Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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Hielt sie es mit sich selbst so wenig aus oder reichte ihr ein Leben nicht, oder traf gar beides zu? Welche geheime Kraft trieb sie als kleines Mädchen im farbenfrohen und lauten Haus ihrer Großmutter dazu an, Vorführungen und Konzerte zu veranstalten, wo alle Kinder der Hinterhöfe nach ihren Möglichkeiten etwas darbieten konnten? Die Erwachsenen spendeten den Kindern danach etwas Geld, damit sie Süßigkeiten und Limonade kaufen konnten. Für sie jedoch ging es um etwas anderes, für sie ging es darum, Publikum zu haben, die Möglichkeit, vor ihm zu spielen, seine Erwartungen zu brechen, es zu überraschen. Natürlich konnte sie es damals nicht in Worte fassen, sie ahnte nur, dass dieser Wunsch, der in ihr brannte, groß, ja stärker war als sie selbst.

      Als dann die »Schwarzen Zeiten« kamen, wie ihre Großmutter das Jahrzehnt nach der Perestroika nannte, als die Kindheit plötzlich einen rostigen Beigeschmack bekam und die Stadt tagelang in Finsternis versank, die Straßen nach Petroleum rochen und die Schlangen vor den Brotgeschäften immer länger wurden und aussahen wie eine Ziehharmonika, als die Erwachsenen ihre Stimmen senkten und ständig über Politik redeten, als Vater und Mutter sich nicht mehr auf den Mund küssten und ihre Großmutter das mühsam ersparte Ferienhaus verkaufen musste, als viele der Nachbarn aus dem Judenviertel nach Israel auswanderten und das bunte Treiben in der Silberstraße gar nicht mehr so bunt war, da, ja da wurden ihre Veranstaltungen zu einer Notwendigkeit. Sie fühlte sich verantwortlich für die Menschen, die ihr wichtig waren, die ihre Welt bildeten, musste sie ablenken, erheitern, sie auf andere Gedanken bringen.

      Und erst recht zur Notwendigkeit wurde dieser Wunsch, als Vater vom Krieg eingesogen und dann als Riese wieder ausgespuckt wurde. »Du kannst uns nicht einfach so zurücklassen. Ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll. Das ist unfair!«, hatte ihre Mutter in der Nacht vor seiner Abreise gejault. Ja, es war ein Jaulen gewesen, als wäre sie ein Wolf.

      Doch ihrer Mutter war klar, dass es vollkommen sinnlos war zu diskutieren. Und wahrscheinlich hatte sie recht. Er hatte seine Entscheidung längst getroffen und war nicht mehr davon abzubringen. Zwei seiner Kollegen waren kürzlich nach Gagra gefahren, nachdem Gerüchte kursierten, dass sich die abchasischen Ärzte angeblich weigern würden, georgische Verwundete zu behandeln. Und nun fühlte Vater sich berufen, zu helfen. Selbst die Tatsache, dass man täglich Schreckensnachrichten von der Einnahme der Stadt hörte, im Fernsehen die Bilder der über die Berge ziehenden Flüchtlingskarawane sah, immer mehr schwarz gekleidete Frauen auf den Straßen umhergingen, die Fotos ihrer gefallenen Angehörigen als Brosche auf der Brust trugen, konnte seine Überzeugung nicht erschüttern. Er war Arzt, und es war seine Aufgabe, dorthin zu fahren und zu helfen, wo er gebraucht wurde. »Was wäre ich für ein Arzt, wenn ich bleiben würde?«, sagte er nur.

      In dem KAMAZ-Laster, mit dem er davonfuhr, befanden sich zwei weitere Ärzte und einige sehr jung aussehende Männer, ein Journalist, der unermüdlich irgendwelche Witze machte, als wollte er krampfhaft seine Angst überspielen, und ein Mann, von dem keiner wusste, was er auf den Schlachtfeldern zu suchen hatte, wen er retten oder wen er töten wollte. Sie hatten sich am Treffpunkt eingefunden, und Natalia, ihre kleine Schwester, der das Wort Krieg noch nichts als Gleichgültigkeit entlocken konnte, saß auf Vaters Schultern und spielte mit seinen Ohren. Diese Beschäftigung schien sie so zu vergnügen, dass sie ab und zu laut auflachte, und dieses fröhliche Lachen bildete einen absurden Kontrast zu der ansonsten so bedrückten und schweigsamen Stimmung.

      Sie erinnerte sich an diese Szene, so klar, als hätte sie erst vor einigen Tagen stattgefunden. Und sie erinnerte sich ebenso, dass auch sie in dieser traurigen Konstellation die Heitere und Spaßige zu sein versuchte. Sie lächelte unnatürlich viel, war freundlich, gab die unkomplizierte und hilfsbereite Tochter und schnitt für den zu einer mechanischen Puppe gewordenen Vater lustige Grimassen, der es vermied, seinen Familienmitgliedern direkt in die Augen zu blicken.

      Aber kurz bevor er in den Frachtraum des Lasters stieg, zu den Gütern, die dort verstaut waren, lächelte er sie noch einmal an. Und er tat es, weil es ein Spiel war, weil sie ihm dieses Lächeln entlockte, es war ein beliebtes Spiel zwischen den beiden gewesen, das Wetteifern um den größten Gesichtsgulasch. Und tatsächlich öffnete er den Mund, die Lippen, befreit aus der Gefangenschaft der Reglosigkeit, verzogen sich zu einem Lächeln.

      Ja, sie hatte ihm dieses kostbare Lächeln entlockt, an das sie so oft noch würde zurückdenken müssen, bevor der KAMAZ davonfuhr und Mutters Hände zu zittern begannen und Natalia, ohne selbst zu wissen, warum, vielleicht stellvertretend für die Erwachsenen, anfing, lauthals zu weinen. Ja, der Wunsch erwachte an jenem Tag, aber vor allem begann er ab dem Zeitpunkt in ihr zu pochen, als Vater als Riese nach Hause zurückkehrte.

      Sie genoss die Ruhe, die sich nach jeder Vorstellung hier in ihrem Hinterhof einstellte. Der Nieselregen wusch die Reste der Schminke und alle Gedanken von ihr ab, verwandelte sie in farblose Tropfen und dann in bräunliche Pfützen im löchrigen Asphalt. Es tat gut, nichts zu denken, nichts zu wollen, einfach nur dazustehen, noch nicht ganz sie selbst, aber auch nicht mehr die in sich brütende, in sich zusammenfallende Ismene, der es nicht vergönnt war, ihr Unglück laut hinauszuschreien.

      Vielleicht war genau das der Zustand, in dem sie dem Glück am nächsten kam. In dem sie frei war. Frei von Vorherbestimmungen und Erinnerungen, frei von Erwartungen und von Zwängen. Deshalb fühlte sie sich so wohl an diesem Ort, gerade nach den Vorstellungen, noch Ismenes Gesicht über ihres gemalt, mit den Fetzen fremder Sätze in sich.

      Doch der Schmerz im Bauch kehrte wieder, sobald sie anfing, an ihn zu denken, von dem sie lange angenommen hatte, er wäre ihr Zuhause, und wurde im gleichen Moment abrupt unterbrochen, weil jemand die schwere Tür aufriss, sicherlich Juri, dachte sie und drehte sich nicht um.

      – Hey Katze, da sucht dich einer, echt komischer Kerl, meinte, er müsse dich dringend sprechen, etwas Persönliches oder so, soll ich ihn zu dir rausschicken?

      Es war Anton, der Produktionsassistent, der in Sekundenbruchteilen ihre hart erkämpfte Ruhe zerstört hatte. Ein Rätsel, wie man einerseits so überempfindlich und gleichzeitig so grobschlächtig sein konnte wie Anton.

      – Wer soll das sein?, fragte sie gelangweilt nach, eher mechanisch, ohne den Blick von der gegenüberliegenden Betonwand abzuwenden.

      – Keine Ahnung, wollte mir nichts verraten. Könnte irgendein Werbefuzzi sein, sieht so geschniegelt aus, fügte er kurz angebunden hinzu. – Ich schick ihn dann raus, ich habe anderes zu tun, als mich um deine freakigen Verehrer zu kümmern.

      Der letzte Satz sollte wohl als Mischung aus einem verqueren Kompliment und einem Witz verstanden werden. Er hatte diese schwierige Gewohnheit, Menschen Nettigkeiten in Form von genervten Beschwerden mitzuteilen. Wenn er sich vom Spiel eines Kollegen beeindrucken ließ, beklagte er sich anschließend bei dem Schauspieler mit etwas Derartigem wie: »Musst du mich denn so aufregen? Meinst du, ich selbst habe nicht Drama genug?« Oder wenn er sich von jemandes Komik mitreißen ließ, sagte er übertrieben leidvoll: »Na toll, jetzt habe ich wegen dir Muskelkater.«

      Er schlug die Tür mit lautem Knall hinter sich zu. Sie versuchte, wieder die gewohnte Stille heraufzubeschwören, kniff die Augen zusammen und streckte ihre Nasenspitze in den nachlassenden Regen.

      Seit sie denken konnte, war sie dem Instinkt gefolgt, sich in andere Köpfe, Körper und Leben hineinzufantasieren, und war früh zu dem Entschluss gelangt, die Schauspielerei zu ihrem Leben zu machen. Sie hatte sich die Möglichkeit erarbeitet, eine Ausbildung zu machen, die sie das Handwerk lehren würde. Mit jedem Regisseur, dem sie seither über den Weg gelaufen war, der mit ihr arbeiten wollte, ergab sich über kurz oder lang eine Konfliktsituation. Manche glaubten, ihr stehe ein falscher Stolz im Weg, der in der Schauspielerei nichts zu suchen hätte, andere wiederum warfen ihr vor, sie bilde sich ein, klüger zu sein als die anderen, oder hielten sie einfach nur für exzentrisch. Das Problem war nicht, dass sie sich für etwas zu schade war, noch viel weniger lag es daran, dass sie die jeweils eigene Interpretation ihrer Rolle für besser hielt als die des Regisseurs oder der Regisseurin – es lag vielmehr an ihrem eigenen, krankhaft übertriebenen Anspruch, den sie an sich und die Welt stellte. Sie wollte sich häuten und über sich selbst hinauswachsen, und sie zeigte sich unversöhnlich angesichts jeder Mittelmäßigkeit, mit der man sich nur allzu häufig zufriedenzugeben schien. Nein, sie wollte sich alles abverlangen, über


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