Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich
erfolgreich wäre, doch dafür ist sie viel zu vernünftig. Die elegant angezogene Geschäftsfrau passt dann doch eher zu ihr.
Mein Papa – Julien Aveline – arbeitet schon sein ganzes Leben lang in einem Kunstmuseum. Sein Herz hat schon immer für die Kunst geschlagen. Nebenbei malt er auch selber und ab und zu arbeitet er sogar an Skulpturen. Egal, was er auf die Beine stellt, mir gefällt es immer. Er verdient damit zwar auch Geld, allerdings ist er nicht so berühmt, dass er davon leben könnte. Deswegen arbeitet er in dem Kunstmuseum, wo er den ganzen Tag Leuten von verschiedenen Künstlern und Kunststilen erzählen kann. Es ist seine Leidenschaft, und ich liebe es, ihn bei der Arbeit zu beobachten, da er immer mit Herz dabei ist.
Auf den ersten Blick kann ich sofort Karten aus Neuseeland, Hawaii, New York, China und Madagaskar an meinem Kühlschrank erkennen. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, genießen die Eltern eben ihr Leben. Mein vier Jahre älterer Bruder Adrian ist schon drei Jahre vor mir ausgezogen. Er wohnt zwar noch in Frankfurt, allerdings am anderen Ende der Stadt. Was genau er beruflich macht, habe ich ihn oft gefragt, und trotzdem merke ich mir den genauen Begriff einfach nicht. Es ist irgendein Bürojob und immer mal wieder muss er für ein oder zwei Monate vereisen. Somit sehen wir uns leider nicht mehr so häufig. Trotzdem haben wir eine relativ gute Beziehung zueinander. Früher haben wir uns oft in den Haaren gelegen, aber seit wir erwachsen sind, wissen wir beide, dass wir uns eigentlich lieben.
Der letzte Farbtupfer in meiner relativ weißen Küchenzeile ist ein Bild mit einem Spruch über der Arbeitsfläche.
Der frühe Vogel kann mich mal.
Könnte mein Lebensmotto sein.
Ich habe meinen Kaffeebecher in der Hand und ein halbes Marmeladenbrötchen vor mir, das ich versuche, in mich hineinzuzwängen. Ich kann morgens einfach nichts essen. Ich schaue auf meine Uhr. In genau sieben Minuten und vierundzwanzig Sekunden muss ich los. Meine Tage sind immer so durchgetaktet. Ich habe einen festen Zeitplan, der auf jeden Fall eingehalten werden muss. Ich beiße noch einmal in das Brötchen. Den Rest stelle ich in den Kühlschrank. Den Kaffeebecher spüle ich schnell ab. Eine Spülmaschine hätte was, aber die konnte ich mir damals, als ich in diese Wohnung zog, nicht leisten und jetzt weiß ich nicht mehr, wohin ich diese stellen sollte. Zum Glück überlebt man auch, ohne eine Spülmaschine zu besitzen.
Ich gehe in den Flur, ziehe mir meine Turnschuhe an und betrachte mich kurz im Spiegel. Meine langen Haare sind zur Hälfte nach oben gesteckt. Ich trage eine blaue Jeans und ein orangenes T-Shirt, das schon wirklich lange in meinem Sachenfundus liegt. Wirklich ordentlich angezogen bin ich nicht, aber das macht nichts. Ich gehe gleich eh in den Kindergarten und muss auf dem Boden herumkriechen. Zurzeit mache ich eine Ausbildung zur Erzieherin. Zwei Tage die Woche habe ich Schule. Die anderen drei Tage muss ich arbeiten. Eigentlich mache ich diese Ausbildung nur, weil ich nach der Schule keine Ahnung hatte, was ich machen sollte und ich Kinder über alles liebe. Also mache ich erst einmal eine Ausbildung zur Erzieherin. Kann nicht schaden. In ein paar Tagen bin aber zum Glück fertig. Die drei Jahre waren allerdings gar nicht so schlecht. Die Arbeit hat sogar relativ viel Spaß gemacht. Ich reiße meine Jeansjacke vom Kleiderbügel, der an einem Kleiderständer hängt. Stange auf Rollen. Ist ganz praktisch. Auch wenn wir April haben, ist es am Morgen doch noch ein wenig kalt, um ohne Jacke aus dem Haus zu gehen. Neben dem Kleiderständer ist eine kleine Kommode, auf dem mein Schlüssel liegt. Ich nehme ihn und gehe Punkt 07:40 Uhr aus der Wohnung.
* * *
Noch zweimal rechts abbiegen, dann bin ich da. Von meiner Wohnung bis zum Krankenhaus ist es nicht weit. Vielleicht 1500 Meter. Die kurze Strecke fahre ich bestimmt nicht mit dem Auto. Sonst ist der Sprit ja noch schneller leer als ohnehin schon. Und Sprit ist teuer. Trotzdem ist die Strecke anstrengender als gedacht. Mittlerweile steht die Sonne hoch am Himmel und es ist nicht mehr so kühl wie heute Morgen. Ich fahre von der Straße auf den Bürgersteig, um zum Krankenhaus zu kommen.
Oh Shit.
Der Stein ist definitiv größer als die Pflastersteine der Straße.
Schlecht. Sehr schlecht.
Der Boden kommt verdammt schnell näher.
Ich glaube, mein Fahrrad dachte sich auch nur so: „Jooo, sie möchte bestimmt gerade mal mit dem Boden kuscheln.“
Und nun liege ich wie ein atmender Stein auf der Straße. Ähm. Aua. Ich setze mich auf. Meine Hose ist kaputt. Na toll. Und mein Knie und meine Hände sind leicht aufgeschürft. Der dumme Stein liegt auch mitten im Weg! So ein Mist! Ich rapple mich vom Boden auf und entferne den Schmutz grob von meinen Händen und dem Knie. Ich schiebe mein Fahrrad die restlichen fünf Meter zum Krankenhauseingang vor.
Ich betrete die Uniklinik Frankfurt und gehe meinen gewohnten Weg zum Aufzug und anschließend den Gang entlang. Diese weißen, langen Gänge sehen ja so langweilig aus. Hier würde ich auch krank werden! Ein bisschen Farbe würde den Wänden sicher nicht schaden. Ich gehe den Gang weiter und komme vor dem Zimmer 177 zum Stehen. Ich klopfe kurz an, bevor ich die Tür aufreiße und ins Zimmer spaziere. Philias sitzt in seinem Bett und grinst mich an, als er mich sieht. Ich umarme ihn stürmisch.
„Du kannst ja so froh sein, dass du im Moment hier liegen musst. Es war heute wieder so ätzend auf Arbeit. Da denkst du, Frau Krüger lässt dich einfach mal in Ruhe, wenn du ihr schon aus dem Weg geht. Aber nein! Träum weiter! Sie verfolgt die Auszubildenden und kritisiert sie bei allem, was sie machen. Ich glaube, sie mag junge Menschen einfach nicht. Die kleinen Kiddies mögen uns ja schon irgendwie mehr. Ich meine, sie ist ja auch schon steinalt. Zumindest sieht sie so aus“, erzähle ich ihm aufgebracht, als ich unterbrochen werde.
„Du hast da ein Loch in der Hose, falls es dir nicht aufgefallen sein sollte.“
Der Kommentar kommt nicht von Philias. Ich schaue mich um. Seit wann ist Philias in einem Doppelzimmer? Da steht noch ein Bett, in dem ein dunkelhäutiger Junge mit schwarzen Locken sitzt. Erst jetzt bemerke ich, dass er mich wahrscheinlich schon die ganze Zeit angeschaut hat. Ich habe ihn überhaupt nicht bemerkt. Jetzt grinst er mich an. Er ist etwa so alt wie ich. Ein bisschen älter vielleicht. Irgendwie hat er mich komplett aus dem Konzept gebracht.
„Ach wirklich?“, frage ich nur keck zurück und ziehe die Augenbrauen nach oben, „Ist mir noch gar nicht aufgefallen!“ Ich wende mich wieder Philias zu. „Ich gehe mir kurz einen Kaffee holen. Bis gleich.“
„Also süchtig nach Kaffee bist du auch gar nicht, oder?“ Er lacht und ich verschwinde aus dem Zimmer. Hinter der Tür bleibe ich aber kurz stehen. Die beiden Jungen unterhalten sich.
„Deine?“, fragt der Junge, den ich nicht kenne.
Philias lacht: „Nein, sie ist meine beste Freundin.“
„Sie ist zu haben?“, fragt der Junge hörbar erstaunt.
„Verkacke es nicht Kumpel. Sie lässt sich schwer für Jungs begeistern. Musst ihr schon was bieten.“
„Heiße Braut ist sie schon“, murmelt er.
Ich höre nichts mehr, doch ich sehe genau das Grinsen des Jungen vor mir. Ich verdrehe die Augen. Genau so stelle ich mir Jungsgespräche vor. Als ich Schritte im Zimmer wahrnehme, verschwinde ich schnell von der Tür.
Ich habe Philias während der Erzieherausbildung kennengelernt. Wir arbeiten nun im gleichen Kindergarten. Es ist vielleicht untypisch für einen Jungen, eine Ausbildung zum Erzieher zu machen, aber ich kenne keinen, zu dem der Beruf besser passen würde als zu Philias. Er kann so verdammt gut mit Kindern umgehen. Die Kleinen lieben ihn alle. Seine unschuldige, höfliche und lockere Art muss man einfach mögen. Er ist fast immer fröhlich und sieht dazu auch noch gut aus. Wobei ich aber nicht glaube, dass die Kinder auf sein Aussehen achten. Seine dunklen Haare sind meist noch oben gestylt, aber hier im Krankenhaus macht er sich nicht die Mühe. Jetzt stehen sie in alle Richtungen ab. Trotzdem sieht er total süß aus. Wir sind irgendwie unzertrennlich geworden. Nur leider liegt er im Moment im Krankenhaus, weil er sich sein Bein gebrochen hat und dieses operiert werden muss.
Ich habe die Cafeteria des Krankenhauses gefunden und will mir gerade einen Kaffee holen, als