Das Perchtenerbe. Birgit Arnold

Das Perchtenerbe - Birgit Arnold


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Gesprächspartnerin erwidert ebenso leise: „Glaubst du, dass sie noch kommt? Man hört immer seltener von ihr. Der Pfaffe hat erklärt, dass sie nicht mehr existiert. Dass der wahre, der einzige Gott und seine Heiligen sie in die Hölle verbannt haben, in der sie nun schmort.“

      Entsetzt reißt die Erste die Augen auf.

      „Sei still! Fang nicht an zu lästern! Oder möchtest du die Urmutter gegen dich aufbringen? Immer hat sie zu den Fleißigen gehalten. Sie hat seit Anbeginn dafür gesorgt, dass unsere Felder Früchte tragen, dass unsere Töchter schwanger werden. Wie kannst du an ihr zweifeln?“

      Die andere meint etwas kleinlaut: „Nun ja, ich meine ja nur. Die Zeiten ändern sich. Aber wenn du noch an sie glaubst, dann werde ich zu Hause auch schnell alles für sie richten.“

      Ohne das Mädchen zu beachten, kehren die beiden Frauen ihr den Rücken und entfernen sich vom Brunnen. Schnell schöpft Criste das Wasser mit dem Eimer und macht sich auf den Nachhauseweg. Unruhe hat sich in ihr breit gemacht. Die Urgöttin wird morgen schon kommen. Sie verehrt diese Gestalt. Ohne es genauer erklären zu können, ist sie geradezu von ihr besessen.

      Ganz in Gedanken kommt sie an der bescheidenen Hütte ihrer Eltern an. Als sie über die Schwelle tritt, flattert das Federvieh in der Stube aufgeregt auseinander. Die Tiere waren gerade dabei, die Brotkrumen und Getreidekörner aufzupicken, welche beim Kochen heruntergefallen waren. Der Vater ist nicht zu Hause. Er treibt die drei Schweine, welche der Familie gehören, in den Wald, damit sie dort Eicheln und Bucheckern fressen. Die Mutter sitzt im trüben Licht, das durch ein winziges Fenster fällt, an ihrem Spinnrad und arbeitet.

      Einen Moment betrachtet Criste ihre Mutter. Sie weiß, dass auch sie später einmal ihr Geld mit dem Spinnen verdienen wird. Meist übernehmen die Kinder die Arbeit ihrer Eltern. Doch jetzt möchte sie sich keine Gedanken über ihre Zukunft machen. Sie ist viel zu aufgeregt, um das eben Gehörte für sich zu behalten.

      „Mutter!“, stößt sie deshalb laut hervor. „Wusstest du, dass morgen schon Frau Percht zu uns kommt?“

      Ihre Mutter treibt ungerührt das Rad weiter an und antwortet nicht.

      „Mutter, hast du nicht gehört? Frau Percht ist bestimmt schon auf dem Weg hierher.“ Plötzlich liegt ein besorgter Ton in ihrer Stimme. „Bitte, lass das Spinnrad ruhen.“

      Lange erwidert die Mutter nichts, so dass Criste schon glaubt, keine Antwort mehr zu erhalten.

      Da endlich erhebt die Angesprochene ihre Stimme: „Warum sollte ich das tun?“

      Fassungslos starrt Criste sie an.

      „Aber Mutter. Du weißt doch, dass die Urgöttin die Schutzpatronin der Spinnerinnen ist. Gewiss wird sie auf dich ein besonderes Auge haben. Und wir haben doch gelernt, dass zwischen den Jahren die Arbeit ruhen soll. Dass kein Rad sich drehen darf. Frau Percht wird dich sonst bestrafen!“

      Die Mutter lacht bitter auf.

      „Ach, und das glaubst du? Soll ich dir etwas sagen? Dieser Glaube an die alten Götter ist gut. Er ist sogar sehr gut für uns. Und weißt du weshalb? Die anderen Spinnerinnen machen sich vor Angst in die Hosen. Sie lehnen alle Aufträge ab, die sie während dieser Jahreszeit erhalten. Und das ist von Vorteil für uns. Denn ich schere mich nicht um dieses Gerede. Ich übernehme die Arbeiten und verdiene Geld für unsere Familie.“

      Einen Moment ist Criste sprachlos, dann sagt sie leise, fast flehentlich: „Mutter, bitte, folge den alten Gesetzen. Ich habe Angst, wenn du dich nicht daran …“

      Voller Gram fährt die Mutter sie an: „Ist es dir lieber, wenn wir im Winter verhungern? Ohne meine Einkünfte würde es nicht mehr jeden Tag warme Suppe geben. Was hat mir der alte Glaube gebracht? Ich hatte acht Kinder. Und nur drei von ihnen haben ihre ersten Jahre überlebt. Soll ich der Urmutter dafür danken?“

      Criste wird still. Es war jedes Mal ein großes Leid, wenn wieder eines ihrer kleinen Geschwisterchen leblos in den Armen der Mutter lag. Oft mussten sie zuvor lange leiden. Husten und Fieber schüttelten die kleinen dünnen Körper, ehe sie endlich in der Geborgenheit der mütterlichen Arme entschlafen durften. Sie kann ihrer Mutter nichts entgegnen. Sie kennt den Schmerz in ihren Augen und weiß, wie die vielen Verluste und Entbehrungen aus der lustigen jungen Schönheit eine verbitterte, harte Frau machten. Und so geht das Mädchen nach hinten und mistet schweigend den Verschlag für die Schweine aus.

      ****

      Der nächste Tag verläuft zunächst wie jeder andere auch. Nach dem Aufstehen geht jeder seiner Arbeit nach. Criste ist kaum mehr in der Lage, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Immer wieder wirft sie einen nervösen Blick zur Haustüre. Stunde um Stunde vergeht, und draußen wird es immer düsterer. Verzweifelt überlegt Criste, wie sie Frau Percht zu Augen bekommen kann. Sie möchte ihr unbedingt einmal gegenüberstehen. Doch bisher war es ihr noch nie vergönnt, sie persönlich zu sehen. Wenn sie nur hinaus käme auf die Straße! Dann könnte sie Frau Percht beobachten, während diese ihre Runde dreht. Sie müsste nur aufpassen, dass die Urmutter sie nicht sieht. Denn es widerstrebt der Göttin, wenn man ihr nachstellt.

      Die Chance sich auf die Lauer zu legen kommt, als ihre Mutter befiehlt: „Criste, geh nach draußen und kämme mir ein neues Bündel Wolle. Dann kann ich morgen gleich in der Früh mit der Arbeit beginnen.“

      Schnell legt Criste das Messer zur Seite, mit dem sie gerade Kartoffeln schält. An der Tür umwickelt sie ihre Füße mit Stofflumpen; es ist noch kälter geworden und sie hat Angst, ihre Füße könnten Erfrierungen erleiden. Der einfache Kittel, den sie trägt, bietet kaum Schutz vor den tiefen Temperaturen, doch sie darf sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ihr Frieren ignoriert sie heute gerne. Seit sie denken kann, möchte sie Frau Percht persönlich sehen. Und jetzt darf sie diesen günstigen Moment nicht verstreichen lassen. Egal, zu welchem Preis. Flink schlüpft sie durch die Türe, schließt diese fest hinter sich, und eilt dann, ohne einen Blick zurückzuwerfen, so schnell ihre in Lumpen gewickelten Füße sie tragen, durch die dunkler werdenden Straßen.

      In einer Nische zwischen zwei Häusern bleibt Criste stehen. Peinlich achtet sie darauf, von niemandem entdeckt zu werden. Sobald jemand näher kommt, drückt sie sich tiefer in die Schatten. Allerdings sieht sie immer zu, dass ihr der Blick auf die Straße, welche in das Dorf hineinführt, nicht eine Sekunde versperrt wird. Mit dem Warten schweifen ihre Gedanken zur Mutter und zu ihrem eigenen Leben. Noch ist Criste ein Kind und muss sich nicht um ihr Dasein kümmern, doch beim nächsten Vollmond wird sie ihr zwölftes Lebensjahr vollenden. Damit wäre sie im heiratsfähigen Alter. Sie weiß, dass sie schlechte Aussichten hat, einen Mann zu finden, der gute Einkünfte erzielt. Nur die Mädchen, welche eine ordentliche Mitgift in die Ehe bringen, haben eine gewisse Wahl zwischen den jungen Männern. Die anderen werden gehandelt wie Vieh. Cristes Miene verdüstert sich. Wer wird sie zu sich nehmen? Sie wünscht sich so sehr einen liebevollen, kräftigen Ehemann, mit dem sie viele gesunde Kinder zeugen kann. Kinder, die mit strahlenden Gesichtern auf dem Boden der Stube spielen und ihr jeden Tag verschönen. Sie würde mit ihnen lachen und singen. Und auch in Hinsicht auf ihr Einkommen wären gesunde Kinder ein Segen. Wer gesund ist, kann arbeiten. Criste stößt einen tiefen Seufzer aus. Wenn man mich als robust und fruchtbar einschätzt, denkt sie, steigert dies meinen Wert als Ehefrau. Doch sie muss sich zugleich eingestehen, dass dies wohl nicht geschehen wird. Sie ist klein und mager. Ihr Becken ist so schmal gebaut, dass es kaum vorstellbar ist, sie könne Kinder gebären. Somit stellt sie kaum einen Wert dar. Sie wird annehmen müssen, was das Leben ihr bietet.

      Die Kälte kriecht ihr in die Knochen und lässt Criste in die Gegenwart zurückkehren, zum Grund ihres Hierseins. Sie ist gespannt, wie Frau Percht in Wirklichkeit aussieht, wie sie sich verhält. Sie fürchtet sich bis ins Mark. Und trotzdem kann sie nicht anders, als hier zu warten. Gerne nimmt sie dafür die anstehende Bestrafung ihrer Mutter in Kauf.

      Die Geschichten, welche im Dorf über die Urmutter kursieren, lassen ihr Schauer über den Körper laufen. Sie soll den Menschen, welche ihre Gebote nicht einhalten, den Bauch aufschlitzen und ihn mit Unrat füllen. Bei dem Gedanken daran überkommt Criste pures Entsetzen, doch gleichzeitig auch eine schaurige Faszination. Diese und ähnliche


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