Der gruppendynamische Prozeß. Kurt Theodor Oehler

Der gruppendynamische Prozeß - Kurt Theodor Oehler


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gestört fühlen!' Scharfes Reaktion auf dieses Angebot: 'Tragen Sie's dann wieder ein, damit wir Schwierigkeiten bekommen? Wenn nicht, dann is' o.k., dann gehen wir!' Ich war wiederum unsicher und sagte, daß ich es mir überlegen würde. Scharfe zu Kühne: 'Also, gehen wir.' Er und Kühne verließen die Klasse …

      Ich hatte mich in dieser Zeit sehr genau beobachtet und dabei festgestellt, daß ich beim Unterricht in der BAS A sehr verkrampft war und permanent das Verhalten der vier Störenden im Auge hatte, obwohl diese am Unterricht nicht teilnahmen. Meine Gereiztheit und Unsicherheit nahm ich auch mit in den Unterricht in die anderen Klassen. Auch dort fühlte ich mich jetzt schneller provoziert und bedroht als früher."

      Es ist interessant, festzustellen, daß sich nicht nur ein Transfer des destruktiven Verhaltens der vier Schüler bzw. der ganzen Klasse auf Schulstunden bei anderen Lehrern vollzieht, sondern daß sich die Unsicherheit des Lehrers auf seine ganze Unterrichtstätigkeit ausbreitet. Er fühlt sich auch gegenüber anderen Schulklassen, gegenüber den Kollegen und letztlich in seiner ganzen Lebenssituation unsicher, bedroht und provoziert.

      Doch kehren wir zurück zur Kernfrage: Warum konnte der Lehrer nicht konfliktadäquat reagieren? Der Schüler Scharfe hat ihn zunehmend aggressiv provoziert, erst durch das Zuspätkommen, dann durch die Diskussionen über die Kurzarbeiten und schließlich durch die Beschwerde beim Direktor. Welche Gründe hatten den Lehrer daran gehindert, sich als Leiter der Klasse durchzusetzen? Der Lehrer nimmt zu dieser Frage wie folgt Stellung:

      "Meine Ausbildung für die Lehrbefähigung im Fach Englisch hatte ich während meines Studiums an der Universität erhalten. Sie war weder umfangreich und gründlich noch auf die Praxis ausgerichtet. Außerdem lag die Zeit der Ausbildung bereits fünf Jahre zurück. Das bedeutete, daß meine Kenntnisse in diesem Fach kaum ausreichend waren. In den meisten Fällen war ich meinen Schülern nur um ein bis zwei Kapitel des Lehrbuchs voraus.

      Die zweite Schwierigkeit bestand darin, daß ich keinerlei Erfahrungen im Unterricht mit Erwachsenen hatte. Meine Schüler waren 20 bis 26 Jahre alt und stellten verständlicherweise den Anspruch, in der Schule wie Erwachsene behandelt zu werden. Sie sollten selber entscheiden, wieviel Kraft sie in den Unterricht investieren wollten. Auch der Schulbesuch war bei vielen unregelmäßig. Andererseits wurde an mich von seiten der Schulleitung die Forderung gestellt, auf Ordnung und regelmäßigen Schulbesuch zu achten. Der Schulleiter: 'Wir haben hier keinen Unibetrieb!'

      Ein weiteres großes Problem waren die unterschiedlichen Vorkenntnisse, die meine Schüler mitbrachten. Es gab solche, die ihre Ausbildung am Gymnasium abgebrochen hatten. Deren Englischkenntnisse reichten ohne weiteres heute schon zum Bestehen der Abschlußprüfung. Auf der anderen Seite waren in meiner Klasse Schüler, die noch nie an einem Englischunterricht teilgenommen hatten."

      Diese Gründe mögen sicher schwerwiegend sein. Man spürt aber deutlich, daß sich der Lehrer auf einer rationalen Ebene zu rechtfertigen sucht, ohne tiefere gruppendynamische bzw. gefühlsbezogene Beweggründe zu berücksichtigen. Schließlich erzählte er mir, seinem Freund, seine Geschichte nach einer Sitzung am Institut der Technischen Universität:

      "Es war sicherlich kein Zufall, daß ich auf mein Problem zu sprechen kam, als ich mich mit meinem Kollegen (gemeint ist der Verfasser) am pädagogischen Institut der Technischen Universität unterhielt. Dieser befaßte sich seit einiger Zeit mit gruppendynamischen Vorgängen in der Schulklasse. Er war sofort sehr interessiert und bat, meinen Unterricht besuchen zu dürfen.

      Ich zögerte zunächst aus zwei Gründen:

      Welcher Lehrer gibt schon gerne zu, daß er mit seiner Klasse Schwierigkeiten hat? Und wer möchte darüber hinaus sein Mißgeschick auch noch zur Schau stellen, anstatt eine Klasse vorzuführen, in der der Unterricht Spaß macht?

      Vor allen Dingen wurde mir eines schlagartig klar:

      Würde ich die Zustände in der BAS A zusammen mit meinem Kollegen analysieren, müßte ich mich meinem persönlichen Problem stellen und könnte mich nicht, wie bisher, damit herausreden, daß der Unterricht mit den anderen Klassen durchaus erfolgreich war.

      Ausschlaggebend dafür, daß ich schließlich doch einwilligte, den Konflikt näher zu untersuchen, war die Frage des Kollegen, an wen mich der Schüler Scharfe erinnere. Meine Assoziation war spontan und überraschend. Nur mühsam konnte ich eingestehen, daß mir auf diese Frage sofort mein Vater einfiel. Und das, obwohl äußerlich keine Ähnlichkeit vorlag. Hier, so empfand ich, waren Dinge im Spiel, die ich vermutlich nicht allein lösen konnte.

      Ich verabredete mit meinem Kollegen einen Mittwoch nachmittag zum Schulbesuch. Ich war gespannt und bereitete mich innerlich sorgsam auf die Begegnung vor. Als er am nächsten Mittwoch in meinen Unterricht kam, hatte ich bewußt keine besonderen Vorbereitungen getroffen. Lediglich die Tatsache, daß ich vier Schüler mündlich prüfen wollte, weil sie bei der letzten Kurzprobe gefehlt hatten, war bewußt für diesen Besuch geplant. Da unter diesen vier Schülern auch Keller und Kühne waren, versprach die Situation spannend zu werden."

      Der Lehrer spürt nun, daß sich die Situation für ihn zuspitzt und daß auch seine persönlichen Probleme tangiert werden. Er ist sich bewußt geworden, daß ihn Scharfe an seinen Vater erinnert. Es handelt sich hier also um eine sogenannte "Gegenübertragung". Der Lehrer projiziert Charaktereigenschaften seines Vaters auf den Schüler und reagiert deshalb unangemessen auf das Agieren des Schülers. Es ist also nicht nur so, daß der Schüler das innere Bild einer anderen Person auf den Lehrer überträgt, sondern auch so, daß der Lehrer, vorerst ohne es zu ahnen, sein eigenes Vaterbild dem Schüler überstülpte. Wir wollen nun verfolgen, wie sich die Fallstudie weiterentwickelt, wobei sich hier die Frage erhebt, wie ein Lehrer mit solchen Übertragungen und Gegenübertragungen umgehen kann:

      "Der Kollege berichtete mir anschließend, daß er den Schüler Scharfe beim Betreten des Klassenzimmers sofort erkannt habe. Er notierte u.a.: langhaarig, verbissen, neurotisch, aggressiv …

      Ich legte zu Beginn der Stunde eine Folie auf den Tageslichtprojektor, damit die ganze Klasse die Fragen, die ich an die Prüflinge stellte, mitlesen konnte. Ich stellte einen Stuhl neben den Projektor, damit der jeweilige Schüler das Bild gut sehen konnte und ich mich mit ihm zwanglos unterhalten konnte. Da Keller auf meiner Liste ganz oben stand, forderte ich ihn auf, auf diesem Stuhl Platz zu nehmen. Er lehnte sich aber in seinem Stuhl zurück und sagte: 'Ich bleibe hier sitzen.' - 'Nein, bitte nehmen Sie hier Platz, damit ich feststellen kann, ob das, was Sie sagen, auch wirklich Ihr eigenes Gedankengut ist.' - 'Ich tue nur das, was ich einsehe, und ich bleibe hier.' Darauf ging ich zu meinem Pult und schrieb etwas in meine Akten.

      Mein Kollege notierte in sein Heft: Keller sucht Hilfestellung bei Scharfe.

      Scharfe rief in die Klasse: 'Schreiben Sie etwa eine "Sechs" ins Klassenbuch?' - Ich: 'Herr Keller verweigert eine Leistungsmessung. Sie wissen ja, was das bedeutet.' Scharfe stand auf und begab sich zur Tür. Ich rief ihm nach: 'Laufen Sie nur zum Direktor, Sie wissen ja, wie man das macht!'

      Kühne stand als nächster auf der Liste. Als ich ihn aufrief, sagte er: 'Ich kann nicht, ich muß so furchtbar lachen.' Sein Lachen klang gequält und seine Stimme etwas geknickt. Ich: 'Sie wollen sich also auch nicht prüfen lassen?' - 'Ich muß nur so furchtbar lachen,' Kühne blieb auf seinem Stuhl sitzen. Ich schrieb wieder etwas in meine Akten und prüfte anschließend die beiden anderen Schüler, die zwar widerwillig aber doch umgehend den Platz beim Projektor einnahmen.

      Der sich anschließende Unterricht lief nach Aufzeichnung meines Kollegen reibungslos fort, da die anderen Schüler relativ willig mitarbeiteten. Er notierte weiter, daß die Spannung in der Klasse sehr groß sei. Sie sei so groß, daß es Scharfe in der Klasse nicht ausgehalten und den Raum nach kurzer Zeit verlassen habe.

      Ursprünglich hatte mein Kollege die Absicht, von der Klasse ein 'Soziogramm' zu erstellen. Er stellte aber schnell fest, daß sich dies im Augenblick nicht durchführen ließ. Außerdem meinte er anschließend, daß sich das erübrige, denn die Situation in der Klasse lasse sich allein durch Beobachtung erahnen: 'Die vier widerspenstigen Schüler stehen in der Klasse allein.'

      Er bestätigte damit meine Vermutung, die ich in dieser Stunde durch meine Beobachtung gewonnen


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