Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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bekannte Rauschen, hier in der Schlucht war es gar nicht so einfach, eine saubere Frequenz zu finden, nicht selten sah man improvisierte, verbogene, zusammengeklebte Antennen, die man mühevoll bei der ewigen Suche nach einem gut hörbaren Sender zusammenmontiert hatte.

      Zwei Geländewagen kamen ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegen, Rustam verlangsamte und lehnte sich aus dem Fenster.

      – Salam alaikum, Bruder!, schrie einer.

      – Maschallah, entgegnete Rustam.

      – Freiheit dem tschetschenischen Volk!, grölten die Männer, deren Gesichter sie im anderen Wagen nicht erkennen konnte.

      – Freiheit!, antwortete Rustam etwas verhaltener.

      Sie gaben noch weitere Parolen von sich, aber sie hörte nicht mehr hin, denn für einen Augenblick war der Empfang da, und sie vernahm einzelne Worte aus dem Radio, wie »Einmarsch«, »Wehrpflicht«, »militärische Intervention«, »Präsident der Russischen Föderation«. Ihre Knie wurden weich. Sie traute sich nicht, den Gedanken, der sich ihr die ganze Zeit aufdrängte, zuzulassen. Erst nachdem Rustam wieder auf das Gaspedal trat und sie von der Hauptstraße in die kleine Abzweigung linker Hand abbogen, die zu ihrem Hof führte und die erfreulicherweise menschenleer war und vollständig im Dunkeln versunken, wagte sie, die Frage zu stellen:

      – Haben wir Krieg?

      – Ja.

      Sie war froh, dass Rustam keine Fragen stellte und ihr auch nicht wie gewohnt die Leviten las. Schweigend fuhr er sie nach Hause. Vor der Tür lagen unzählige Paar Schuhe. Im Wohnzimmer tummelten sich die Nachbarsfrauen, auch ihre Tante, Rustams Mutter, war da und drückte die verwirrte Asma an sich. Die alte Rabyat, die Königin der Imker, wie sie scherzhaft genannt wurde, ging auf und ab, die Arme auf dem Rücken, und murmelte irgendwelche Glücks- und Friedensformeln. Sogar die Gasujews waren gekommen.

      Die Männer waren fort, wahrscheinlich hatten sie sich bei dem Mufti zusammengefunden, oder vielleicht war der Ältestenrat einberufen worden.

      Sie entledigte sich ihrer Schuhe, ging hinein, nickte den Damen zu, neigte respektvoll den Kopf vor Rabyat. Rabyat lächelte ihr zu, sie schien sichtlich erleichtert, dass sie aufgetaucht war, aber die Missbilligung in ihrem Blick, dass sie mit siebzehn Jahren immer noch kein Tuch auf dem Kopf trug, war Nura nicht entgangen. Wahrscheinlich tröstete sie sich damit, dass spätestens nach der Heirat ihr unbedeckter Kopf der Vergangenheit angehören würde.

      – Wo hast du bloß gesteckt? Wir sind hier vor Sorge fast umgekommen, kam ihre Mutter ihr klagend entgegen.

      – Ich habe es nicht gewusst, ich habe es nicht mitbekommen, woher sollte ich es wissen …

      Leise wiederholte sie die Sätze, wie unter Betäubung. Und vielleicht war sie auch betäubt, vielleicht war ihr Körper klüger, vielleicht schützte er sie damit. Sie fühlte nichts, sie spürte nichts, schlagartig gab es eine Distanz zwischen ihr und dem Außen, dem Geschehen um sie herum.

      – Gott sei Dank, du bist wieder zu Hause!, rief nun auch ihre Tante und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war ungewohnt, dass all diese Frauen pure Freude bei ihrem Anblick empfanden, meist waren die Reaktionen, die sie hervorrief, widersprüchlicher Natur.

      Die Einzige, die in ihr ein klares, ein lebendiges und keineswegs taubes Gefühl wachrief, war ihre zehnjährige Schwester Asma, der sie, wie immer, wenn sie sich sahen, zuzwinkerte. Gerade jetzt war es wichtig, ihr vor allen zuzuzwinkern, die Kleine hatte Angst, das sah sie an ihren weit aufgerissenen Augen, auch wenn sie es mit viel Mühe zu kaschieren versuchte, aber Nura konnte ihre Anspannung erkennen und ihre Unsicherheit. Sie musste ihr Mut zusprechen, musste ihr mit kleinen Gesten zu verstehen geben, dass alles in Ordnung war, dass sie nichts zu befürchten hatte.

      Ihre schöne kleine Schwester – wie sehr sie doch wollte, dass die Welt sich ihr von der besten Seite zeigen möge. Wie schade es war, dass Asma zu klein gewesen war, als Natalia Iwanowna mit ihren Videokassetten, mit ihren Zauberkräften in die Schlucht gekommen war. Wie gerne sie all das, was sie gelernt hatte, an die Kleine weitergeben würde; ihr all die Filme zeigen und ihr von all den Orten erzählen. Sie verdiente so viel, sie verdiente so viel Lachen und so viele Tänze, so viele Torten und so viele Kirschen und so viele Blumen und luftige Kleider, so viele Reisen und so viele Aussichten, so viele Erkenntnisse und so viel Freude.

      Sie ging in die Küche, wo die Ältere der Gasujew-Schwestern Hüttenkäse für die Chepalgaschi zubereitete.

      – Ah, das gute Mehl …, sagte sie nur und nahm Nura den Mehlsack ab. In der Ferne bellte ein Hund. Die Stimmung, die im Haus herrschte, drückte auf die Köpfe, als hätte man sich eine Metallhaube aufgesetzt. Das Autohupen von der Hauptstraße war vollständig abgeklungen, und wieder wurde die Gegend von der mächtigen Stille erfasst, die nur vom Flussrauschen durchbrochen wurde und die so typisch war für diese Uhrzeit.

      Die Gasujew-Schwester setzte zu einem Gespräch mit ihr an, was bedeutete, sie würde meist selbst reden und von Nura ab zu ein Kopfnicken oder ein »Ja, ja, schrecklich, das alles« einfordern, aber sie nutzte die Gelegenheit, drehte sich zum Händewaschen um und ging hinaus. Sie schlüpfte in die Gummistiefel und nahm den Hinterausgang. Der Hof lag friedlich da. Als stünde das, was im Hof war, in keinerlei Verbindung zu dem, was im Haus stattfand. Als wären es zwei vollkommen verschiedene Welten.

      Natalia Iwanowna hatte die letzten Wochen vor ihrer Abreise unentwegt vom Krieg gesprochen. Nura war sogar genervt von ihrer Besessenheit, und sie ertappte sich dabei, dass sie immer weniger gerne zur Scheune ging. Anstatt sich einen Film anzusehen, lief Natalia Iwanowna besorgt auf und ab, trank ununterbrochen ihren Tee, sah mit wässrigen Augen in die Ferne und prophezeite Ungutes, Besorgniserregendes. Sie wirkte wirr, nicht mehr ganz bei Sinnen, und Nura fiel es zunehmend schwerer, ihr mit lachender Heiterkeit etwas entgegenzusetzen, ihr und ihrem Wahn. Aber nun, im dunklen Garten stehend, dachte sie, dass es kein Wahn gewesen war, und etwas schmerzte brennend, weil sie ihr nicht besser zugehört hatte und ihrem Wahn nicht zur Wahrheit gefolgt war, die sich jetzt, in dieser Nacht, offenbarte. Sie hatte sie nicht gestützt, ihr keinen Halt gegeben, und Natalia Iwanowna musste es gespürt haben, war sie doch in den letzten Wochen und Tagen in ihre Einsamkeit zurückgekehrt, in diesen Zustand der Selbstgenügsamkeit und der Tagträumerei, sie kehrte dorthin zurück, wo sie gewesen war, nachdem sie ohne ihren Mann in dieser Abgeschiedenheit alleine zurückgeblieben war, als Nura das erste Mal in die Scheune gekommen war und mit ihr versucht hatte, das Geheimnis des Zauberwürfels zu lösen. Doch eines Abends hatte Natalia Iwanowna einen Nachbarsjungen nach ihr schicken lassen – etwas, was bisher nie nötig gewesen war, denn sie war immer freiwillig gekommen. Aber an jenem Abend hatte sie es tun müssen, und so ging Nura hin, trotz Mutters Geschimpfe und der Dunkelheit ging sie zu ihrer Lehrerin und Freundin und traf Natalia dort mit gepackten Taschen und Koffern an. Sie hatte milde gelächelt und einen merkwürdigen Glanz in den Augen gehabt.

      – Ich werde dich verlassen müssen, meine Schöne!, sagte Natalia Iwanowna und legte den Kopf auf mädchenhafte Art zur Seite.

      – Wie verlassen? Wo gehst du hin?

      – Ich kann nicht länger bleiben. Ich habe meine Aufgabe hier erfüllt. Ich muss weiterziehen.

      – Aber was soll werden …

      – Es ist nicht mehr sicher für mich hier.

      – Wieso denn das?

      – Ich habe dir alles aufgeschrieben, was ich noch zu sagen habe. Lies den Brief bitte erst, wenn ich fort bin. Ich breche morgen früh mit dem Auto auf.

      – Aber wohin gehst du?

      – Das weiß ich noch nicht. Sobald ich irgendwo einen Platz für mich gefunden habe, werde ich dir eine Nachricht zukommen lassen, versprochen.

      Drei Koffer mit Kassetten und vier Taschen – das war ihr ganzes Hab und Gut. Ihr ganzes Werk, ihr zusammengepresstes, zusammengefaltetes Leben. Nura war überfordert gewesen, überfordert, aber vor allem verärgert, und auch wenn sie sich in den letzten Wochen von ihrer Lehrerin distanziert hatte, so hieß das noch lange nicht, dass sie auf sie verzichten wollte oder konnte, und dass Natalias Iwanowna ihr Fortgehen einfach so beschloss, ohne


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