Der gruppendynamische Prozeß. Kurt Theodor Oehler

Der gruppendynamische Prozeß - Kurt Theodor Oehler


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als auch sogenannte "Altlasten" beinhaltet, wirkt stetig fließend in die laufenden gruppendynamischen Vorgänge der Gegenwart hinein. Wir fragen uns nun zu Recht, wie wir mit lang zurückliegenden ungelösten Problemen umgehen sollten. Sollen wir halbvernarbte Wunden aufreißen oder sollen wir die Konfrontation vermeiden?

       1.5Wie gehen wir mit lange zurückliegenden ungelösten Problemen in Gruppen um?

      Im nächsten Beispiel will ich die Wirkung solcher unbewältigter "Altlasten" in einem kleinen süddeutschen Industriebetrieb, den ich als externer Betriebspsychologe besucht und beraten habe, aufzeigen:

      In der Manufaktur mit 15 Mitarbeitern herrschte schon seit mindestens drei Jahren eine schlechte Stimmung. In allen Abteilungen wurde gefaulenzt und geflucht. Überall gab es Streit und Mißverständnisse, und die Krankheitstage stiegen. Schließlich entschieden sich die beiden Juniorchefs für eine externe Betriebsberatung. Diese zeitigte nach wenigen Tagen folgende Erkenntnisse:

      1. Der Betriebselektriker, der in allen Abteilungen Arbeiten auszuführen hatte, nahm seit mehreren Jahren nicht mehr an den gemeinsamen Anlässen wie Weihnachtsfeier, Kegelabende, Geburtstagsfeiern usw. teil. Niemand wußte, warum. Für alle Mitarbeiter war sein Nichterscheinen zur selbstverständlichen Gewohnheit geworden.

      In einer offenen Aussprache sagte der Elektriker, daß er einmal, vor 13 Jahren, nicht zur Geburtstagsfeier eines Mitarbeiters eingeladen worden sei. Er habe seither das Gefühl gehabt, daß er nicht mehr erwünscht sei. Obwohl es ihn immer sehr geschmerzt habe, habe er trotz des Zuredens seiner Frau nie den Mut gefunden, wieder an den Anlässen teilzunehmen.

      2. Der Betriebsleiter der Produktion sei, ohne es zu wissen, vor mindestens fünf Jahren von einer Mitarbeiterin heimlich beobachtet worden, wie er im Warenlager mit einer Büroangestellten Zärtlichkeiten ausgetauscht habe. Seither wurde dieses "Geheimnis" von der "Büroclique" streng gehütet. Mit vagen Andeutungen wurde die charakterliche Integrität des Betriebsleiters langsam, aber wirkungsvoll untergraben.

      3. Vor etwa zwei Jahren habe der Seniorchef aus Altersgründen seinen Betrieb an seine beiden Söhne übergeben. Seither habe sich der "Alte Herr" von allen Geschäften zurückgezogen, er würde aber jeden Morgen in seinem ehemaligen Chefbüro seine Zeitung lesen. Nun herrsche bei den Mitarbeitern große Unsicherheit, wer den Betrieb eigentlich leite. Das Büropersonal sei sich nicht schlüssig, an welche Türe es zu klopfen habe, an die Türe des Seniorchefs oder an die Türe des einen oder des anderen Juniorchefs.

      Die Ambivalenz in der Betriebsleitung wurde schließlich von allen Beteiligten als das "Grundproblem" erkannt. Das Ableben des Vaters beendete schließlich das Betriebsdilemma und führte nach einer klaren Abgrenzung zwischen den Söhnen zu einer langsamen Verbesserung des allgemeinen Betriebsklimas.

      Das Beispiel zeigt, daß unbewältigte Ereignisse, die über viele Jahre zurückliegen, noch lange ihre destruktive emotionale Wirkung entfalten. Nur weniger Worte hätte es gebraucht, das Mißverständnis, daß der Betriebselektriker bei den Arbeitskollegen unerwünscht sei, aufzulösen. Aber gerade diese Worte hat niemand ausgesprochen, weil die Zusammenhänge heikel, emotionsgeladen und oftmals tabuisiert sind.

      In jeder Gruppe, in jedem Industriebetrieb bzw. in jeder Institution, wo sich Menschen begegnen und miteinander kommunizieren, gibt es solche "Altlasten", die die Zusammenarbeit stören und das Klima vergiften. Diese "Altlasten" gehören zum "kausalen" Teil der Geschichte einer Institution und können in der Regel mit wenig Aufwand beseitigt werden. Die Beseitigung setzt aber immer die Bereitschaft voraus, sich der unbewußten und oft unangenehmen "Wahrheit" zu stellen.

      Jede Institution hat aber auch eine Zukunft, einen "finalen" Aspekt, auf den sich der gruppendynamische Prozeß hinzubewegt. Diese Finalität wird uns an anderer Stelle zentral beschäftigen.

      Oft sind es aber nicht einzelne unbewältigte Ereignisse, die aus frühen Vorzeiten herrühren, die einen großen Einfluß auf das Zusammenleben der Menschen in einer Institution ausüben, sondern Veränderungen im weiteren gesellschaftlichen Umfeld der Betriebe, die in die Institution hineinwirken. Vielleicht sind es Folgen des Umdenkens der Menschen, vielleicht ist es der gesellschaftliche Wertewandel, der die ganze Matrix des Bewertens in kurzer Zeit erheblich verändert. Wenn diese Veränderungen von einer Untergruppe bejaht und von anderer Seite als Bedrohung erlebt bzw. abgelehnt werden, kann es zu internen Konflikten kommen.

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