Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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doch ihre Lippen blieben verschlossen, sie konnte nichts sagen, keinen geraden und klaren Satz formulieren.

      – Das ist ungerecht, stammelte sie irgendwann und knackte ihre Finger, etwas, was Natalia Iwanowna nicht ausstehen konnte.

      – Ich weiß, du bist wütend auf mich, aber ich hoffe, dass du nach dem Lesen dieses Briefes versöhnlicher sein wirst, und ich wünsche mir inständig, dass du mich verstehen wirst, wenn eine Weile verstrichen und … Sie brach den Satz ab und kam auf sie zu. Sie nahm Nura in den Arm, drückte ihren Kopf an sich, küsste ihre Wangen und ihre Stirn und sagte dann knapp, sachlich, als wäre es eine Formalität: – Geh jetzt bitte. Ich bin keine Frau der langen Abschiede.

      Sie hatte vom Krieg gesprochen in ihrem zweiseitigen Abschiedsbrief, in ihrer feinen, aristokratischen Schreibschrift, und ihn mit »Liebste Nura« begonnen. Vom Krieg und von ihrer Rastlosigkeit und ihrem Unbehagen angesichts der Zukunft und von ihrer Sehnsucht nach Frieden und einem Ort des Ankommens hatte sie geschrieben. Sie dankte Nura für die Monate und Wochen ihrer Zweisamkeit, ihrer gegenseitigen Bereicherung und sprach ihr Mut zu – sie solle unbeirrt ihrem Selbst folgen, ihr Ich nicht außer Acht lassen, sich nicht verraten. Das sei nun mal das Wichtigste, und dann fügte sie hinzu, in der kleinen Speisekammer hinter der grünen Tür, in der Metalldose, auf der »Zucker« oder »Salz« stehe, sie wisse es nicht mehr genau, würde etwas für sie versteckt sein, ein kleines Andenken, eine Aufgabe vielleicht. Sosehr sie hoffe, dass sie sich wiedersähen, würde sie sie niemals vergessen und immer in besonderer Liebe in ihrem Herzen behalten. »Deine Natalia«, so war der Brief unterschrieben.

      Und als Nura den Brief las, kullerten ihr Tränen die Wangen herunter, und gleichzeitig empfand sie Groll, sie hätte nicht so einfach abreisen, nicht so einfach fortgehen dürfen. Unwillig, widerstrebend ging sie in die Scheune, der Schlüssel lag unverändert unter der Fußmatte, und trat ein. Die wenigen Möbel standen noch da, aber etwas Wesentliches, das Wesentlichste überhaupt, fehlte, und sogar der Geruch hatte sich schlagartig verändert. Es roch dort verlassen, menschenleer, es roch dort nach einem Ort, der über Nacht entzaubert worden war. Leise schlich sie in die Speisekammer, als fürchtete sie, alte Erinnerungen zu wecken, und entdeckte dort drei Metalldosen, staubig und bereits mit Rost überzogen. In der Zuckerdose wurde sie fündig: Dort lag der bunte Kubik-Rubik, der Zauberwürfel, dessen Rätsel sie anfangs zu lösen versucht hatte, bis sie ihn ungeduldig und entnervt an die Besitzerin zurückgegeben hatte. In Wahrheit aber war es aus Angst geschehen, ihre Lehrerin zu enttäuschen, falls sie der Aufgabe nicht würde gerecht werden können. Unter dem bunten Würfel entdeckte sie einen kleinen Zettel, der mit einem Klebestreifen an ihm befestigt war: »Ich habe es nicht geschafft, Du aber, Du wirst es ganz sicher schaffen.« Sie drehte die bunten Flächen des Würfels hin und her, und Tränen schossen ihr in die Augen. Es war gemein. Natalia hätte nicht einfach so verschwinden dürfen, das war feige, das war ungerecht. Sie warf den Würfel wieder in die Dose, nein, sie würde es ihr nicht so einfach machen, sie würde ihren Erwartungen nicht entsprechen. Hätte sie es sich wirklich gewünscht, wäre sie sicherlich geblieben und hätte ihr dabei zugesehen, aber so, aus der Ferne, nein, das würde sie nicht tun. Sie knallte die Tür hinter sich zu und lief hinaus, der Zauberwürfel blieb in der rostigen Dose zurück.

      Der Garten war in eine verschlafene Ruhe versunken, und sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, bevor sie ihre Runde um das Haus drehte und vor dem Fenster des Wohnzimmers stehen blieb, in dem sich alle Frauen um das Radiogerät versammelt hatten. Zum Glück konnte sie nichts Genaues hören, sie konnte sich gänzlich auf die Gesichter der Frauen konzentrieren, die etwas zwischen Besorgnis, Ungläubigkeit, Überforderung und übertriebenem Eifer verrieten. Es wunderte sie, dass sie nicht zu den Gasujews gelaufen waren und sich vor ihrem Farbfernseher versammelt hatten – dem einzigen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Aber wahrscheinlich war das Gerät von den Männern in Beschlag genommen worden, und so mussten sie sich mit dem Radio zufriedengeben. Vielleicht war es auch besser so. In der Mitte dieser hektischen Frauen entdeckte sie Asma, wie eine Gazelle, die sich zufälligerweise in eine Hirschhorde verirrt hatte, deplatziert und bemüht ernst. Sie drückte ihr Gesicht gegen das Fensterglas, aber es würde für die Kleine unmöglich sein, sie hier am Fenster zu sehen, in dieser vollkommenen Dunkelheit, während ihre Schwester selbst unter dem Lampenschirm saß.

      Sie selbst aber stand da, als hätte sie sich aus ihrem eigenen Leben davongestohlen, und sah dem Treiben drinnen zu. Sah, wie die Mutter sich immer wieder nervös die Hände an der Schürze abwischte, wie die Jüngere der Gasujew-Schwestern sich auf die Unterlippe biss, wie ihre Tante die Fäuste zusammenballte, in der Hoffnung, die Geste möge ihre Aufmerksamkeit von ihrem übermächtigen Wunsch nach Nikotin auf etwas anderes umlenken (auf ihrer Toilette stank es dauernd nach Zigarettenrauch, den sie mit widerlichem Parfum zu überdecken versuchte). Sah, wie die Königin der Imker, die alte Rabyat, mit dem Oberkörper hin- und herwippte, als wäre sie in Trance, ein armseliger Versuch, sich zu beruhigen.

      Rabyat gehörte damals, kurz vor Kriegsende 1944, zu der halben Million Tschetschenen und Inguschen, die wegen angeblichen Ungehorsams und vermeintlicher Kollaboration mit den Nazis von Stalin gewaltsam nach Kasachstan und Kirgisistan deportiert wurden. Wie eine Fackel, die nicht verlöschen durfte, gab sie die Erinnerung an die elende und endlose Fahrt in den Viehwaggons an ihre Töchter, Söhne und Enkelkinder weiter. Unentwegt erzählte sie ihnen von den quälenden Erlebnissen im Exil, und als würde von diesen Geschichten eine grausame Magie ausgehen, hörten ihr alle wie gebannt zu, auch die, die diese Geschichten schon längst in- und auswendig kannten, keiner konnte sich abwenden, keiner konnte weggehen, sobald sie zu erzählen begann. Und auch sie gaben später die Geschichten Rabyats weiter, erzählten sie ihren Kindern und Kindeskindern, ihren Freunden, ihren Klassenkameraden. Und so waren ihre Erzählungen allgegenwärtig, schrieben sich in das kollektive Gedächtnis der Schluchtbewohner ein.

      Es gab viele Geschichten von der Fahrt und vom Hunger, von den Arbeitslagern in Kasachstan, von der Sehnsucht nach den Bergen und den leise gesungenen Heimatliedern, aber eine der Geschichten war Nura am stärksten in Erinnerung geblieben und hatte sie ihre gesamte Kindheit lang verfolgt. Heute noch, wenn sie Rabyat ansah, wenn sie ihr lang genug zuhörte, egal von welchen Banalitäten sie auch sprechen mochte, welche Nichtigkeiten sie auch von sich gab, irgendwann tauchte unvermeidlich diese eine Geschichte in ihrem Gedächtnis auf. Wieder sah sie die kleine Rabyat vor ihrem inneren Auge. Sah sie vor sich, wie sie mit ihrer Mutter und ihren vier älteren Geschwistern im Viehwaggon durch die endlose Steppe abtransportiert wurde. Wo eine unerträgliche Hitze herrschte und es wenig Wasser gab, es unmöglich war, sich auszustrecken, in vollkommener Ungewissheit weggezerrt aus der Heimat, aus dem Vertrauten. Aber sie hielten zusammen, und da Rabyat die Jüngste der Geschwister war, passten die anderen auf sie auf, und sie bekam sogar von ihren Essensrationen etwas ab, und die Mutter achtete darauf, dass sie nicht in die anderen Waggons kam, wo es dem Gerücht nach mehrere Kranke gab, die Blut husteten. Nirgendwo hielt der Zug lange, nirgendwo gab es Rast. Nirgendwo gab es genügend frische Luft zum Atmen und Wasser, um sich ordentlich zu waschen. Aber ihre Mutter tat ihr Bestes. Mit feuchten Lappen zwang sie die Kinder, sich sauber zu halten, rettete ihnen dadurch womöglich das Leben. Außer ihrer Mutter – der Vater kämpfte im Krieg – waren auch ihre wunderschöne Tante Hava und deren zwei kleine Kinder im Waggon. Ihr Mann war beschuldigt worden, am Israilow-Aufstand teilgenommen und mit den Nazis kollaboriert zu haben, und war sofort nach der Verhaftung hingerichtet worden. Hava blieb mit einem vierjährigen Jungen und einem Säugling zurück. Die ganze Fahrt über weinte sie, und Rabyats Mutter sah sich gezwungen, sie immer wieder anzuschreien, manchmal gab sie ihr sogar eine Ohrfeige, sie müsse sich zusammenreißen, der Kinder wegen, sie bringe sich und die ganze Familie mit ihren Gefühlsausbrüchen in Gefahr. Aber Hava hatte ihren Mann geliebt, es hatte im ganzen Aul und darüber hinaus Legenden über ihre große Liebe gegeben, fügte Rabyat meist an dieser Stelle hinzu, und nachdem man ihren geliebten Mann getötet hatte, habe sie nicht gewusst, wie sie weiterleben sollte. Aber ihre Schwester kümmerte sich auch um Havas Kinder, so gut es ging, und zwang Hava dazu, das Mindeste an Nahrung und an Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die Krankheit aber – deren Namen Rabyat niemals nannte, als bringe das bloße Aussprechen Unglück – griff um sich, und auch Havas vierjähriger Sohn begann, Blut zu spucken. Das Kind wurde fiebrig und erbrach alles, was es aß. Rabyats Mutter flehte die Wachen an, einen Arzt zu holen oder bei der nächstbesten Station haltzumachen, damit man dem Jungen helfen


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