Der gruppendynamische Prozeß. Kurt Theodor Oehler
Schüler das Verhalten der vier 'Störenfriede' unterstützen. Dazu kamen Notizen, die der Kollege über ein Gespräch angefertigt hatte, das er während des Unterrichts mit einer Schülerin führte, die in seiner Nähe saß.
Er schrieb: 'Die Schülerin sagt, daß das Klassenklima schlecht ist und daß sich <die vier dahinten> nicht anpassen wollen. Der Unterricht kommt deswegen nicht richtig vorwärts. Es werden immer die gleichen Probleme diskutiert, und der Lehrer ist zu gutmütig. Bei anderen Lehrern geht es besser. Der Unterricht gefällt sonst allen gut, er arbeitet mit Songs, Gedichten usw. Nur die <vier> haben immer was zu meckern. Er sollte denen nicht soviel durchgehen lassen. Er scheint aber in letzter Zeit etwas strenger zu werden.'"
Es ist offensichtlich, daß sich der Lehrer gegen die vier Schüler nicht mehr durchsetzen kann, obwohl diese in der Klasse isoliert sind. Er kann die wahre gruppendynamische Konstellation nicht realistisch wahrnehmen. Zudem fühlt er sich durch die vier Schüler sehr bedroht. Er überschätzt die destruktive Macht von Scharfe und unterschätzt seine eigenen Möglichkeiten als Lehrer. Diese Verzerrung der Wahrnehmung realer Handlungsmöglichkeiten ist die Folge der Gegenübertragung. Der Lehrer unterstellt dem Schüler Scharfe Handlungskompetenzen, die eigentlich nicht Scharfe, sondern seinem Vater während der eigenen Kindheit zukamen. Diese phantasierte Umkehrung der Machtverhältnisse blockieren die Aktivität des Lehrers und zerstören einen situationsgerechten bzw. konstruktiven Unterricht.
"Nach dieser Unterrichtsstunde redeten mein Kollege und ich mit einem befreundeten Lehrer, der zur Zeit Klassenlehrer der BAS A war. Wir schilderten dem Klassenlehrer die Situation der vergangenen Stunde. Der Kollege fragte ihn anschließend, wie er das Problem mit Keller lösen würde, wobei er vorschlug, den Fall in einem Rollenspiel darzustellen. Der Klassenlehrer spielte den Lehrer, und mein Kollege übernahm die Rolle von Keller: Dabei ging der Klassenlehrer burschikos auf Kollege/Keller zu, packte ihn schwungvoll an den Schultern und zog ihn aus dem Sessel hoch: 'Komm Mensch, stell dich nicht so an, da vorne geht das alles viel besser.' Der Kollege/Keller folgte, wenn auch widerwillig und schimpfend …
Ich gebe zu, daß dieses Vorgehen genau meinem normalen Handeln entsprechen würde, mußte aber eingestehen, daß ich in diesem Fall nicht dazu in der Lage war. Ich erwartete, daß sich Keller einfach vom Stuhl fallen lassen oder aggressiv Widerstand leisten würde. Da ich vom Mißerfolg eines solchen Vorgehens überzeugt war, fühlte ich mich vollständig machtlos.
Mein Kollege gab zu bedenken, daß ich Härte zeigen und mich auf die Amtsautorität verlassen sollte. Gegebenenfalls sollte ich mich mit der Androhung einer 'Verweisung von der Schule' durchsetzen. Ich begegnete diesem Rat spontan mit Ausreden wie: 'Die treiben das so weit, daß sie wirklich von der Schule gehen müssen, nur um zu beweisen, daß ich wirklich dieser widerliche Typ bin, für den sie mich halten. Die nehmen eher die Märtyrerrolle auf sich, als klein beizugeben.' Nach einigem Nachdenken war es mir klar: 'Das kann ich nicht, das ist einfach nicht mein Stil, mich hinter dem Chef der Schule zu verstecken! Das ist unmöglich.'
Während des anschließenden Spazierganges überredete mich mein Kollege zu einem weiteren Rollenspiel. Ich fand auch da keinen überzeugenden Weg, den Störenfrieden mit autoritärer Stärke zu begegnen. Ich versuchte, den Kollegen/Scharfe dadurch aus dem Klassenzimmer zu weisen, indem ich mich neben ihm aufbaute und sagte, der Unterricht gehe nicht weiter, solange Scharfe das Zimmer nicht verlassen habe. Damit versuchte ich vermutlich, die Aufgabe an die
Klasse zu delegieren, Scharfe zu überreden, meinen Anweisungen zu folgen. So wollte ich mein eigenes aggressives Vorgehen vermeiden.
Insgesamt schien der Besuch meines Kollegen von der Universität nicht viel gebracht zu haben. Seinen Empfehlungen konnte ich nicht Folge leisten, die Situation schien mir jetzt noch bedrohlicher als zuvor.
Zwei Dinge waren mir allerdings klargeworden:
1. Ich würde das Problem nur auf meine Art und Weise anpacken können. Ich wollte die Situation mit der Klasse offen besprechen. Die Androhung von Disziplinarmaßnahmen der Schulaufsichtsbehörde lag für mich nicht drin.
2. Die vier Störenfriede waren in der Klasse allein. Der Rest der Schüler stand hinter mir."
Wir verlassen den Bericht des Lehrers an dieser Stelle, denn die Lage scheint ausweglos und festgefahren. Wir wollen uns deshalb die Zeit nehmen, uns Fragen zu stellen und zu überlegen, was wir aus den Fehlern des Lehrers lernen können.
Wir haben z.B. festgestellt, daß sich der Lehrer in der Schulklasse und insbesondere gegenüber einigen Schülern nicht durchsetzen kann. Wir haben auch gesehen, daß das Problem mit oberflächlichen Ratschlägen nicht gelöst werden kann. Wir folgern also, daß Faktoren eine Rolle spielen, die entweder in der Persönlichkeit des Lehrers bzw. der Schüler, in der Geschichte dieser Schule oder im gruppendynamischen Prozeß der Lehrer-Schüler-Interaktion begründet liegen.
Wir haben weiter festgestellt, daß das Verhalten des Lehrers als auch des widerspenstigen Schülers Scharfe durch die persönliche Lebensgeschichte beeinflußt wird. Wir haben aber keinen Weg gefunden, wie das Problem in der Schule bzw. das Verhalten sowohl des Lehrers als auch des Schülers korrigiert werden könnte. Wir wissen auch nicht, wie man als Lehrer mit lösbaren bzw. unlösbaren Konfliktkonstellationen umgehen könnte und warum sich dieser Konflikt gerade in diesem Augenblick in dieser Weise entwickelt hat.
Sind es vielleicht Relikte aus der unbewältigten Vergangenheit der Schulgeschichte, die ihr verheerendes Unwesen treiben, oder sind es gruppendynamische Gesetzmäßigkeiten, über die der Lehrer gestolpert ist? Aber was heißt denn hier eigentlich "gruppendynamisch"? Wo ist in diesem Beispiel das "Gruppendynamische" zu identifizieren?
Einen ersten wichtigen Gesichtspunkt im Hinblick auf die Gruppendynamik können wir schon jetzt herausarbeiten. Wir haben festgestellt, daß der Lehrer durch seine Schüler in einen Machtkampf um "Normen" verwickelt wurde. Ein solcher Machtkampf scheint auf den ersten Blick der Schule wesensfremd zu sein, er hat aber für die Schulklasse als gruppendynamische Gruppe eine große Bedeutung. Er zeigt, daß die Schulklasse nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung und die Lehrer bzw. Lehrerinnen nicht nur Wissensvermittler bzw. -vermittlerinnen sind, sondern daß die Schule als Ganzes ein komplexes, verschachteltes und lebendiges gruppendynamisches Feld darstellt, in dem die Macht des Menschen über Menschen eine große Rolle spielt. Aus dem Konflikt zwischen zwei Menschen ist anfangs ein Konflikt zwischen dem Lehrer und einer kleinen Untergruppe geworden und durch die Einbettung dieser Untergruppe in eine "schweigende" Schulklasse dehnte sich dieser Konflikt aus. Somit ist aus dem individuellen Problem des Lehrers ein gruppendynamisches geworden.
Wir haben weiter festgestellt, daß sich der konkrete Konflikt an der Interpretation der "Normen" bzw. "Verhaltensregeln" entzündete. Der Schüler Scharfe erkämpfte seinen "Sieg" gegen die "Normen" des Lehrers mit dem offiziellen "Normenkatalog" der "Allgemeinen Schulordnung" im Rücken. Anscheinend spielen "Normen", "Werte" oder "Gruppennormen" bzw. deren Definition und Interpretation in Gruppen eine große Rolle.
In solchen gruppendynamischen Feldern nehmen die Lehrpersonen eine wichtige Funktion wahr. Diese läßt sich allgemein als "Leitungsfunktion" umschreiben. Lehrer und Lehrerinnen sind aufgrund ihres Erwachsenseins und im Rahmen ihrer Qualifikation als ErzieherInnen bzw. WissensvermittlerInnen sowohl formale als auch gruppendynamische Leiter bzw. Leiterinnen der Schulklassen. Sie besetzen die formale "Rolle" der Leiterfunktion.
Damit sind wir auf einen neuen Begriff gestoßen, der uns durch das ganze Buch begleiten wird: Jedem Gruppenmitglied wächst in einer Gruppe eine "Rolle" zu, eine "Rolle", die mit spezifischen Funktionen ausgestattet ist und die seinen psychologischen Ort in der Gruppe beschreibt.
Mit diesem Begriff verbinden sich viele Fragen. Wer bestimmt die Rolle eines Menschen in einer Gruppe, und wer definiert ihre Funktionen? Sind die Rollen festgeschrieben, oder lassen sie sich verändern? Wer kürt den Leiter bzw. die Leiterin in einer Gruppe zur zentralen gruppendynamischen Person. Damit stellen
sich gleich neue Fragen: Was bedeutet "gruppendynamischer Leiter"? Welchen Anforderungen muß ein gruppendynamischer Leiter genügen und welche Aufgaben beinhaltet diese Funktion? Beinhaltet dieser Begriff, daß der gruppendynamische Leiter immer im Zentrum stehen muß? Welcher