Demenz - Wenn das Leben entgleitet. Prof. Dr. Gabriela Stoppe

Demenz - Wenn das Leben entgleitet - Prof. Dr. Gabriela Stoppe


Скачать книгу
der anderen Seite bin ich der Meinung, dass wir die Gestaltung unserer Gesellschaft selbst in der Hand haben. Wir können durch unser politisches Engagement oder unser Wahlverhalten durchaus beeinflussen und mit darüber entscheiden, auf welche Weise man sich um die älteren Menschen kümmert. Man muss nur anfangen, etwas zu tun. Wie viele Möglichkeiten sich dafür bieten, für sich selbst, aber auch für andere etwas zu tun, will ich im folgenden Buch aufzeigen. Ich will damit Mut machen, uns für die Kranken, aber auch für den damit einhergehenden nötigen gesellschaftlichen Wandel einzusetzen.

      Es ist schon verrückt, dass die größere Beachtung der Demenzkrankheiten zusammenfällt mit einer derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Selbstbestimmung immer wichtiger wird. Könnte es sein, dass beide Dingen zusammenhängen? Könnte es nicht sein, dass eine Gesellschaft, die das selbstbestimmte Leben bis zuletzt für die einzig würdevolle Variante unserer menschlichen Existenz hält, gerade das Leben am meisten fürchten muss, das sie eben nicht mehr selbst bestimmen kann?

      WAS IST WÜRDEVOLLES LEBEN?

      WENN ICH IMMER WIEDER HÖRE UND LESE, dass nur ein selbstbestimmtes Leben das einzig würdevolle Leben ist, heißt das dann im Umkehrschluss, dass Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit oder Hilflosigkeit unwürdig sind? Wir Menschen sind immer abhängig: Wir starten als Kind bzw. Baby in größter Abhängigkeit von unseren Müttern und Eltern, später sind wir von ihnen abhängig, weil wir von ihnen Sicherheit, Nahrung und Bildung erhalten. Und wenn wir erwachsen sind, wünschen wir uns liebevolle Beziehungen, Berührungen und natürlich Herausforderungen. Über alle Lebensalter hinweg brauchen wir Sicherheit, Nahrung und mehr Dinge, die uns die anderen gewähren. Es gibt keine Unabhängigkeit von anderen Menschen – und der Mensch will sie auch nicht, er ist dazu nicht gemacht. Er entwickelt sich in Beziehungen.

      In diesem Zusammenhang gewinnt die aktuelle Einsamkeitsdebatte an Aufmerksamkeit. Gerade in den entwickelten Gesellschaften und dort besonders im städtischen Bereich sind viele Menschen einsam. Einsamkeit ist das quälende Bewusstsein eines inneren Abstands zu den anderen Menschen und die damit einhergehende Sehnsucht nach Verbundenheit in befriedigenden, sinngebenden Beziehungen. Dies bedeutet, dass einsame Menschen darunter leiden, dass ihr Leben keine Resonanz erfährt. Sinnkrisen sind die Folge. Inzwischen kennt man auch die schädlichen Auswirkungen von Einsamkeit, die zum Beispiel für das Herzkreislaufsystem genauso schädlich wie das Rauchen ist.

      Wofür steht nun dieser überhöhte Gedanke der Autonomie, dieser Prozess, der gerade stattfindet? In der Schweiz, in der ich derzeit lebe, gibt es eine relativ liberale Regelung der Sterbehilfe. Viele wünschen sich diese Option, verbunden mit der Vorstellung, selber bestimmen zu können, wie es zu Ende geht. Immer wieder treffe ich aber auch auf Angehörige, die nicht wollen, dass die Mutter oder der Großvater ihrem Leben ein Ende setzen. Natürlich ist es für sie nicht leicht, die Krankheit oder das Leiden der Eltern oder Großeltern mitzuerleben. Aber sich davon zu machen und damit die Familie zu verlassen, ist das wirklich die Lösung?

      Sicher müssen wir in Anbetracht des medizinischen Fortschritts die Frage diskutieren, ob es eine Lebenserhaltung um jeden Preis geben muss. Innerhalb der Medizin findet dies schon statt.

      Zu einer Demenzkrankheit gehört, dass wir unsere Orientierung in der Welt verlieren. Somit bedroht die Demenz gewissermaßen per definitionem unsere Selbstständigkeit, unsere Kontrolle und Autonomie. Die Demenz steht für mich so gesehen symptomatisch für das Gegenteil dessen, worauf man in unserer heutigen Zeit so großen Wert legt – nämlich darauf, alles unter Kontrolle zu behalten. Sie ist somit wohl die paradigmatische Krankheit unserer Zeit und löst damit in gewisser Weise den Herzinfarkt ab.

      FILME UND LITERATUR ZUR DEMENZ

      ICH BIN IMMER WIEDER BEEINDRUCKT, wie sich das Thema Demenz und der schwierige Umgang damit auch in den Medien widerspiegelt. Erste Filme dazu waren in England »Iris« und in Deutschland »Mein Vater«. Der Film »Iris« zeigt das Leben einer bekannten englischen Schriftstellerin, die stets eine Meisterin des Wortes gewesen ist. Ausgerechnet sie bemerkt an sich zunehmende Symptome einer Demenz – sie kann nicht mehr schreiben und bei öffentlichen Auftritten ist sie überfordert. Ihr Ehemann – die gemeinsame Liebesgeschichte wird im Film immer wieder in Rückblicken gezeigt – bewundert sie sehr und unterstützt sie darin, möglichst nicht aufzufallen. Beide holen sich so gut wie keine Hilfe, wobei man vermuten kann, dass der Ehemann froh ist, dass er seine Frau endlich »nur für sich« hat. Eine Szene zeigt schließlich einen ratlosen Polizisten und einen beeindruckten Arzt, als diese erstmals in die Wohnung kommen. Der Zuschauer hatte schon mitverfolgen können, dass der Haushalt – eindrucksvoll und bedrückend – immer mehr verwahrlost ist, bis Polizei und Arzt auf den Plan treten. Zum Schluss geht Iris in ein Pflegeheim. Die Dramatik dieses Films besteht unter anderem darin, zu zeigen, wie eine zuvor so wortmächtige Frau an dieser Erkrankung zugrundegeht.

      Der Film »Mein Vater« spielt in einem ganz anderen Milieu. Es werden drei Generationen einer Familie gezeigt. Die mittlere Generation baut ein Haus, dafür müssen beide Ehepartner arbeiten. Deren einziger Sohn ist in der Pubertät. Der Vater des Mannes ist ein ehemaliger Busfahrer, der allein lebt und, obwohl er in Rente ist, mit seiner Aktentasche morgens immer noch zur Arbeit geht. Allmählich wird dem Sohn und seiner Frau klar, dass sie sich um den Vater kümmern müssen, was in deren Lebensplanung so nicht vorgesehen war. Die Sorge um ihn kostet Zeit. Es treten persönliche Spannungen auf, weil der Stress um Hausbau und Pflege insbesondere die Schwiegertochter an ihre Grenzen bringt. In einer fast infernalischen Szene brennt der erkrankte Vater versehentlich die Gardinen des neuen Hauses an und löst den Hausbrand aus. Auch in diesem Film wird die Zerstörung, die die Demenzkrankheit eben auch bedeutet, in den Vordergrund gestellt.

      In den letzten Jahren zeigten weitere Filme in Deutschland auch andere Aspekte, die mit der Demenzkrankheit verbunden sein können. Der Film »Vergiss mein nicht« beschreibt aus der Perspektive des Regisseurs und Autors David Sieveking das Leben seiner Mutter Gretel. Als Akademikerin, Professorengattin und Mutter von drei Kindern hatte sie auf eine eigene berufliche Karriere verzichtet. Mit 67 Jahren erkrankt sie an Demenz. Der jüngste Sohn David beschreibt ihr Leben, er zieht zu ihr, und in der Begegnung mit seiner demenzkranken Mutter erlernt er einen neuen Umgang mit der Krankheit und erlebt auch viele glückliche Momente mit ihr, die er so nicht mehr erwartet hatte. Diese sensible Darstellung der Nähe zur Mutter wirbt um einen respekt- und liebevollen Umgang mit Demenzkranken.

      Das Buch »Der alte König in seinem Exil« von Arno Geiger erschien fast zur selben Zeit. Der Autor beschreibt sein Verhältnis zum für ihn als Kind ehemals so mächtigen, nun demenzkranken Vater. Der Sohn engagiert sich über Jahre intensiv in der Versorgung und Pflege des Vaters, dessen Leben durch den zunehmenden Verlust von Gedächtnis und weiteren Fähigkeiten geprägt ist. So erlebt der Sohn eine Wieder-Annäherung an seinen Vater und ein bereicherndes Zusammenleben.

      Schließlich sei noch der Film »Honig im Kopf« erwähnt, der erhebliche öffentliche Resonanz fand. Er zeigte auf, dass eine Familie sich im Miteinander auch entwickeln kann, wenn sie sich mit einem demenzkranken Großvater auseinandersetzen muss. Es ist Dieter Hallervorden ganz besonders zu danken, dass er auch beschämende Situationen spielte und dabei zugleich die darin innewohnende Komik deutlich machte. In diesem Film ist es die Enkelin, die sich unbefangen, neugierig und ohne Berührungsängste um den Großvater kümmert. Gemeinsam machen sie eine Reise, die ohne ihn als Erwachsenen gar nicht möglich wäre. Sie hilft ihm, wie er eben auch ihr hilft. In Szenen in der Öffentlichkeit, zum Beispiel bei einem Restaurantbesuch oder an einem Ticketschalter, wird deutlich, wie viel der richtige Umgang ausmacht. Es geht also auch um eine innere Haltung.

      WIE SOLL EINE GESELLSCHAFT MIT DEMENZ UMGEHEN?

      WIE DIESE FILME UND BÜCHER ZEIGEN, ist das Thema inzwischen mitten in der Gesellschaft angekommen und zum politischen Thema geworden, gerade auch in westlichen Ländern wie Frankreich, den USA, Großbritannien oder Deutschland. Seitens der Betroffenenverbände werden nationale Demenzpläne gefordert und auch ausgearbeitet, wie zum Beispiel in der Schweiz. Der Hintergrund dafür ist nicht nur eine steigende Häufigkeit von Demenzerkrankungen in der Bevölkerung, sondern die Tatsache, dass diese Krankheit


Скачать книгу