Andreas Dresen. Hans-Dieter Schütt

Andreas Dresen - Hans-Dieter Schütt


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Reisende Bruce Chatwin hat afrikanische Kinder nach ihren Sehnsüchten befragt, und sie erzählten ihm den Traum vom Kino, den ihnen die Eltern erzählt hatten, die ihn wiederum von ihren Eltern gehört hatten – denn diese sehr Alten waren die Einzigen, die je in die ferne Welt des Westens gereist waren, und dort gab es diese seltsamen Häuser, in denen es langsam dunkel wurde, und dann, aus der wundervollen Verteilung von Licht und Schatten, kam von einer großen, anfangs nur weißen Wand Bewegung in den Raum; aus einem unablässig flimmernden Strahl, der von ganz hinten über die Köpfe der Zuschauer auf besagte weiße Wand prallte, erwuchsen plötzlich lebendige Menschen.

      Kino. Die Geschichte des Mediums, seiner Mysterien, seiner Magie ist eine Geschichte der menschlichen Emanzipation von der Welt – um die Welt in Erfindungen, als Wunder und Wunde, neu zu begreifen. Immer ist das Kino jener enge düstere Raum, in dem aber ein Aufatmen stattfindet wie sonst nur in luftig-fernsten Weiten.

      Der österreichische Erzähler Christoph Ransmayr berichtet in seiner Reportage »The Last Picture Show« von einer vernichteten Gegend im Osten Sri Lankas, ruinös herüberragend aus den Zeiten des Krieges zwischen tamilischen Separatisten und der singalesischen Armee. Ein Mönch zeigt dem Schriftsteller das zerschossene, inzwischen grün überwucherte Kino von Pottuvil, zwischen dessen kaputten, verkohlten Stuhlreihen grasen die Wasserbüffel. »Wer weiß, sagte der Mönch, vielleicht werde das Kino eher wiedererstehen als sein versunkenes Heiligtum. Was sei schließlich schöner und leichter als ein Theater, dessen Krieger, Heilige und Könige, ja sogar Sturmfluten und Elefanten aus Licht! bestünden, aus nichts anderem als Licht.«

      In einem anderen Text schreibt Ransmayr über die irische Küstenlandschaft und beschwört mit ausschwingend heiterer Leidenschaft »Die dritte Luft«. Die erste Luft, die der Mensch benötige, enthalte »alle Gerüche und Geräusche des Anfangs, der engsten und geheimsten Umgebung, den Geruch der Wolljacke und der Haut der Mutter, den Klang ihrer Stimme, wenn sie aus dem offenen Fenster den Namen des Vaters in den Wind rief«. Die zweite Luft trage die »Gerüche und Geräusche der gesamten Küste«. Aber erst in der dritten Luft füge sich das Bild der Welt zum Ganzen, erst in der Luft der »Kinos und wohl auch rauchigen Pubs, der Luft der Geschichten und der Verzauberung des Lebens, verwandle sich beispielsweise ein ganzes Meer in ein einziges Wort, in eine Melodie, in Bilder, und rausche daraus wieder hervor«.

      Im westjordanischen Jenin wurde vor Jahren das Cinema Jenin wiedereröffnet, ein großes gesellschaftliches Ereignis. Es war, seit Mitte der fünfziger Jahre, das größte Lichtspieltheater der Westbank, es wurde von Bomben zerstört. Der deutsche Dokumentarfilmregisseur Marcus Vetter hat es in mehrjähriger Arbeit geschafft, ein Netzwerk der Spender, Helfer, Enthusiasten und Bauleute zu knüpfen – nun war der palästinensische Ort wieder zum Sinnbild und zugleich Faktum eines erfüllten Traums geworden. Kino, Kulturzentrum, Konzerthaus, die Kunst als Krönung einer Sehnsucht nach dem ganz alltäglichen Heil. Fotos vom Cinema Jenin zeigten junge Leute, auf dem Fußboden sitzend, die Augen aber am Himmel des laufenden Films; Babys an der Flasche, auf dem Schoß der Väter, die in diesem Moment des Zaubers auch Kinder waren.

      Die Welt bleibt zerrissen von dem Vielen, das Menschen uneins macht. Aber der Bau eines Kinos ist ein Friedenssieg.

      In Fellinis »Amarcord« ist es das Schwüle, fast ein wenig Verworfene eines Kinos von Rimini, wo die pubertär gierigen Blicke der Jugend zum Ausdruck so frecher wie frivoler, so angstmachender wie angstnehmender Sehnsüchte wird. Kino öffnet das Gemüt zur Welt, die eine schönere Welt sein möge, und in prophetischer Überspitzung dieser Veränderungskraft erwächst just das Kino sogar zur Richterstätte: Ein kleines französisches Lichtspieltheater ist der Ort, an dem Hitler, Goebbels und andere Nazigrößen bei einem Brandanschlag getötet werden. Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« adelt das Kino, indem dieses sich gleichsam zum Selbstmordattentäter macht. Ein Kino opfert sich für das, was nur im Kino wahr sein darf. Am Ort der leicht entflammbaren Herzen operiert jenes leicht entflammbare Material, aus dem Kino entsteht, als Vollstrecker einer nur im skurrilen Märchen möglichen Gerechtigkeit.

      Der Dichter Peter Handke beschrieb, wie er Anfang der sechziger Jahre Antonionis »La Notte« sah, im Zentrum von Graz, er stand danach »an einer nächtlichen Straßenbahnhaltestelle, und ich erlebte die steirische Stadt als eine Weltstadt, damals erfuhr ich, weil ich im Kino war, zum ersten Mal, weit über alle Selbstgefühle hinaus, so etwas wie ein Weltgefühl«.

      Es darf behauptet werden, dass solcherart unmittelbare Verwandlung wirklich nur das Kino schafft. Wo die Lust am Schauen, aber auch die Versunkenheit größer nicht sein können. Ist Theater die Demokratie des Auges, denn man kann die Bühne mit eigener Blickregie ausmessen, so bleibt das Kino eine Diktatur des Auges: Die Bilder bannen, der Blick der Kamera zwingt dich; im Theater bist du mit allen, im Kino jedoch bist du allein – typischerweise beginnt Kino damit, dass der Zuschauer, wenn es dunkel wird, ein wenig tiefer in den Sessel rutscht. Du verabschiedest dich von der Wirklichkeit. Man hat nach Ende der Vorstellung, in jenen ersten Augenblicken nach einem Kinofilm, der in uns eindrang, ein ganz anderes Verhältnis zum Draußen, zum Regen, zum Hochschlagen eines Mantelkragens, zu einem Schluck an einer Bar, zum Anzünden einer Zigarette (auch wenn man Nichtraucher ist) – man wähnt sich selber kurzzeitig in einem Film; »der atlantik passt jetzt in ein glas rotwein«, dichtete Albert Ostermaier, dessen Lyrik ohne Kino nicht denkbar ist.

      Also gehört zum Kinobesuch unbedingt – noch einmal Handke – dieses einmalige Nachher, »was für große Heimwege habe ich nach diesem und jenem Film erlebt, was für wunderbare Heimwege. Mit nichts auf der Welt hat es für mich solche Heimwege gegeben wie zuzeiten nach dem Kino. Heimwege, wo das Daheim das Weggehen war, ziellose Heimwege, weiter und weiter. Psalm also des Zuschauers an die Kinogötter: Weitere Filme für weitere Heimwege!«

      In Woody Allens »Purple Rose of Cairo« verlässt eine Filmgestalt die Leinwand, es ist dies ein romantisches, heiteres Wechselspiel zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Für kitzlig verwirrende Sekunden verfielen wohl auch Zuschauer im US-amerikanischen Aurora, im Vorort von Denver 2012, bei der Vorführung von »The Dark Knight Rises«, einer Illusion: nämlich, dass jener Mann, der da bewaffnet das Kino betrat, ein Werbeclou sei, eine Verlängerung des künstlich Dämonischen im Film in die schöne Aufgekratztheit einer Premierenshow. Einer mit Gasmaske, da am Seitengang – ähnlich der Maulkorbmaske des Bösewichts im Film. Und im Kino war es dunkel wie auf der Leinwand – die Nachtfarbe als drohende Grundstimmung des Batman-Streifens. Stimmig, so nennt man das. Es war ein – Amoklauf. Der Mörder rief: »Ich bin Joker, der Feind Batmans!« Zwölf Tote. Und jenes Musical-Theater in Moskaus, in dem vor Jahren tschetschenische »Schwarze Witwen« ein Selbstmordattentat verübten, es war zwischenzeitlich – ein Kino.

      Dennoch und trotzdem! Heimwege! Lob des Kinos! Kino möge bleiben: ein Wesen mit Seele. Gut, dass die immer wieder nachwächst und solch ein Feld also nicht nur der Hydra überlassen bleibt. Wo eh schon so viel verloren ist: der Eismann zwischen den Reihen, oder: dass das Wort vom »Landfilm« ein besonderes war, ein Freudenruf war das (»Der Landfilm kommt!«), ein Sonntagswort wie Gottesdienst, nur erlaubte dies Heilige – lange her – auch das Klappern mit den Stühlen und altmodische Zwischenrufe wie »Ah!« und »Oh!«. Kino wie Leben: Sie bestehen aus Momenten, wenn der Film reißt; aus Orten, wo die Rollen gewechselt werden; sie haben Schnitte ins Bewusstsein; kennen das Aufblenden der Hoffnungen – kurz vor dem Abspann, der dann alles ganz anders besiegelt.

       6.

      Einmal drehten die Lumières eine verreisende Familie auf dem Bahnhof. Die Zuschauer hoben abwehrend und unter Schreien die Arme, als sie Menschenmassen und vor allem die Lokomotive bedrängend auf sie zukommen sahen. Die ewige Kraft des Kinos: Fiktion als Wirklichkeit. Wenn das Kino der Bahnhofszene also eines lehrt: Zukunft beginnt mit der Furcht davor. Und es ist gewiss kein Zufall, dass einer der Kurzspielfilme, die Andreas Dresen während seines Studiums in Babelsberg drehte, wesentlich mit Kino und Bahnhof zu tun hat: »Zug in die Ferne«. Sechs Personen warten in Potsdam-West nicht auf einen Autor, sondern auf den Vorortzug. Aber zuerst wird ein anderer Zug durchrauschen: ein Transitzug nach Paris. Die Realität des Nahverkehrs und die Sehnsucht nach dem Fernverkehr. Nahverkehr: ewige Verspätung. Fernverkehr: ewiges Ausbleiben. DDR 1989.

      Eine Groteske mit Typen: Ein Mädchen


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