Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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in die Augen, und obwohl sie es selbst albern fand, ohne einen wirklichen Grund zu weinen, konnte sie nichts dagegen tun. – Ich meine …

      Ihr gingen die Worte aus. Sie konnte nicht klar benennen, was sie so störte, was sie so aufregte. Etwas stimmte nicht, etwas war falsch, etwas passte nicht zusammen, aber sie wusste nicht, was genau es war, als fehle in einem Puzzle das zentrale Teil, als sei es unmöglich, ohne dieses Teil das Gesamtbild zu erkennen. Ihr Vater legte seinen Arm um sie und drückte sie fest an sich, ohne sie dabei anzusehen. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Es tat gut, es war ein sicheres, ein geborgenes Gefühl, das unerschütterlich schien.

      – Er muss so sein, er musste so werden, um zu überleben, sagte er auf einmal und zog aus seiner Jacketttasche eine Packung Papirossy, die er so gerne rauchte, alle westlichen Zigarettenmarken, die man auf einmal kaufen konnte, verschmähte er. – Er musste unverwundbar werden, sonst würde ihm seine Vergangenheit die Luft abschnüren, er würde ersticken, sagte er gewohnt ruhig, fast leise. – Er musste überleben, er hatte keine andere Wahl.

      Ihr Vater machte eine längere Pause, in der er sich seine Papirossa anzündete und einen tiefen Zug nahm. Die Spitze glühte im regnerischen Abendlicht. – Manchmal, da ist das Licht nur eine Tarnung für die Dunkelheit, sagte er dann und verstummte.

      Merkwürdigerweise fiel ihr auf, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, gleich als das Wort »Krieg« gefallen war, an diesen Mann und an den Viehwaggon hatte denken müssen. War das der Krieg? Abgerissene Leben, zerschnittene und aus der Zeit gefallene, nicht mehr folgerichtige Biografien? Oder gab es sowieso keine Folgerichtigkeit im Leben, weder im Frieden noch im Krieg? Wieso musste sie schon wieder an diesen bärtigen Mann denken, der einst ein ahnungsloser Säugling gewesen war? Worauf musste sie sich gefasst machen? Worauf mussten sie sich alle gefasst machen?

      War der Krieg ein Viehwaggon mit Männern, die über Leben und Tod bestimmten? Waren es Frauen, die zu Säulen erstarrten, und Männer, die ihre Geschichten vergaßen, weil sie zum Überleben verpflichtet worden waren, durch ein vor Jahren gegebenes Versprechen? Aber überleben um welchen Preis? Oder spielte der Preis bei derlei keine Rolle?

      Sie musste weg. Nein, sie mussten alle weg. Sie durfte nicht zulassen, dass das Leben ihrer Mutter, ihr Leben und das Leben von Asma von irgendwelchen Befehlen abhingen, dass ihre Leben nicht nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten verliefen. Dass die Folgerichtigkeit aus ihrem Dasein verschwände. Sie brauchte einen Plan. Es galt, gleich in den nächsten Tagen eine Karte des Überlebens zu zeichnen.

      Wieder bellte der Hund in der Ferne. Sie sah zum Himmel, vom Mond fehlte jede Spur. Die Dunkelheit war allumfassend, aber sie fühlte sich in ihr sicher, sie spendete Schutz und Trost. Ja, ihr Vater hatte recht gehabt, manchmal, da war das Licht nur eine Tarnung für die Dunkelheit. Und daraus zog sie eine Schlussfolgerung, die sie für einen Augenblick zuversichtlich stimmte: Die Dunkelheit war demnach vielleicht nur eine Tarnung für das Licht.

      EINS: SPLITTER

      1995/Malisch

      Heiß wallt dein Herz bei schauerlichem Werk. Er wiederholte den Satz lautlos, lutschte die Worte auf seiner Zunge wie ein Sauerdornbonbon, sauer und köstlich zugleich. Er hatte das dünne, bald auseinanderfallende Büchlein mit anderen, solider wirkenden Büchern in den moosgrünen Seesack gepackt, den seine Mutter ihm für seine Abreise aus Moskau bereitgelegt hatte.

      Sie hatte ihm den Sack kommentarlos auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt, mit allerlei Leckereien und sentimentalem Zeugs, die Hälfte hatte er heimlich nachts in seinem Zimmer, nur wenige Stunden vor der Abreise, wieder herausgenommen, um sich nicht den Anfeindungen auszusetzen, die solche mütterlichen Geschenke unweigerlich nach sich ziehen. Und Anfeindungen gäbe es ohnehin.

      Aber er konnte sich nicht verkneifen, ein paar Bücher aus seinem Bücherregal mitzunehmen, ohne auf die Auswahl zu achten, sich dem Zufall überlassend. Hauptsache, ein paar Bücher begleiteten ihn in diese ungewisse und erschreckende Dimension, die den Namen »Krieg« trug und von der er niemals angenommen hätte, dass sie jemals mit seinem Leben zu tun haben würde. Diese beiläufig getroffene Auswahl im abgenutzten Seesack seines toten Übervaters war der einzig erprobte Gefährte auf seinem gefährlichen Weg. Klar, Bücher zählten in dieser Dimension nichts, im Gegenteil, sie stellten einen bloß, markierten einen als Schwächling, in dieser Dimension galten andere Gesetze, das hatte er während seiner abgebrochenen Militärausbildung gelernt, sie würden seine ohnehin wenig beneidenswerte Position noch lächerlicher machen, aber er konnte Moskau nicht ohne sie verlassen, wenigstens ein paar von ihnen mussten mit.

      Er hatte nichts zu dem Seesack gesagt, und auch seine Mutter hatte geschwiegen, Worte wären in dem Augenblick sinnlos gewesen. Natürlich beabsichtigte sie, damit ein Zeichen zu setzen. Er konnte es förmlich spüren, welche Aufforderungen und Erwartungen auf dessen Boden lagerten und ihn um viele Kilos schwerer machten.

      Er sah sie vor sich, wie sie den alten Seesack seines Vaters aus dem hintersten Winkel des schweren, nach abgestandener Luft und nach etwas anderem, Unaussprechlichem riechenden Eichenschrank ihres Schlafzimmers hervorholte, wo auch Vaters Armeeabzeichen, seine Medaillen, das Bündel seiner Briefe an sie aus der Zeit in Afghanistan und seine Pfeife aufbewahrt wurden, und wie sie ihre Gebete und ihre Hoffnungen in ihn hineinlegte, die mindestens genauso schwer wogen wie die Bücher. Für sie waren diese Reliquien aus dem wuchtigen Eichenschrank heilig. Und der Seesack war vermutlich der Heilige Gral. Dieser Sack hatte seinen Vater überallhin begleitet, durch karge Berge und staubtrockene Wüstenlandschaften, durch Stürme und Kugelhagel, durch Bombardements und Schreie, begleitet auf dem langen, nach Eisen riechenden Weg. Sie hatte immer diesen bestimmten Gesichtsausdruck, wenn sie von seinen Heldentaten berichtete, was sie in seiner Kindheit nahezu unermüdlich getan hatte, als hätte sie einen Eid abgelegt, nach seinem Tod nur noch dafür zu leben, den Hinterbliebenen und vor allem dem einzigen Sohn zu erzählen, welch ein Titan er war, auf die Welt gekommen, um mindestens die Menschheit zu retten, die in Afghanistan aber gar nicht gerettet werden wollte.

      Zunächst hatte er all diese Geschichten geliebt, als kleiner Junge immer wieder nachgefragt, jedes Detail wissen wollen. Ob Papa auch die Strelka-2 ausprobieren durfte, ob Papa seinen Tapferkeitsorden im Tajbeg-Palast überreicht bekommen hatte? Ob Gorbatschow damals auch dort war oder ihm erst in Moskau gratuliert hatte? Besessen sog er jedes Detail dieser vergangenen, geheimnisvollen Welt in sich auf. Aber mit den Jahren wurde dieses Bedürfnis von einer nahezu unerträglichen Sehnsucht abgelöst: diese Welt so fern wie möglich von sich zu halten, nichts mehr über Afghanistan zu hören, nichts von der Operation Storm-333, über Mohammed Nadschibullāh, über das Genfer Abkommen und die fiesen US-Propagandabücher über den Heiligen Krieg, die an die afghanischen Kinder verteilt wurden und in deren Illustrationen den Feinden die Gesichter fehlten.

      Aber zum Glück verblassten die Geschichten im Laufe der Zeit, auch der Krieg mit der Sowjetunion fand ein Ende, beziehungsweise die ganze Sowjetunion fiel eines Tages wie ein todkranker und uralter Elefant einfach um und hörte auf zu existieren, wie auch ihre glorreiche sowjetische Armee, für die er als kleiner Junge Tapferkeitsmedaillen verdienen und sein Leben opfern wollte.

      Seine Bewunderung für seinen verstorbenen Heldenvater war umgeschlagen in eine unterdrückte Aggression. Er fing an, für die Welt, in der er so heimisch gewesen war und die seine Mutter tagein, tagaus lobpries, eine frostige Verachtung zu empfinden, vor allem, als ihm immer deutlicher bewusst wurde, welchen Preis seine Mutter dafür zu zahlen hatte als Witwe eines Helden. Des Mannes, »dem sogar Gorbatschow persönlich gedankt hat«. Wie es war, mit einem Geist verheiratet zu bleiben und das eigene Zuhause, in dem sie mit ihrem einzigen Kind zusammen lebte, zu einem Mausoleum umzugestalten, in dem die Uhren rückwärtszulaufen schienen. In dem die Ikonen in einem schweren Eichenschrank lagen, der nach Mottenpapier roch, nach einer Spur Kindheit, die irgendwo auf einem Baum hängen geblieben war, wie eine Plastiktüte vom Wind verweht, nach vielen ungesagten Worten und nach unerwartet erstickter Liebe. Ikonen in Form von Erinnerungsstücken, Bruchstücken von etwas zu früh zu Ende Gegangenem, Spuren eines toten Mannes, dem er als Vater und Götze zu huldigen hatte und den er das letzte Mal mit zwölf Jahren gesehen hatte. Und auch in den zwölf Jahren zuvor hatte er den Namen des Vaters


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