blankem Horror im Gesicht anstarrenden Mutter zurück.

      Und jetzt, da er den Seesack seines Vaters packen musste, wurde ihm vor Grauen übel bei dem Gedanken, was ihm bevorstand, denn dieses Mal war das Grauen real, er wusste, wie es aussah, wie es sich anfühlte, wie allumfassend es sein konnte und dass er dagegen nicht gewappnet war.

      Den Armeesack, den man ihm im Kommissariat bei der Anmeldung ausgehändigt hatte, hatte sie ihm kommentarlos abgenommen. Bei der Anmeldung hatte sie hinter ihm gestanden und über seine Schulter geschaut; dieses Mal gab es keinen Stolz in ihrem Gesicht, es gab nur noch stoische Leere, denn was er da tat, war nur eine Wiedergutmachung, eine logische Fortsetzung dessen, was er vor ein paar Jahren so würdelos abgebrochen hatte, seine einzige Chance auf Wiederherstellung der Familienehre, die er so unverzeihlich beschmutzt hatte.

      Jetzt bekam er eine letzte Chance für die Aussöhnung mit der Vergangenheit, und es schien einerlei, wie hoch der Preis dafür sein würde: als Sohn seines Vaters hatte er ihn nun mal zu zahlen. Diese freiwillige Meldung zum militärischen Dienst in den – nun mittlerweile – russischen Streitkräften war seine letzte Möglichkeit, und das hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht, indem sie ihm eines Tages eine Bescheinigung auf den Tisch legte, eine erbettelte Bestätigung der Militärakademie, dass er seine Grundausbildung zum Soldaten erfolgreich abgeleistet hatte.

      – Und was soll ich jetzt damit?, hatte er sie gefragt, hatte größte Lust, den Zettel vor ihren Augen in kleine Fetzen zu zerreißen, oder noch besser, ihn sich in den Mund zu stopfen, ihn zu zerkauen und die Reste schlussendlich als Papierklumpen vor ihre Füße zu kotzen.

      Damals gab sie ihm keine Antwort. Als er einige Tage danach von der russischen »Intervention in Tschetschenien« las, gefror ihm das Blut in den Adern. Fünf Wochen nach Kriegsbeginn stand er mit ihr im Militärkommissariat und meldete sich als einfacher Soldat zur Aufnahme in die Armee – natürlich mit der Aussicht auf Heldentaten und darauffolgende Orden und militärische Ränge – und somit für die Front im Nordkaukasus.

      Was seine Mutter nicht ahnte – seine Mutter, die in diesem Krieg eine Chance für ihren Sohn sah, genauso wie sie nicht begriff, dass ihr Sohn mehr als alles andere ein Mädchen liebte, das er trotz seiner Anstrengungen nicht vor sich selbst zu retten vermochte –, war die Tatsache, dass er ihr nur aus einem einzigen Grund nicht widersprach und sich erneut in ihre nach Mottenschutzmitteln riechende Schattenwelt begab: weil eben dieses Mädchen aus seinem Leben verschwunden war und seine letzte Hoffnung darin bestand, dass der Krieg und die Sorge um ihn ihr Herz erweichen würden und sie dazu bringen könnten, zu ihm zurückzukehren, denn die Aussicht auf ein Leben ohne Sonja kam für ihn ewiger Finsternis gleich.

      Den Seesack musste er gut hüten, denn mit seinen Büchern beherbergte er einen Schatz. In diesem Moment, den Inhalt des Sacks erneut prüfend, wunderte er sich, wie der Sophokles in seiner Bücherauswahl gelandet war. Das Büchlein musste irgendwo zwischen den anderen Büchern gesteckt haben, die er hastig aus dem Regal gezogen hatte. Er blätterte das Drama über die aufmüpfige und rebellische Königstochter durch. Und nun klebte dieser Satz an seinen Lippen, wie die Reste des Kakaos, den er als Kind so gern getrunken hatte und den er noch lange danach in den Mundwinkeln schmecken konnte.

      2016/Die Katze

      Heiß wallt dein Herz bei schauerlichem Werk, dreimal hintereinander wiederholte sie den Satz in ihren Gedanken, ihre Lippen bewegten sich intuitiv, aber lautlos, wie ein geräuschloses Tier schlichen die Sätze nach außen. Sie presste ihren Oberkörper mit voller Wucht gegen die schwere Metalltür und fiel fast in den Hinterhof hinaus, konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. Schon immer drückte sie schwere Türen mit einem Schwung ihres Oberkörpers auf, als gälte es, Mauern zu durchbrechen, als würden alle Türen der Welt ihr Widerstand leisten. Das Licht einer einsamen Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel auf ihr nicht vollständig abgeschminktes Gesicht.

      Die Laterne stand am Eingang des Hofes und sah aus, als wartete sie seit Jahren auf jemanden, der ein Versprechen nicht eingelöst hatte, und strahlte mit ihrem kalten bläulichen Licht erbarmungslos auf den menschenleeren Gewerbepark, damit er noch trostloser erschien, als er ohnehin schon war.

      Sie fühlte sich wohl hier. Schon beim ersten Mal, als sie in dieser zum Theater umfunktionierten Fabrik die Bühne betreten und diesen Satz mit dem Blick halb ins Publikum und halb zu ihrer übermächtigen Schwesterfigur ausgesprochen hatte, hatte sie diesen Ort ins Herz geschlossen. Ihr gefiel die Anonymität, das Raue der Gegend. Auch sah man auf den Straßen kaum Menschen – außer an den Abenden, an denen sie spielten und sich eine kleine, aber immerhin konstante Zahl von Zuschauern am Vordereingang drängte.

      Vor allem aber schätzte sie den Hinterhof. Bei gutem Wetter nutzte sie ihn als Garderobe. Die anderen Kollegen verirrten sich kaum hierher, ganz zu schweigen von dem übersensiblen Assistenten, der die Abende betreute und mit seiner Aufgabe vollkommen überfordert war, und wenn der wortkarge Techniker einmal nach einer Vorstellung mit seiner Bierflasche kam, um eine Zigarette zu rauchen, so bot sie ihm kommentarlos ihr Feuerzeug an, sie standen dann schweigend für die Länge einer Zigarette auf dem Hof und sahen in die graue Betonwelt hinaus.

      Heiß wallt dein Herz bei schauerlichem Werk, dieser Satz verfolgte sie auch nach der heutigen Vorstellung. Es gelang ihr nicht, ihn von der Zunge zu kratzen, als hätte sie ihn sich aus Ismenes Wortschatz einverleibt.

      Im Spiel auf der Bühne liebte sie ganz besonders den Moment, wenn sie den Satz endlich sagte, halb klagend, halb vorwurfsvoll, und doch – viel mehr als an das Publikum oder an ihre Schwesterfigur, die so unbedingt eine Heldin sein wollte – richtete sie diesen Satz an sich selbst, so als gestehe sie sich etwas nicht ein, sie, die eben nicht an blindes Heldentum glaubte und die Einzige aus ihrer vom namenlosen Wahn befallenen Bühnenfamilie war, die jeglichen Fanatismus ablehnte.

      Sie sagte es nicht mehr in der Rolle, nicht als Ismene, der Schwester Antigones, für einen Moment verschwand Ismene hinter ihrem Rücken und überließ ihr den schicksalhaften Satz.

      Aus dem Inneren des Gebäudes drangen Gesprächsfetzen und das Klirren der Gläser zu ihr hinaus. Das Ganze verschmolz zu einem einlullenden, sanften Geräusch im Hintergrund. Bestimmt unterhielt man sich gerade über das Spiel der Akteure, bestimmt hatten die Kollegen ihre Freunde und Familienmitglieder dabei, weil der Weg von Berlin bis hier in die Walachei nicht sehr weit war. Manche kamen vielleicht schon zum dritten oder vierten Mal, um ihre Liebsten zu unterstützen, da sie alle nicht gerade mit Angeboten überschüttet wurden. Dieses vertraute Treiben hatte etwas äußerst Beruhigendes für sie. Alles Alltägliche, alles Sorgenvolle verschwamm, sobald sie das Gebäude betrat. Der Kündigungsbrief ihres Hausverwalters, der heute Morgen in ihrem Briefkasten lag, der ihr mitteilte, dass sie in drei Monaten die Wohnung räumen müsse, da der Eigentümer Eigenbedarf angemeldet habe. Der Streit mit Natalia, ihrer Schwester. Die Trennung von R., die sie nicht länger hinauszögern durfte und die ein endloser, wie in Zeitlupe ablaufender Schmerz war. Die Geldsorgen, die Frage, ob sie zu diesem idiotischen Casting gehen sollte, von dem sie sich nichts erhoffte – all das verschwand, sobald sie sich in diesem Treiben auflöste.

      Sie schloss die Augen und zog an ihrer Zigarette, schirmte sie gleichzeitig mit der anderen Hand vor dem Regen ab.

      Es war ihr immer wieder ein Rätsel, wieso sie dieses Lampenfieber, das sich sofort nach dem Aufwachen einstellte, wenn sie abends eine Vorstellung hatte, diese Hektik, überhaupt diese merkwürdige, staubige, abgeschaute Welt so sehr liebte. Wieso sie sich an einem solch weltfernen Ort so sehr als sie selbst fühlte. Es war doch paradox: Nie war sie weiter von sich selbst entfernt, als wenn sie spielte, und gleichzeitig so sehr bei sich. Bereits als kleines Mädchen, wenn sie an der Hand ihrer Großmutter, die ihr ihren Vornamen vererbt hatte, durch die Straßen des Bäderviertels gelaufen war und in die Hinterhöfe mit den Pawlatschen und den bunten Holzbalkonen geschaut hatte, in all die Wohnungen, in denen Lichter brannten, hatte sie sich ausgemalt, was für ein Mensch dort lebte, welchen Beruf er ausübte, was ihn schmerzte oder freute, welche Verluste er erlitten hatte und welches Glück ihm noch bevorstünde. Später hatte sie gelernt, die Stimmen der anderen zu imitieren,


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