Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich
nicht, dass man eine Person mehr lieben kann als sich selbst.
Doch das war, bevor ich ihn kennengelernt habe.
Denn dann kam er in mein Leben.
Alles hat sich verändert.
Und eigentlich fing es an einem so gewöhnlichen Tag an.
Ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen ...
*
Die Welt ohne dich
Dezember 1998
Früher war vieles leichter. Zumindest glaube ich das heute. Manchmal wäre ich gerne wieder ein Kind. Ein kleines, unschuldiges, fantasievolles Wesen. Man hat über weniger nachgedacht. Vielleicht auch, weil man eben einige Dinge noch nicht verstanden hat. Man hat sein Leben einfach gelebt. Nicht so viel an den nächsten Tag gedacht. Man hat im Hier und Jetzt gelebt. Heute gehöre ich zu der Sorte Mensch, die alles planen muss. Irgendwie geschieht in meinem Leben nichts mehr spontan. Ich weiß immer, was als Nächstes passiert, mache Listen, schreibe alles auf und plane jede Sekunde meines Lebens und somit auch meine Zukunft. Überall liegen Zettel in meiner Wohnung, auf denen ich alles festhalten muss. Auch Klebezettel sind überall verteilt, die an meinen Schränken, Tischen und Wänden heften. Trotzdem versuche ich, Ordnung zu halten, denn Unordnung ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.
Wenn man sich früher mit Freunden gestritten hat, hat man sich nach einem Tag wieder vertragen. Man war nicht so stur wie heute, hat nicht so viel nachgedacht und einfach eingesehen, dass man den anderen zum Spielen braucht. Ohne einander wusste man gar nicht, was man allein machen sollte. Aber was ich am meisten an meiner Kindheit vermisse, sind die aufgeschürften Knie. Tränen steigen mir in die Augen, die ich versuche, möglichst schnell herunterzuschlucken. Verdammt. Selbst bei aufgeschürften Knien muss ich an ihn denken. Wenn man früher mit aufgeschürften Knien nach Hause kam, hat Mama dreimal gepustet, ein schönes Pflaster auf die Wunde geklebt und die Welt war wieder in Ordnung. Man konnte sofort wieder lachen und spielen gehen. Wie ich diese aufgeschürften Knie vermisse. Lieber zwei blutige Knie als ein gebrochenes Herz. Viel lieber. Denn bei einem gebrochenen Herzen kann Mama so stark pusten, bis ihr die Luft wegbleibt, es wird nicht besser werden. Und noch nicht einmal ein schönes, pinkfarbenes Einhornpflaster kann sie darüber kleben, sodass die Welt wieder in Ordnung ist. Wenn das so leicht wäre ...
Ich hätte gerne das schöne, glückliche Kinderlachen zurück. Denn im Moment verspüre ich nichts anderes als das Gefühl endloser Trauer. Wenn dir kalt wird und du am ganzen Körper zitterst. Du starrst unendlich lange total uninteressante Gegenstände an, ohne zu wissen, warum. Du vergisst alles um dich herum. Alles, was du hörst, ist dein Herzschlag, der dir bis zu den Ohren schlägt. Im gesamten Körper spürst du ihn. Allerdings bist du eigentlich froh, deinen Herzschlag zu hören, denn dadurch weißt du, dass du noch am Leben bist und du nicht von der Trauer erstickt wurdest.
Sobald du anfängst, über den Grund nachzudenken, weshalb du traurig bist, werden deine Augen gläsern und alles verschwimmt. Die ganze Welt vor dir verschwimmt. Nichts ist mehr klar. Du weißt nicht, was richtig und was falsch, was Wahrheit und was Lüge ist. Du fühlst den grauenvollen Schmerz in deinem Herzen. Ich würde mal behaupten, dass dieser Schmerz schlimmer ist, als jeder gebrochene Knochen, auch wenn ich mir noch nie etwas gebrochen habe.
Und das Schlimmste von allem ist, du weißt nicht, wie lange der Schmerz noch andauert. Du weißt nicht, wann er vorbei ist. Oder ob er überhaupt irgendwann vorbei sein wird. Du weißt gar nichts mehr.
Nichts.
Ja, so geht es mir gerade. Langsam richte ich meinen Blick nach vorne und höre auf, den Boden anzustarren. Ich stehe vor dem Spiegel und schaue mich skeptisch an. Ich mustere mich von oben bis unten. Meine Füße sehen ungewöhnlich klein aus in meinen schwarzen Pumps. Okay, so ungewöhnlich ist das dann doch nicht. Ich habe die Schuhe eine Nummer kleiner gekauft, da ich sonst dauernd hin und her gerutscht wäre. Ich mag die Schuhe. Aber genauso wie alle anderen hohen Schuhe sind sie unfassbar unbequem. Eventuell könnte das auch daran liegen, dass meine Feinstrumpfhose heute gar nicht sitzt. Ich habe allerdings keine andere gefunden. Sie haben alle Laufmaschen oder Flecken.
Ich streiche meinen Rock glatt und ziehe meinen schwarzen, engen Pullover an allen Seiten noch einmal zurecht. Ich mache einen Schritt zurück und betrachte mich. Das ist also mein neuer Style. Bunte Klamotten werden in nächster Zeit erst einmal nicht mehr an mir gesehen werden. Diese fröhlichen Farben passen im Moment nicht zu meiner Stimmung. Ich weiß, dass die schwarzen Klamotten aussehen, als würde ich gleich zu einer Beerdigung gehen. Das ist nicht der Fall, doch trauern tue ich trotzdem irgendwie. Ich finde es einfach unpassend, jetzt fröhliche Klamotten anzuziehen. Meine Gesamterscheinung gefällt mir aber eigentlich ganz gut. Ich sehe irgendwie erwachsener aus. Meine braunen Locken fallen ausnahmsweise Mal gut. Sie reichen geradeso bis zur Schulter, was mir aber besser steht als meine langen Haare, wie ich finde. Vor einem halben Jahr habe ich sie abschneiden lassen, da mich meine langen Haare nur noch störten. Seitdem lasse ich sie mir immer wieder auf diese Länge abschneiden, wenn sie gewachsen sind.
Mein Blick fällt auf meine Kette. Es ist eine dünne, silberne, schlichte Kette mit einem Schlüssel als Anhänger. Der Schlüssel zu seinem Herzen. Ich spüre einen Stich, der sich durch mein Herz zieht. Ich kann genau beobachten, wie meine Augen binnen Sekunden gläsern werden. Ich beiße mir auf die Lippe. Nicht schon wieder! Ich schließe kurz die Augen und hole mir den Gedanken zurück, dass ich stark bleiben muss. Schwäche zeigen, ist keine Option. Ich atme tief durch, dann öffne ich sie wieder. Meine blaugrauen Augen schauen mich durch den Spiegel an. Sie wirken zwar traurig, was auch kein Wunder ist, aber ich bin nicht mehr kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen. Ich berühre die Kette vorsichtig mit meinen Fingern. Sie ist so wunderschön. Ich bin ihm so dankbar dafür. Es ist mit Abstand das Schönste, was ich jemals von einem Jungen geschenkt bekommen habe.
Ich drehe mich um und schaue kurz durch mein Zimmer. Es sieht ein wenig so aus, als würde hier niemand wohnen. Alle Möbel sehen so unberührt aus, aber ich bin schon immer so ordentlich gewesen. Alles sieht so normal aus, als wäre nie etwas passiert. Ein Bett, auf dem ein aufgeschütteltes Kissen und eine zusammengelegte Decke liegen. Ein Schrank, in dem alle Sachen ordentlich zusammengefaltet sind. Ein Schreibtisch, auf dem ein Blatt Papier und ein Stift schon bereitliegen. Die restlichen Stifte stehen ordentlich in einem Stifte-Behälter. Am hinteren Tischrand liegen sieben Bücher übereinandergestapelt. Sieben verschiedene Bücher, sieben verschiedene Länder. Lange Zeit habe ich mich intensiv damit beschäftigt. Ein paar Regale, in denen alle anderen Bücher nebeneinanderstehen, sind im Zimmer verteilt. Und ein paar Bilderrahmen auf einer Kommode neben meinem Bett. Ich gehe auf sie zu und nehme einen in die Hand. Er und ich. In die Kamera lachend. Glücklich. Das Bild entstand in Venezuela. Wir sitzen in einem Boot und hinter uns ist der gigantische Wasserfall. Wie ich diese Momente mit ihm vermisse. Ich vermisse sie jetzt schon und weiß absolut nicht, wie ich ohne ihn klarkommen soll. Wir hingen sieben Monate Sekunde für Sekunde aufeinander. Jetzt auf einmal getrennt sein zu müssen, zerbricht mein Herz – und nicht nur mein Herz zerbricht, sondern auch mein gesamter Körper. Ich streichle mit meinem Daumen kurz über ihn, dann stelle ich das Bild zurück. Ich gehe noch einmal auf den Spiegel zu. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht. Entschlossen schaue ich mein Spiegelbild an. Ich bin bereit. Ein Abschnitt in meinem Leben beginnt, den ich niemals leben wollte ... und auch niemals geplant hatte.
* * *
Mein Kopf lehnt an der Fensterscheibe des Autos. Die Landschaften, die Autos und all die Menschen da draußen ziehen nur so an mir vorbei. Alles sieht so verschwommen aus. Ich weiß genau, dass es das nicht ist, aber durch das schnelle Fahren wirkt es so. Ich habe das Gefühl, dass ich die Welt wie durch einen schwarz-weiß Filter sehe. Farben machen einige Dinge fröhlich. Doch gerade ist mir absolut nicht danach, fröhlich zu sein. Ich kann die Farben einfach nicht wahrnehmen. Die fröhlichen Farben. Die Welt wirkt trist und einfach. Und irgendwie traurig. Wir fahren durch die Stadt – und selbst das Lachen der Kinder, die auf den Straßen Fußball spielen, blende ich problemlos aus. Ich mache das wirklich nicht mit Absicht. Ich kann diesen schwarz-weiß Filter einfach nicht