Göttinnen, Götter, Mythen. Christiane Lutz

Göttinnen, Götter, Mythen - Christiane Lutz


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beim Totengericht. Zusätzlich wird dieser Gott auch in Gestalt eines Pavians verehrt.

      Damit könnte auf einer anderen Ebene in gleicher Weise wie bei Anubis die Verbindung von Gegensätzen angedeutet sein, deren Verbindung ein sinnvolles Leben auszeichnet.

      Das Leben als Vorbereitung für einen gelingenden Beginn im Jenseits war zentrales Streben der alten Ägypter, der Pharaonen, der Adeligen und der Handwerker, wie die zahlreichen vielfarbig ausgestatteten Gräber in Luxor beweisen. Das Leben in Gestalt der repräsentierenden Gottheiten war jedoch zusätzlich auch immer vom Moment des schöpferischen Gestaltens bestimmt: Das Vergehen des Lebens wurde immer auch in der Parallele zum Entstehen des Lebens gedacht und gefühlt: Der Schöpfergott Ptah formte die Menschen aus Lehm und stand damit sinnbildlich für Kreativität, die Fähigkeit, sich über diese Eigenschaft immer wieder neu zu erschaffen. Ist es nicht eine wichtige Erfahrung des Menschen, dass jede kreative Handlung, sei es in der Literatur, in der Musik oder im gestaltenden Tun einer Geburt gleicht, dem Gefühl einer Neuwerdung über das Erschaffene?

      Die Voraussetzung für jegliche kreative Neuwerdung ist jedoch die Fähigkeit, gegenläufige Befindlichkeiten anzuerkennen. Nach einer Phase des zur Ruhe Kommens kann sich in der Verbindung dieser polaren Kräfte etwas Neues entfalten.

      Ein schwarzer Stier. Links an seinem Huf liegt eine große schwarze Schlange. Er könnte sie zertreten, aber er steht ganz ruhig da und auch die Schlange rührt sich nicht.

      Dieser Traum wurde überraschender Weise von einem zehnjährigen Mädchen geträumt. Sie kam wegen selektivem Mutismus in die Therapie und gestaltete in vielen Stunden hochsymbolische Szenen im Sand, ohne ein Wort zu reden. Über die Symbolik fanden wir eine Brücke, indem meine Beschreibungen und Interpretationen jeweils von einem Kopfnicken oder -schütteln beantwortet wurden.

      In kleinen Schritten konnten wir einen verbalen Austausch aufbauen. Schlüsselerlebnis war dieser Traum, den sie mir strahlend berichtete, als ob sie mir ein Geschenk überreichte. Als solches fasste ich es auf, wobei ich gleichzeitig spürte, dass jedes Reden darüber zu einem subjektiven Gefühl des Zerstörens führte, bei dem Mädchen ebenso, wie bei mir.

      Ich beließ es bei einer Ahnung, dass sich hier das Geheimnis der ägyptischen Haltung abbildete: Gegensätze, die sich gelten lassen. Vielleicht liegt in der gemeinsamen schwarzen Farbe das Wissen um Zusammengehörigkeit und Wandlungsmöglichkeit?

      Ein Zwölfjähriger, ganz vom Intellekt bestimmt, litt an einer gravierenden Reifungsdisharmonie. Konnte er rational argumentieren »wie ein Alter«, so die Eltern in einer Mischung von Bewunderung und Verzweiflung, war seine emotionale Entwicklung auf der Stufe eines Vorschulkindes stecken geblieben. In einer die Altersgenossen weit hinter sich lassenden sprachlichen Kompetenz genoss er es, die Klassenkameraden »fertig zu machen.« Diese antworteten mit Isolation und Ausgrenzung, was er rationalisierend bagatellisierte. Zuhause überfielen ihn jedoch depressive Verstimmungen und suizidale Fantasien.

      In der Therapie äußerte er mit einem gewissen Stolz, er habe zwei linke Hände und würde später sowieso alles mit seinem Kopf erledigen.

      Wie eine Antwort auf diese Äußerung, die ich zunächst nur hingenommen hatte, berichtete er wenige Stunden später folgenden Traum:

      Ein Baumstamm war mit den Wurzeln noch im Boden. Ich sah, wie aus diesem Stamm zwei Hände ragten, die einen Menschen formten. Danach war der Mensch von drei Seiten zu erkennen, von rechts, von links und von vorn. Hinten ging er in den halbrunden Stamm über.

      Selbst im Traum wird die Eloquenz des Träumers spürbar. Es gelang jedoch, dem Jungen zu vermitteln, wie wesentlich die praktischen Formkräfte in Gestalt der Hände seien, die ihm im Traum die enge Verbindung zur Natur zeigten. Auch er sei ein Teil dieser Natur, die Leben ermöglicht. Um die zugehörige vierte Seite des Menschen zu erkennen, muss man allerdings den gewohnten Standpunkt verlassen. Da wären die eigenen gestalterischen Kräfte zu entdecken, die wenig mit dem Intellekt und viel mit der eigenen Ganzheit zu tun haben.

      Ich merkte dabei, wie ich bei der Deutung dieses berührenden Traums auch in der Gefahr war, zu viel zu reden, wie im Bedürfnis, das Geheimnis der lebendigen Natur unter Beweis zu stellen. So verstummte ich im Vertrauen auf die heilenden Kräfte dieser archetypischen Begegnung, während der Junge zum ersten Mal in den vielen Behandlungsstunden längere Zeit schwieg.

      Zusammenfassung

      In der ägyptischen Kultur war die Zusammengehörigkeit von polaren Gedanken und Empfindungen, von Gott und Mensch selbstverständlich. So wurde das Mysterium vom Tod als Beginn eines neuen Lebens zu einem zentralen Inhalt, der die Rätsel unseres Seins transparenter macht. In der Polarität erfährt sich der Mensch bis heute in seiner göttlichen, kreativen, Leben erschaffenden Dynamik und gleichermaßen in seiner menschlichen leidvollen Begrenzung. Ein Pol bedingt den anderen, so wie die Gottesvorstellung nur über das Erleben und Erleiden des Menschseins gedacht werden kann.

      Literatur zur vertiefenden Lektüre

      Champollion, J.-F. (2007). Heilige Worte, Ägyptische Hieroglyphen, ihre Historie, Kultur- und Geistesgeschichte. München: Hugendubel.

      Clarus, I. (1979). Du stirbst damit du lebst. Die Mythologie der alten Ägypter in tiefenpsychologischer Sicht. Fellbach: Bonz.

      Kubisch, S. (2008). Das Alte Ägypten. Stuttgart: Konrad Theiss.

      Lutz, C. (2019). Im Einklang mit Menschen und Natur, eine individuelle und kollektive Herausforderung. In: Pfeifer, E. (Hrsg.). Natur in Psychotherapie und Künstlerischer Therapie Gießen: Psychosozial. S. 391–413.

      Shaw, J. & Nicoles, W. (Hrsg) (1998). Reclams Lexikon des Alten Ägypten. Stuttgart: Reclam.

      Teichmann, F. (1999). Die ägyptischen Mysterien: Quellen einer Hochkultur. Stuttgart: Freies Geistesleben.

      Teichmann, F. (2003). Der Mensch und sein Tempel: Ägypten. Stuttgart: Freies Geistesleben.

      Weiterführende Fragen

      • Wie ist die Tatsache zu verstehen, dass die Ägypter nicht im Kopf, sondern im Herzen die zentrale Schaltstelle menschlichen Seins lokalisierten?

      • Inwiefern kann eine Kenntnis der Symbolik die hohe Wertschätzung von Tieren erklären?

      • Unterstützt die analytische Psychologie die Theorie, dass polare Prinzipien sich berühren und darum nicht in einer sich ausschließenden Gegensätzlichkeit gedacht werden dürfen?

      • Findet sich für diese Hypothese eine Entsprechung in den Naturwissenschaften?

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