Römische Tagebücher. Alois C. Hudal
des südamerikanischen, von seinen Ordensbrüdern geleiteten Kollegs in den Prati wohnte. Eine hoheitsvolle Erscheinung, Gelehrter von Weltruf, huldvoll lächelnd mich zum Ringkuß zulassend. Sein Blick gefiel mir nicht, er hatte etwas an sich, das kein großes Vertrauen einflößen konnte. Von Pius X. wegen seiner Arbeit gegen die Gründung eines internationalen katholischen Geschichtsforschungsinstituts vom Vatikan ausgeschaltet, kehrte er nach dem Krieg wieder nach Rom zurück, wo er für seinen Nachfolger Achille Ratti Stimmung machte und schließlich den Purpur erhielt. Ehrle hatte, wie ich schon bei der ersten Aussprache bemerkte, keine feste nationale Haltung. Er schätzte Österreich nicht hoch ein, obwohl er wiederholt im Jesuitenkolleg von Feldkirch (Vorarlberg) die Verhältnisse beobachten konnte. Er hatte auch kein großes Verständnis für die nationalen Belange der Südtiroler. Es schien ihm selbstverständlich zu sein, daß diese armen, vom deutschen Mutterlande gegen die Versprechungen Wilsons abgetrennten Menschen ihre völkischen Forderungen der deutschen Jugenderziehung, des Unterrichts in der Muttersprache den Interessen der Weltkirche, in diesem Falle Italiens, unterordnen müßten. Er war Römer geworden, der delikaten Fragen und Problemen auf Umwegen auszuweichen suchte. Zwischen uns beiden hat seit dem Kampf um das Rektorat eine Isolierschicht bestanden. Ich klagte diesem Ordensbruder im Purpur meine Anfangsschwierigkeiten, da mit der Anima auch die Vertretung fast aller reichsdeutschen und österreichischen Bistümer bei den päpstlichen Verwaltungsbehörden verbunden war. Ehrle, der Rom aus einem jahrzehntelangen Aufenthalt kannte, gab mir aber einige treffliche Worte: „Italiener haben uns Deutschen gegenüber allerlei voraus. Sie nehmen nichts tragisch und nichts gründlich. Sie weichen, solange als möglich, grundsätzlichen Lösungen aus. Das ‚arrangiare, combinareund dilatare‘11a) ist ihre große Weisheit in der obersten Kirchenleitung. Sie lassen die Zeit arbeiten. Wir Deutschen müßten Gott danken, daß wir nicht zur Regierung der Kirche berufen wurden. Mit unserem Organisationsfanatismus, mit Statistiken und unserer nationalen Eigenart der Gründlichkeit des ‚andare in fondo‘11b) alles ordnen zu wollen, Fragen und Probleme wissenschaftlich bis in die letzten Schlußfolgerungen auszudenken, eigene Auffassungen anderen aufzudrängen, hätten wir eine Weltkirche, die auf so viele Nationen Rücksicht nehmen muß, nur in die größten Schwierigkeiten gebracht. Der Deutsche ist religiös gründlicher als der Italiener, denn er sucht Probleme, wo sie nicht vorhanden oder nicht zu lösen sind, aber gerade seine Kritiksucht macht ihn nicht geeignet, einen so komplizierten Mechanismus, wie es der römische Katholizismus ist, ruhig und ausgleichend ohne Erschütterungen und gewaltsame Lösungen zu regieren.“
Die Worte dieses alten Kirchenfürsten, der fast fünfzig Jahre in Rom, wenn auch in erster Linie unter den Bücherschätzen der Vatikanischen Bibliothek, verbracht hatte, sind mir eine große Lebensweisheit geworden, so betrübend ich ihren Hintergrund empfinden mußte. Leider hat später gerade dieser den Einflüsterungen nicht unzugängliche Kardinal mir hinter den Kulissen viele Schwierigkeiten in der Leitung von Kolleg und deutschsprachiger Gemeinde bereitet, da er sein Vorurteil gegen Österreich nicht ablegen konnte. Ich eilte durch das Quartiere del Rinascimento — die sogenannte Spina, die damals noch beide Borghi voneinander trennte, sie war noch nicht niedergelegt — zum Vatikan. Glanzvolle Kardinalspaläste, die noch im Verfall und ihrer Verwahrlosung vom Reichtum ihrer einstigen Bewohner zeugten, dagegen armselige menschenunwürdige Schaluppen — Slums, in denen dicht zusammengedrängt oft bis zu sechs Menschen in wenigen Räumen arbeiten, essen und schlafen mußten, manche vielleicht zufrieden mit ihrem niedrigen Lebenskomfort oder wenigstens lethargisch geworden, rückständig auf sozialem Gebiet. Es kann im 16. Jahrhundert, als die Erbauer der Paläste hochherzige Mäzenaten der Kunst waren, nur noch schlechter gewesen sein, als Luthers Schatten die verweltlichte Kirche zu stören begann. Traumverloren schreite ich durch dieses Viertel mit engen Gassen und dem finsteren Borgo, vorbei am Hause des Arztes Leos X., noch einige wenige Schritte und die Kolonnaden Berninis mit dem unvergleichlichen Petersplatz sagen mir, daß ich nunmehr auf heiligem Boden stehe, wo jede Kritik verstummen soll. Ich eile nach St. Peter. Phantastisch strömt das Licht von der Kuppel in alle Arme des Baues. Es ist schwierig, hier innig zu beten. Ich gehe von einem Grabdenkmal der Päpste zum anderen und blicke zur Decke. Die Raumwirkung ist befreiend von jeder irdischen Schwere. Ich suche einen stillen Winkel, um dem Apostelfürsten oder irgendwelchem der ungezählten hier begrabenen Heiligen betend meine Aufgabe in Rom als Leiter der deutschen Nationalstiftung anzuvertrauen. Heute empfing mich Kardinalprotektor der Anima Merry del Val, ihm und dem Geschichtsschreiber der Päpste Baron Pastor hatte ich in erster Linie meine Ernennung zum Rektor zu verdanken.
Fast jedes Institut in Rom hat einen Kardinalprotektor. Der erste in der Geschichte der Anima war der Neffe Papst Pauls II., Marco Barbo, 1469, der auch der Bruderschaft der Anima angehörte und die deutschen Verhältnisse aus der Zeit seiner Kardinalslegation kannte. Viele erlauchte Namen folgen in den Jahrhunderten — unter anderen, um nur einige Namen zu nennen, Otto Truchsess von Waldburg (Bischof von Augsburg), Madruzzo-Trint, Colonna, Scipione Borghese, Alessandro Albani, Harrach, Kollonitsch, Herzan. Einige von diesen waren auch beim Vatikan Protektoren der deutschen Nation, Deutschlands oder der österreichischen Erblande.
Merry del Val war eine wahrhaft fürstliche Erscheinung. Trotz gegenteiliger Behauptungen, die in Rom verbreitet wurden, eine Persönlichkeit von hoher Geistigkeit. Er war eine glückliche Mischung und Verkörperung des Spanischen, Englischen und der Romanität. Deutschland liebte er nicht seit den üblen Erfahrungen als Staatssekretär Pius’ X. mit der Borromäus-Enzyklika und dem zurückgezogenen Modernisteneid der Theologieprofessoren. Beide mußten über Druck der preußischen Vatikanvertretung und des Berliner Auswärtigen Amtes zurückgezogen werden. Alles, was die spitze Zunge des römischen Pasquino („Merry del Val non val12)“ über diese Persönlichkeit sagte, war böswillige Kritik. Wohl konnte ein Großinquisitor des mittelalterlichen Spanien nach den Gemälden von El Greco und dem Roman Dostojewskys kein anderes Profil gehabt haben, in dem alles Würde und Strenge ohne Kompromisse war. Von diesem Fürsten der Kirche hätte ich, auch wenn ich ihm nicht zu Dank verpflichtet wäre, nur den besten Eindruck erhalten. Rede, Gesichtsausdruck, vornehme Erziehung, Würde und Liebenswürdigkeit wirkten harmonisch in ihm zusammen. Gegenüber so vielen anderen, die ich kennenlernen mußte, ein kirchlicher Grandseigneur auch in der aufrichtigen Gesinnung des Wohlwollens. Dem Wunsch seines Geheimsekretärs Monsignore Canali, der von Papst Benedikt XV., seinem Rivalen, bald nach der Wahl infolge des Wechsels der Vatikanpolitik aus dem Amt eines Substituten im Staatssekretariat entfernt worden war, konnte ich später nicht entsprechen. Er bat mich, die Geschichte Merry del Vals als Staatssekretär zu schreiben. Da wegen des Amtsgeheimnisses nur wenige Urkunden des Vatikanarchivs zur Verfügung gestellt werden konnten, mußte ich diese ehrenvolle Aufgabe ablehnen, um nicht einen Panegyricus ohne wissenschaftlichen Wert verfassen zu müssen. Merry del Val war auch eine wohltuende Ausnahme gegenüber den gewöhnlichen Kardinalprotektoren religiöser Institute in Rom. Er nahm diese Aufgabe nicht als eine Förmlichkeit, sondern als persönliche Verantwortung. Noch über Wunsch der österreichischen kaiserlichen Vatikanbotschaft zum Protektor der Anima ernannt, hat er nach 1923 wesentlich geholfen, die Rechtsansprüche der Belgier und Holländer zu klären.
Durch Kardinal Merry del Val wurde ich bald nach meiner Ernennung zum Rektor der Anima in die höchste römische Behörde, das Heilige Offizium, berufen, der ich stets in tiefer Dankbarkeit gedenke, nachdem ich die Ehre hatte, über 35 Jahre dieser als Berater angehört zu haben. Schwerwiegende Entscheidungen gingen in diesen langen Jahren durch unsere Hände. Verurteilung der Action francaise; Massenübertritte ganzer serbisch-orthodoxer Orte zum Katholizismus, um dadurch der gewaltsamen Ausrottung durch die Ustascha-Truppen des Kroatenführers Pavelič zu entgehen; Priesterweihe für zur Kirche heimkehrende protestantische Pastoren, die verheiratet waren und deshalb nicht zum Zölibat verpflichtet werden konnten; Befreiung verunglückter Priester, die als das Opfer von Beichtvätern und einer rückständigen Seminarerziehung trotz sexueller Schwierigkeiten in diesen Beruf hineingeraten sind — weitherzig, eines wahren obersten Seelenhirten war die Haltung Pius‘ XII., wenn solche Fälle ihm vorgetragen wurden, meistens unerhörte seelische Tragödien — besonders in Italien zählte man mehrere Tausende; die Verurteilung des politischen Kommunismus, mehrere