Göttinnen, Götter, Mythen. Christiane Lutz

Göttinnen, Götter, Mythen - Christiane Lutz


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damit du lebst« (Clarus1979, S. 6). Das Gericht selbst spielt hier die Rolle der Instanz, mit der man sich nach bestandener Prüfung verbindet, um weiterzuleben wie die Götter.

      Das Streben nach einer gerechten inneren und äußeren Ordnung und des Kreislaufs von Leben und Sterben wurde damals mit dem Konzept der Maat verwirklicht. Auch heute noch findet man in den archetypischen Träumen von Jugendlichen diesen Wunsch nach innerer und äußerer Orientierung, umso mehr, als es unsere heutige Zeit schwer macht, einen gradlinigen Weg zu finden.

      Ich sitze im Auto und fahre. Vor mir rennt ein Vogelstrauß in hoher Geschwindigkeit. Er läuft zick-zack und ich sehe die gebauschten schwarzen Federn. Ganz kurz überlege ich, ob ich ihn überholen kann, lasse es dann aber. Ich träume, dass die Sonne immer von unten hochkommt, wie wenn sie einmal unter der Erde unten durch muss. Sie steht nicht von allein oben.

      Im Traum des Zwölfjährigen muss das Autofahren symbolisch verstanden werden als Versuch, mit den hereindrängenden Triebimpulsen mit dem Leben autonom zurecht zu kommen. Beeindruckend ist in diesem Traum, dass er ohne Wissen das archetypische Bild der Nachtmeerfahrt der alten Ägypter beschrieben hat. Nach ihrer Vorstellung ging die Sonne in Gestalt des Chepre auf, war mittags Re, die Sonne im Zenit und wurde abends zu Atum. Dann vollzog die Sonne ihren Weg durch das Dunkel der Nacht im beständigen Kampf mit der Schlange Apophis, die sie zu verschlingen drohte, um dann am Morgen erneut aufzuerstehen.

      Ich scheute mich vor einer Interpretation, zu sehr war ich von der Kongruenz des Traumes mit dem archetypischen Bild beeindruckt. In der individuellen Verstrickung der Krisenzeit der Pubertät stand ja auch vor ihm die Aufgabe, sein Ichbewusstsein zu festigen und zu einer Individualität zu formen.

      Die Maat vertritt also Werte wie Struktur, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Sie vermittelt als Göttin und als Symbol die Notwendigkeit ein der göttlichen Ordnung entsprechendes Leben zu führen. Dieser objektiven Gesetzlichkeit waren die Menschen, ebenso wie die Vertreter der Göttlichkeit auf Erden, Pharao und seine große Königsgemahlin unterworfen.

      Maat wird entweder als Göttin mit einer Feder auf dem Haupt oder als Feder selbst dargestellt. Ihr obliegt die Aufgabe, beim Totengericht das Gegengewicht zum Herzen des Verstorbenen zu bilden. Wiegt sie in Ihrer Leichtigkeit schwerer als das Herz, darf der Tote in der Vereinigung mit Osiris weiterleben. Ist das Herz schwerer, hat der Tote nicht nach der Maat gelebt und ist damit dem ewigen Tod überantwortet. Dahinter steht der den Ägypter ein Leben lang begleitende Aufruf, mit dem Kosmos, der Außen- und der Innenwelt im Gleichgewicht zu leben. Dann kann das Herz leicht wie eine Feder sein.

      Äußerlich wird dieses innere Gleichgewicht als Ausdruck der subjektiven und objektiven Wahrheit sichtbar in der Verbindung der polaren Gegensätze, im göttlichen Brüderpaar Osiris und Seth, aber auch nachfolgend in Horus, dem Sohn von Isis und Osiris, und Seth.

      Wer diesen Zustand des inneren Gleichgewichtes zwischen zwei sich widerstreitenden und gleichzeitig zusammengehörigen Lebenseinstellungen immer neu als diese innere Wahrheit begreift, hat einen Zustand der Leichtigkeit des Seins erreicht. Dieser wiederum verkörpert sich in der Maat, die in ihrer Leichtigkeit und Schwere wiederum Gegensätze vereinigt, der Sinn oder Un-Sinn eines Menschenlebens symbolisch umschließen.

      Im Totengericht steht der Verstorbene im Mittelpunkt. Für ihn wird sich in dieser Konfrontation herausstellen, ob er weiterleben wird oder sein Herz dem schrecklichen Untier Ammit zum ewigen Untergang vorgeworfen wird.

      2.1.2 Das Totengericht mit Anubis, Thot und Ptah

      Der Schakalgott Anubis, seine bildhafte Darstellung und seine Rolle bei der Herzenswägung zeigt die große Fähigkeit der Ägypter unterschiedliche Aspekte eines Gottes in verschiedenen Facetten und Erscheinungsformen darzustellen, um sein Wesen zu erfassen. Anubis war der Gott des Jenseits, der Gräber und der Mumifizierung. »Dargestellt als schwarzer Canide (»Schakal«) oder in Mischgestalt von »Hundskopf« und Menschenleib.« (Hornung 2011, S. 282)

      Der Schakal als Wüstentier und Aasfresser, der um die Gräber schlich, mag den Ägyptern als Charakteristikum gegolten haben dafür, dass dieser Gott in seiner Präsenz im Reich der Vergänglichkeit auch als Schutzgott und Wächter dient. Die Verbindung von tierischen und menschlichen Eigenschaften waren Ihnen auch im Spiegel der göttlichen Zugehörigkeit wichtig.

      Beim Totengericht, das vom einbalsamierenden Gott Anubis vorgenommen wurde, führt der Gott Thot unerbittlich Buch. Während dieses Vorgangs legt der Tote das sogenannte negative Sündenbekenntnis ab, Sätze, die in ihrem Wortlaut nicht verändert werden dürfen:

      Gruß dir, du Größter Gott, Herr der Vollständigen Wahrheit!

      Ich bin zu dir gekommen, mein Herr,

      ich bin geholt worden, um deine Vollkommenheit zu schaun.

      Ich kenne dich, und ich kenne deinen Namen,

      ich kenne die Namen dieser 42 Götter, die mit dir sind in dieser Halle der Vollständigen Wahrheit, die von denen leben, die zum Bösen gehören, und sich von ihrem Blut nähren an jenem Tag, an dem Rechenschaft abgelegt wird vor Osiris

      Ich habe keinen Gott beleidigt.

      Ich habe kein Waisenkind um sein Eigentum gebracht.

      Ich habe nicht getan, was die Götter verabscheuen.

      Ich habe keinen Diener bei seinem Vorgesetzten verleumdet.

      Ich habe nicht Schmerz zugefügt und ich habe niemanden hungern lassen,

      ich habe keine Tränen verursacht.

      Ich habe nicht getötet,

      und ich habe (auch) nicht zu töten befohlen

      niemanden habe ich ein Leid angetan.

      Ich habe die Opferspeisen in den Tempeln nicht vermindert

      und die Götterbrote nicht angetastet;

      ich habe die Opferkuchen der Verklärten nicht fortgenommen.

      (Naville 1886)

      Wurde das Herz bei diesen Worten leicht befunden, wurde der Tote Osiris übergeben, sodass er jetzt ewig in der Vereinigung mit dem Totengott in einer anderen Form weiterleben durfte. War das Herz zu schwer, wurde der Tote der ewigen Verdammnis überantwortet und von Ammit, gefressen. Dieses stets lauernde Ungeheuer, mit dem Maul eines Krokodils, dem Vorderteil eines Löwen oder Leoparden und dem Hinterteil eines Nilpferdes war in ihrer Dreiheit Repräsentantin der gefürchtetsten Tiere Ägyptens. Gerechtigkeit aber auch Furcht und Schrecken begleiteten das Totengericht.

      Ein Schlüssel, um die Vielschichtigkeit dieser Übergangssituation zu verstehen, bietet sich über die Symbolik der Götterfiguren an, die unter der Dominanz der Maat die Herzenswägung durchführten.

      Zum einen ist es Anubis, der schakalköpfige Gott. Ein letztlich minderwertig erscheinendes Tier wird zum unerbittlichen Prüfer eines gelebten Lebens. Im negativen Sündenbekenntnis wird deutlich, dass es hierbei nicht allein um ein gerechtes Leben geht. Es liegt gleichermaßen das Gewicht auf emotionale Qualitäten und den Umgang mit Triebimpulsen. Vielleicht ist dieser Gott darum wesentlich, weil er seinen »hündischen« Charakter mit göttlicher Ordnung in Einklang gebracht hat.

      Anubis ist auch der Seelenbegleiter der Führer, der dem Verstorbenen bei seinem Weg in das Weiterleben beisteht.

      Hier zeigt sich der wohlwollende, zugewandte Aspekt des Anubis und auch des Totengerichts. Man tritt hier vor keinen Richter, der ein Urteil fällt, sondern man selbst muss in eigener Verantwortung Rechenschaft ablegen, dass man in seinem Leben seinem fühlenden Herzen gefolgt ist. In der Herzenswägung stellt sich dann heraus, ob die Balance, das Gleichgewicht stimmt, das dann die Kontinuität des Fortbestehens sichert und über die Vereinigung mit dem Gott in die Erneuerung mündet. Nicht die Eindeutigkeit von richtig oder falsch, von gut oder schlecht ist wichtig, sondern das Gleichgewicht zwischen zwei Seins Zuständen, der menschlichen und der göttlichen Ordnung. Die menschliche Ordnung, symbolisiert im Herz, stellt die Frage, ob Mitgefühl und liebende Verbundenheit das Leben prägten. Die göttliche


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