Der Schmetterlingsmann. Wolfgang Brunner
von einem leisen Lachen schüttelte er den Kopf. »Kein Problem … nein.« Er griff nach dem Fünfziger, machte keine Anstalten, mir Wechselgeld zu geben, und hielt stattdessen einen Schlüssel in die Höhe. »Die Treppe rauf, das zweite Zimmer auf der rechten Seite«, erklärte der Rezeptionist knapp und drehte sich von mir weg, als existiere ich von einer Sekunde auf die andere nicht mehr für ihn.
Ich hob die Augenbrauen und machte mich auf den Weg nach oben.
Die Wasserflasche ließ ich stehen.
Meine Füße schmerzten und ich freute mich, bald wieder in einem Bett liegen zu können.
Als ich die Tür aufschloss und das Zimmer betrat, dachte ich an Dich, mein Schmetterling. Es kam mir vor, als würde ich Dich hintergehen. Nicht mit einer anderen Frau, sondern mit mir und meinen Gedanken …
Absurd!
Ich sperrte hinter mir ab, warf den Schlüssel auf einen schlichten Nachttisch und ließ mich aufs Bett fallen. Als ich die Augen schloss, hörte ich erneut Worte des Rufs in meinem Kopf: Was ist Liebe? Wieso nimmst du nicht noch etwas von der Droge? Sie hilft dir beim Nachdenken.
Es ist keine Droge, dachte ich, während ich nach der Plastikfolie in meiner Hosentasche tastete.
Stell dir vor, es wäre eine, hauchte der Ruf. Essen für die Götter! Denn du wirst einem Gott ähnlich sein, wenn du die Liebe verstehst.
Und ich aß …
Es fühlte sich an, als sei ich in die warme Geborgenheit des Mutterleibes zurückgekehrt. Leises Summen erfüllte meine Ohren, als ich eines der Bonbons in den Mund steckte und mit der Zunge leicht an den Gaumen drückte.
Siehst du, säuselte der Geist der Liebe. Was habe ich gesagt?
Ich reagierte nicht, schloss die Augen und kuschelte mich in das weiche Bett. Mir war zumute, als hätte ich mich überhaupt nicht daraus entfernt, sondern läge noch immer neben Dir und würde bloß von der Hinterlist eines Traumes hereingelegt, der mir vorgaukelte, ich wäre in einem Hotelzimmer.
Mein Atem ging flach und gleichmäßig, als schliefe ich, obwohl meine Gedanken wild umherwirbelten, als wäre das Bonbon nicht eine harmlose Süßigkeit, sondern eine bewusstseinsverändernde Substanz.
Lass dich fallen!
Ich lächelte bei den Worten, denn es handelte sich um dieselben, die ich zu Dir sagte, als wir das erste Mal alleine waren und uns kennen lernten.
Ein leises Geräuschließ mich aufhorchen. Neugierig öffnete ich die Augen und erblickte direkt vor meinem Gesicht einen zitronengelben Schmetterling.Ich hielt den Atem an, um das Tier nicht zu erschrecken, das dicht vor mir in der Luft schwebte, als wäre es ein Kolibri. Nach einer Weile setzte sich das Tier auf Augenhöhe an den Rand des Bettes und verhielt sich still.
Wir alle brauchen Licht, ertönte eine Stimme, die anders klang als der Ruf.
Er war anscheinend zum Geist der Liebe geworden. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
»Was meinst du?«, war alles, was ich als Antwort zustande brachte. Wer bist du?, dachte ich, sprach es aber nicht laut aus. Ich schüttelte den Kopf. »Ich träume«, murmelte ich und starrte auf den Schmetterling. Ich war überzeugt, in der Realität neben Dir zu liegen und mir all dies nur einzubilden.
Warum lässt du dich nicht fallen und denkst über die Liebe nach?
Ich beugte mich näher an den Schmetterling heran, um die Zeichnung auf seinen Flügeln besser sehen zu können. »Warum nicht?«, antwortete ich laut. Ich legte mich auf die Seite, betrachtete eine Weile den bewegungslosen Falter. »Ich bin bereit.«
Dann sag mir, was Liebe für dich bedeutet, verlangte der Schmetterling mit der gleichen Stimme, die ich die ganze Zeit in meinem Kopf vernommen hatte.
Ich überlegte. »Geborgenheit, Wärme, Sicherheit und …«, begann ich aufzuzählen und kam ins Stocken.
Und?
Unbewusst zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Es ist nicht leicht, die Liebe zu erklären.«
Deswegen bist du hier. Konzentrier dich und versuche, alle Arten der Liebe zu nennen, die dir einfallen.
»Arten der Liebe?«, wiederholte ich. »Gibt es nicht nur eine einzige Form der Liebe?«
Liebe ist vielfältig und setzt sich aus vielen unterschiedlichen Elementen zusammen, versuchte mir das Insekt zu erklären. Sie ist nicht nur ein einzelnes Gefühl.
Ich betrachtete den Schmetterling nachdenklich. »Liebe ...«, begann ich dann bereitwillig zu erzählen, um seinem Ansinnen Folge zu leisten, »Liebe ist wie ein Licht in unserem Leben.«
Das ist gut, lobte mich das Tier.
Eine Weile herrschte Stille, bis am Fußende des Bettes ein weiterer Schmetterling erschien und über meinen Körper zu seinem Artgenossen flatterte, um sich neben ihm nieder zu lassen.
»Was?«
Lass dich fallen, wiederholte der Schmetterling. Du wirst verstehen, wenn es so weit ist.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Aufgabe.
Liebe ist Licht, wiederholte der erste Schmetterling meine Überlegungen. Wie hell oder dunkel ist dein Leben?
»Es ist hell«, antwortete ich ohne Zögern.
Wer liebt, lebt hell, fasste der erste Schmetterling zusammen. Das Leben ist wie ein Zimmer, in das wir hineingeboren werden. Am Anfang wird es von der Liebe unserer Eltern erhellt, bis es dann mit dem Alter wieder dunkler wird.
»Was meinst du?«
Wenn wir die unmittelbare Liebe unserer Eltern mit dem Erwachsenwerden verlieren, beginnt es in unseren Zimmern zu dämmern.
»Ist die Liebe von Eltern nicht ein ganzes Leben lang präsent?«, widersprach ich.
Du hast recht. Elternliebe dauert meist ein ganzes Leben. Aber erfährst du diese auch noch, wenn du auf eigenen Beinen stehst? Spürst du dann noch die Berührungen von Mutter und Vater auf deiner Haut, um dich zu liebkosen und trösten?
Ich schüttelte den Kopf. »Selten«, gab ich zu.
Unser Zimmer wird also wieder dunkler, bis etwas kommt, das es erneut erhellt. Die Liebe eines anderen, fremden Menschen …
Ein kurzes Flackern neben meinem Kopf ließ mich irritiert zur Seite sehen.
Ein weiterer Schmetterling - nein, es waren zwei, die sich auf der Bettkante niederließen und zur Bewegungslosigkeit erstarrten.
»Woher kommen diese Schmetterlinge?«, erkundigte ich mich.
Aus deinem Herzen, war die Antwort aller Schmetterlinge.
Ein Gefühl der Liebe erfasste mich von einer Sekunde auf die andere. Ich verspürte den Drang, zu weinen, als könnte ich mich dadurch von einer unendlichen Seelenlast befreien.
Was ist?, erklang die Stimme eines Schmetterlings.
»Ich … eine Traurigkeit hat mich plötzlich befallen«, antwortete ich schluchzend.
Nur zu, ermunterte mich eines der Tiere. Es ist keine Schande, zu weinen.
»Es ist … ich werde melancholisch, wenn ich an die Liebe denke. Könnte ich öfter weinen, wäre diese gelegentliche Melancholie vermutlich erträglicher.« Ich neigte den Kopf zur Seite und schloss die Augen.
Ich dachte an Dich und eine Welle aus Emotionen erfasste mich.
Als ich die Lider wieder öffnete, saß mehr als ein Dutzend Schmetterlinge auf der rechten Bettkante. Sie betrachteten mich durch ihre Facettenaugen, als wüssten sie von meinen Gefühlen.
Schmerzt die Liebe?, fragte mich einer