Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich
die Menschen hier. Ich wende den Blick schnell von ihm ab. Wieso stehen auch so viele Leute vor mir in der Schlange. Ich will mir doch nur schnell einen Kaffee holen. Ich habe eigentlich nicht vor, jetzt einen Small Talk mit dem Typen zu führen.
„Hey!“
Ich drehe mich schlagartig herum. Na super. Er hat mich gefunden. Okay. Krass. Sein Lächeln ist umwerfend. Wieso sehen seine Zähne so strahlend weiß aus? Hör auf, ihn anzustarren, Alicia! Was ist nur los mit mir? Zugegeben, er sieht schon gut aus. Aber nein! Nicht schwach werden.
Ich setze ein gespieltes Lächeln auf und grüße ihn zurück. Dann wende ich mich von ihm ab, doch er gibt nicht auf und versucht, sich einzuschleimen. „Kann ich dir deinen Kaffee bezahlen?“
Irritiert schaue ich ihn an. Macho, alter. Ich mag ihn doch nicht mehr.
„Danke, aber das bisschen Kleingeld habe ich gerade noch so“, sage ich trotzig. Ich drehe mich von ihm weg, da ich dran bin und bestelle meinen Kaffee. Als ich den Becher endlich in den Händen habe, gehe ich an ihm vorbei und eile an den Leuten vorbei. Als ich beim Aufzug angekommen bin, hat er mich eingeholt. Jetzt stehen wir beide schweigend im Aufzug nebeneinander. Er schaut mich an.
„Okay, tut mir leid. War dumm von mir. Ich wollte nur lustig sein. Bin durch die langweilige Krankenhausatmosphäre irgendwie nicht mehr ganz so drauf wie früher einmal. Können wir noch einmal von vorne anfangen? Kilian James Settler. Freut mich.“ Er streckt mir seine Hand entgegen und lächelt leicht.
Ich starre ihn an. Kilian James Settler. Sein Name gefällt mir. Ich zögere erst. Ich muss ihn kurz zappeln lassen. Er kann ja nicht gleich das bekommen, was er will. Dann lächele ich zurück und gebe ihm meine Hand. „Alicia. Alicia Liane Aveline. Ob es mich freut, überlege ich mir noch.“
Jetzt grinst er wieder frech. Wir gehen zurück in das Zimmer 177 und Kilian setzt sich auf sein Bett. Als ich meine Augen vor Philias gespielt verdrehe, ohne dass es Kilian sieht, fängt er laut an zu lachen.
„Jetzt sag mir nicht, du hast es jetzt schon verkackt, Bruder. Respekt.“
Ich bleibe erst zwischen den beiden Betten stehen, doch Philias deutet mir an, sich neben ihn zu setzen. „Du, ich muss dir noch etwas sagen“, beginnt er zögerlich. Fragend schaue ich ihn an. Was kommt denn jetzt bitte? Ist was passiert? Geht es ihm gut?
„Du weißt, dass ich noch operiert werden muss, oder?“
Mein Kopf bewegt sich automatisch von oben nach unten.
„Du weißt auch, dass der erste Flug in ein paar Tagen geht, oder? Es tut mir so leid, Alicia. Aber ich werde nicht mit dir fliegen können. Bis dahin bin ich nicht fit und so kurz nach der OP darf ich auch nicht fliegen.“
„WAS? Nein, das geht nicht. Du musst mitkommen. Weißt du eigentlich, wie lange ich diese Reise schon plane? Oh Phili!“
Das sind die Momente, die ich hasse. Wenn meine Pläne zerstört werden. Ich plane alles bis ins kleinste Detail und dann ... dann funktioniert auf einmal nichts mehr so, wie ich es will. Was mache ich denn nun? Philias sitzt betrübt neben mir. Ich weiß genau, dass er sich auch auf diese Reise gefreut hatte. Vielleicht nicht ganz so sehr wie ich. Es ist immerhin mein Traum gewesen, diese Reise zu machen und nicht seiner. Aber er hat nur fünf Sekunden darüber nachgedacht, ob er mitkommen soll, dann hat er eingewilligt.
„Wen soll ich denn jetzt mitnehmen?“
Die Frage werfe ich eigentlich nur so in den Raum. Ich erwarte keine Antwort, doch Philias blickt erst zu Kilian, dann zu mir und wieder zu Kilian.
„Oh nein. Bestimmt nicht“, erwidere ich sofort.
„Was? Ich soll mit ihr reisen?“, fragt auch Kilian verwirrt.
Philias schaut uns an.
„Wieso denn nicht? Die Flüge sind gebucht. Kilian wird morgen entlassen und darf fliegen. Ich bin frühestens in zwei Wochen hier raus und darf dann im schlimmsten Fall immer noch nicht fliegen. Ist ja voll die Verschwendung, wenn du jetzt allein fliegst. Alicia, ich weiß genau, dass du eine Begleitung brauchst. Und ich glaube, ihr würdet euch ganz gut verstehen“ Philias grinst. „So schlimm ist er nicht. Er kann auch ganz nett sein.“
„Ach danke“, antwortet Kilian beleidigt.
„Ich soll also mit Kilian fliegen anstatt mit dir?“, fasse ich zusammen. Ich weiß noch nicht genau, was ich von Philias’ Idee halten soll.
„Ja genau. Was spricht denn dagegen?“, fragt Philias sehr überzeugt von sich.
Ich will eigentlich etwas erwidern, aber mir fällt keine Antwort ein.
*
Wo bist du nur?
Dezember 1998
Ruhe. Es ist so verdammt still hier. Und diese Stille kann ich nicht ertragen. Ich sitze in meinem Zimmer. In einer Ecke. Auf dem Boden. Das Licht ist aus. Der Raum wird nur von den paar wenigen Sonnenstrahlen erhellt, die durch das Fenster scheinen, doch der Dezember ist mehr grau also sonnig. Meine Knie sind bis zur Brust angezogen. Ich starre die weiße Wand gegenüber von mir an. Nach fünf Minuten starre ich sie immer noch an und auch nach zehn Minuten noch. Es ist eine scheiß weiße Wand. Und ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihr zu lösen. Warum?
Nach einiger Zeit weiß ich nicht mehr, wie lange ich hier schon sitze. Wie lange ich hier schon allein sitze. Ich kann ihn noch immer neben mir spüren. Wie er meine Hand gehalten hat. Wie er mich umarmt und nicht mehr losgelassen hat. Wo bist du nur, Kilian? Wo ist dein Geist? Wie fühlst du dich? Fühlst du überhaupt etwas? Spürt man etwas, wenn man im Koma liegt? Vielleicht ist es auch nur, als würde man schlafen. Man wacht auf und weiß absolut nichts mehr. Weder wo man ist, noch wie lange man geistig nicht anwesend war. Aber er spürt doch, wenn ich bei ihm bin, oder? Was träumst du gerade? Was siehst du? Denkst du an mich? Wenn ich nur mit ihm sprechen könnte. Kann er nicht einfach wieder aufwachen? Wieder zu sich kommen? Wieder lebendig sein? Ich brauche ihn in meinem Leben. Ich bin aufgeschmissen ohne ihn. Wie kann es sein, dass man innerhalb so kurzer Zeit so abhängig von einer Person werden kann? Ich werde ihn niemals loslassen können. Er wird für immer ein Teil von mir sein. Und einen Teil in meinem Herzen einnehmen. Ich glaube, ich werde nie wieder jemand anderen lieben können. Will ich auch gar nicht. Mein Herz gehört Kilian. Für immer! Nur ihm. Er wird wieder aufwachen. Aber was ist, wenn er das nicht tut? Natürlich habe ich noch Hoffnung. Er liegt erst vierzehn Tage im Koma. Es gibt Menschen, die wachen nach einem Jahr noch auf. Aber selbst ein Jahr ist viel zu lang. Ein Jahr ohne ihn. Im Moment unvorstellbar. Es gibt Leute, die gehen ins Ausland und sehen ihre Liebe auch für ein Jahr nicht. Aber die haben die Gewissheit, dass der andere wiederkommt. Und diese Gewissheit habe ich nicht. Normalerweise weiß ich vieles. Und wenn ich etwas nicht weiß, kann ich Leute fragen oder in Büchern nachlesen. Aber ob und wann Kilian aufwachen wird ... Das kann ich nicht wissen. Und das Schlimme ist, niemand weiß das.
In den letzten zwei Wochen hatte ich viel zu viel Zeit, über Dinge nachzudenken. Wenn man allein in seiner Wohnung sitzt und nichts machen will, hat man keine andere Wahl, als über viel zu viel nachzudenken. Ich hätte mich ablenken und etwas mit Leuten machen können, aber dann kommt die ganze Trauer nur wieder hoch, weil jeder fragt, wie es einem geht und wie alles passiert ist. Und darauf hatte ich keine Lust. Und das habe ich noch immer nicht. Ich fühle mich nicht bereit. Ich muss erst einmal für mich allein sein. Solange, bis ich wieder klar denken kann. Ich habe mich praktisch von allem und von allen abgeschottet.
Viel zu oft stelle ich mir die Frage „Was wäre, wenn ...“ Diese Frage ist so gefährlich. Man stellt viel zu viele Theorien auf, erfindet Sachen, die niemals passiert sind, und stellt alles irgendwann so dar, als wäre man selbst schuld.
Was wäre, wenn ich anders gehandelt hätte?
Was wäre, wenn ich an jenem Abend nicht aus dem Raum gerannt wäre?
Was wäre, wenn wir einfach wie geplant zu seiner Mama gegangen