Neulich in Amerika. Eliot Weinberger

Neulich  in Amerika - Eliot Weinberger


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beschäftigen sich mit dem Mittleren Osten beziehungsweise mit Indien, und die Schlussfolgerungen der einen sind nicht auf die andere übertragbar. Und natürlich erschuf zu unserer Zeit der Kalte Krieg einen neuen Osten, einen, in dem, aus westlicher Perspektive, kein Unterschied zwischen Ostdeutschen und Nordkoreanern bestand.

      Das einzige, was über den Osten feststeht, ist, dass es nicht der Westen ist. Doch es ist schwer zu sagen, wo der Westen liegt. In vieler Hinsicht ist er sogar noch schwerer zu lokalisieren als der Osten. Man kann durchaus behaupten, dass es zweitausend Jahre lang – grob gesagt von 500 v. Chr. bis 1500 n. Chr. – ein griechisch-römisch-jüdisch-christlichislamisches Kontinuum gab, eine untereinander verbundene, sich gegenseitig nährende, wenn auch häufig untereinander Krieg führende Zivilisation, die weitgehend isoliert von den damaligen Reichen oder Großstaaten in Mittelamerika, den Anden, China, Indien und Subsahara-Afrika und vollkommen anders als diese war. Womöglich ist das die einzige Periode, in der es eine westliche Zivilisation wirklich gab. (Und eine Zeit, als dieser Ort hier, wo wir gerade sitzen, sich weder im Westen noch im Osten befand, sondern im Norden.)

      Nach 1492 veränderte sich der Westen dauerhaft, zunächst auf seinem eigenen Territorium durch die Abtrennung des Islam, dann durch seine kolonialistische Expansion in den größten Teil der restlichen Welt, was zu einer Reihe von Hybridkulturen führte, in denen mehr oder weniger westliche Werte herrschten, die aber dennoch niemand zum Westen gezählt hätte. Heute mögen sich die postkolonialen Staaten Asiens im Osten befinden, jene in Lateinamerika oder Afrika liegen aber nicht im Westen. Tatsächlich ist es schwer zu sagen, wo sie liegen, und bei Diskussionen über die atlantische oder gar post-atlantische Lage bleiben sie ungeachtet ihrer Küstenlinien üblicherweise außen vor.

      Auf einer runden Erde kann der Westen kein Ziel, sondern nur eine Richtung sein, und selbst dann ist es noch lange nicht sicher, wohin diese Richtung führt. Um nur die letzten fünfzig Jahre allein in Europa zu nehmen: Wenn der Kommunismus der Osten war, was war dann der Westen? Faschismus, repräsentative Demokratie, Sozialismus, Semi-Sozialismus oder Laissez-faire-Kapitalismus? Was war westlicher, Dänemark oder Francos Spanien? Genauer gesagt könnte man behaupten, dass die zwei Staaten, die am fundamentalistischsten an westlichen Ideen festhielten – wenn auch an widersprüchlichen Ideen –, Mao Tse-tungs China und das Japan der Nachkriegszeit waren.

      Mit anderen Worten, die Taxonomie war schon immer unbrauchbar – und dabei habe ich das Problem meiner eigenen kleinen Heimat, den USA, noch gar nicht angeschnitten –, und es bestand die Hoffnung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges auch sie verschwinden würde, vor allem mit dem Aufkommen von Massenmigration und globaler Kommunikation. Doch das war nicht der Fall. Ein neuer Orient ist entstanden, womit so manche im Westen sich selbst zu definieren versuchen, und ironischerweise ist es der alte, nicht sehr fernöstliche Orient der islamischen Länder.

      »Sie«, diese neuen / alten Orientalen, »hassen unsere Werte und unsere Art zu leben«, so George W. Bush. Doch diese westlichen Werte, wie sie Bush selbst definiert und praktiziert – oder vielmehr die Leute, die Bush sagen, was er zu tun und zu sagen hat –, beinhalten heute das Abschlachten unschuldiger Menschen in fernen Ländern, die keine echte Bedrohung für die USA darstellen; nationalistischen Militarismus und die Ästhetisierung von Gewalt; Gesetze, die nur für Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen gelten; geheime Verhaftungen, Deportationen, die Aussetzung des Rechts auf Rechtsbeistand und einen Gerichtsprozess; die Todesstrafe; die Gleichsetzung von Kritik mit Verrat; die Zusammenstellung von Regierungsdossiers über die normalen Gewohnheiten normaler Bürger; zahllose Menschen, die auf den Rechnern der Sicherheitskräfte an den Flughäfen nun als potenzielle Terroristen geführt werden; ein Präsident, der gern in Militäruniform umherstolziert und glaubt, Gott habe ihm eine Mission aufgetragen; die Ausbreitung religiöser Aktivitäten wie tägliche Gebetskreise und Bibelgruppen innerhalb der Regierung eines Landes, das auf der Trennung von Kirche und Staat gründet; eine massive Aufrüstung buchstäblich auf Kosten der meisten Formen von Sozialhilfe; und eine ungehinderte Korruption, bei der sich diejenigen bereichern, die dem inneren Kreis des Präsidenten am nächsten stehen. Kurz gesagt ähnelt dieser neue ost-westliche »Kampf der Kulturen«, wie ihn die Konservativen nennen, am ehesten einer brüderlichen Auseinandersetzung zwischen eineiigen Zwillingen. (Und alle, die – wie die ewige Autorität Bernard Lewis [Der Publizist und Historiker (1916–2018) war Politikberater von George W. Bush und ein Befürworter des Irakkriegs., Anm. d. Ü.] – darin einen Kampf zwischen dem Islam und der »Moderne« sehen, möchte ich Folgendes fragen: In welchem Land, dem Irak oder den Vereinigten Staaten, glauben 77 Prozent der Menschen, dass Engel noch immer die Erde besuchen, und sagen 20 Prozent, dass sie selbst einen gesehen haben? In welchem Land lehnt die Hälfte der Bevölkerung die Evolutionstheorie ab und versuchen ganze Bundesstaaten, sie als Unterrichtsstoff zu verbieten? In welchem Land sagen 68 Prozent, dass es den Teufel wirklich gibt, 20 Prozent, dass es den Teufel nicht gibt, und 12 Prozent, dass sie unsicher sind? Sobald man MTV ausschaltet, gleicht die amerikanische Moderne einem mittelalterlichen Kloster.)

      Es ist ziemlich offensichtlich, dass der Nordatlantik mit dem Aufstieg Bushs und den Kriegen in Afghanistan und im Irak so breit wie nie geworden ist – mit Ausnahme des armen Englands, das zu einer Art Osterinsel geworden ist, fern jeden Festlands. Die Frage ist, ob dies ein zeitweiliges Zerwürfnis ist, hervorgerufen durch die nicht gewählte Junta, die die Vereinigten Staaten derzeit regiert, eines, das wieder vorübergeht, sobald die USA – sollten wir das noch erleben – eine andere Regierung haben, oder ob diese Junta innerhalb dessen, was einst als Westen galt, eine extreme Manifestation dauerhafter und unversöhnlicher Differenzen zwischen den USA und Europa darstellt.

      Ich gestehe, dass ich, als Außenseiter, eine utopische Vision von Europa habe. Meiner Ansicht nach sind die zwei maßgeblichen – und untrennbar miteinander verbundenen – Kriterien, mit denen sich Erfolg oder Misserfolg einer Regierung beurteilen lassen, unbedingte Meinungsfreiheit und die Lebensqualität einfacher Bürgerinnen und Bürger. Gemessen daran, kann man sagen, dass die meisten westeuropäischen Länder in der Nachkriegszeit die perfektesten großstaatlichen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte geschaffen haben. Nie zuvor ging es Fabrikarbeitern so gut, und nie zuvor waren sie, Männer wie Frauen, so frei zu sagen, wie schlimm es steht.

      Dieses Utopia – trotz der vielen Unzulänglichkeiten im Detail, die groß erscheinen, wenn man darin lebt, und klein, wenn man sie aus der Ferne betrachtet – wurde, natürlich neben vielem anderen, durch Gemeinsinn (national, lokal und syndikalistisch), ein minimales Militär und hohe Steuern zur Finanzierung von Sozialhilfe und Infrastruktur erlangt, was allgemein zu einer wohlhabenden Mittelschicht mit nur wenigen Extremen von Armut und Reichtum führte. Es war das genaue Gegenteil der Vereinigten Staaten mit ihrem obszönen Militärbudget – rund zwei Drittel von jedem Steuer-Dollar – und ihrer bewussten, aus dem wahnhaften Kult des Individuums hervorgegangenen Vernachlässigung des Sozialwohls. (In einer neueren Umfrage sagten 20 Prozent der Bevölkerung aus, sie zählten zu dem einen Prozent der Reichsten, und weitere 20 Prozent glauben, dass sie eines Tages dazuzählen werden.) Das Ergebnis ist, wie jeder weiß, dass die USA genügend Atomwaffen haben, um die gesamte Erde siebenmal zu vernichten, genügend konventionelle Waffen, um permanent Krieg zu führen, sowie unter allen Technologienationen die schlechteste Bildung und Krankenversicherung, den schlechtesten öffentlichen Nahverkehr und Alphabetisierungsgrad, die höchste Kindersterblichkeit und die meisten Obdachlosen.

      Von außen betrachtet, scheint es, als bräche das europäische Utopia just kurz vor seinem größten Triumph auseinander. Einerseits ist die Europäische Union, die das Potenzial hat, vielen Teilen der Welt als Modell zu dienen – trotz aller Schwächen in der Maschinerie –, ein sehr bewegender Zusammenschluss von Nationen am jahrhundertelang vielleicht barbarischsten und blutrünstigsten Ort der Erde.

      Andererseits wird das beinahe perfekte Sozialsystem in vielen Ländern allmählich abgebaut, hauptsächlich aufgrund von Vorbehalten gegen eingewanderte oder nicht-weiße Teile ihrer Bevölkerung. Sie spielen den Reaganismus nach, der die USA im Glauben, es sei besser, Dienstleistungen zu zerschlagen, als sie vermeintlich Unwürdigen anzubieten, erfolgreich in das reichste Dritte-Welt-Land verwandelt hat. Ich will hier nicht über Einwanderung diskutieren, möchte nebenbei aber zwei Dinge erwähnen. Die Europäische Union wurde erst möglich, als die Bevölkerung der einzelnen Staaten weniger homogen wurde; Euro-Bewusstsein fängt an, wenn man die


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