Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich

Gemeinsam einsam durch die Welt - Sina Wunderlich


Скачать книгу
gibt es nicht nur gute Menschen auf der Welt.

      Neyla tut mir unfassbar leid. Ich glaube, das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann, ist, sein Kind zu verlieren. Das ist schlimmer als der eigene Tod und alle Schmerzen dieser Welt. Niemand sollte so etwas erleben müssen. Sie hat Kilian zwar nicht verloren, aber es muss schon schlimm genug sein, ihn so zu sehen. Auch sie hat keine Gewissheit, dass er das hier überleben wird. Wir hoffen es zwar alle, jedoch können wir es nicht wissen. Ich bewundere Neyla. Diese Frau hat nicht nur ein großes Herz, sie ist auch unfassbar stark. Sie wusste, dass in diesem Zimmer ihr eigener Sohn liegt und trotzdem hat sie sich erst mir zugewandt, bevor sie sich um ihr eigenes Kind gekümmert hat. Sie ist nicht in Tränen ausgebrochen und war auch nicht knapp am Verzweifeln, so wie ich es war. Das ist stark sein. Genau das.

      * * *

      Die nackten Äste der zwei großen Bäume wiegen sich im Wind. Man sieht deutlich, dass die Bäume schon sehr alt sind. Die Wurzeln gehen meterweit von den Stämmen der Bäume weg. Blätter sind absolut nicht mehr zu sehen. Der Wintereinbruch ist im vollen Gange. Ich mag den Winter nicht besonders. Viel zu große Pullis anziehen und heißer Kaffee ist das Einzige, was ich an dieser Jahreszeit leiden kann. Oft ist es zu kalt und dann der ganze Matsch draußen. Das braucht doch niemand. Wenn wenigstens ordentlich Schnee liegen würde, wäre meine Meinung wahrscheinlich wieder anders. Aber mit dem Auto durch den Matsch und über die glatten Straßen zu fahren, ist absolut nicht meins. Ich brauche dringend wieder Frühling. Die Zeit, in der sich die Temperaturen langsam in die Höhe verfrachten und die Sonne schön warm scheint. Wenn die Blätter wieder grün werden, die schönen Blumen wachsen und die Welt wieder bunt wird. Nicht so eintönig grau wie jetzt gerade. Wenn man früh aufwacht und das Zwitschern der Vögel hört. Genau diese Zeit brauche ich.

      Ich stehe am Ende des Gangs, in dem Kilian liegt, vor einem riesigen Fenster und schaue nach draußen in die weite Welt. Sie wirkt so traurig. Leichter Nebel schleicht sich durch die Bäume, sodass es da draußen noch düsterer aussieht. Der Anblick der Landschaft erinnert mich an einen Drehplatz für einen Horrorfilm. Es würde mich nicht wundern, wenn als Nächstes auch noch Horrorfiguren hinter den Bäumen auftauchen. Man kann nicht genau erkennen, ob graue Wolken über den ganzen Himmel verteilt sind oder der Himmel an sich so grau ist. Ich habe einen heißen Kaffeebecher in beiden Händen, der meine Finger wärmt. Ein weiterer Nachteil am Winter: Mir ist durchgehend kalt. Auch wenn ich immer mit mindestens zwei Paar Socken durch die Gegend laufe, eine Mütze auf dem Kopf habe, wenn ich rausgehe, und sogar beim Autofahren Handschuhe anziehe, da das Lenkrad immer so kalt ist.

      Ab und zu nippe ich am Kaffee, aber zum Trinken ist er dann doch noch ein wenig heiß. Ich sehe meine Mutter schon von Weitem ankommen, da sie sich in der Glasscheibe spiegelt. Als sie knapp hinter mir steht, drehe ich mich langsam zu ihr um.

      „Alicia, ich muss dann langsam. Willst du dich noch von ihm verabschieden?“

      Natürlich möchte ich das. Eigentlich möchte ich auch gar nicht gehen. Ich glaube, ich bleibe noch ein wenig bei ihm. Er muss spüren, dass ich bei ihm bin. Ich beschließe, dass ich ihn jeden Tag besuchen gehe. Egal, wie viel Stress ich bei meiner Arbeit habe. Und egal, wie lange er hier noch liegen wird. Er braucht mich und ich brauche ihn.

      Zusammen mit meiner Mutter gehe ich zu Kilians Zimmer. Neyla ist schon weg, aber ihre Blumen stehen in einer Vase neben seinem Bett. Es ist irgendwie erschreckend, dass er immer noch genauso daliegt wie vor einer Stunde. Er hat sich nicht gerührt. Er ist nicht aufgewacht. Keine Veränderung.

      An meine Mutter gewandt, erkläre ich ihr, dass ich noch ein bisschen bei ihm bleiben möchte, sie aber ruhig schon gehen könne.

      „Bist du sicher, dass ich dich hier allein lassen kann?“ Sie hat diesen besorgten Gesichtsausdruck, den alle Mütter aufziehen können, wenn es um ihre Kinder geht.

      „Ich komme schon klar. Ganz sicher, Mum“, versichere ich ihr.

      Es ist süß, wenn sie sich Sorgen um mich macht, auch wenn es manchmal nervt. Sie akzeptiert meine Antwort, gibt mir einen Kuss auf die Wange und schreitet dann mit großen Schritten aus dem Zimmer. Wahrscheinlich muss sie noch etwas für die Arbeit erledigen oder einkaufen gehen. Jetzt bin ich wieder allein mit Kilian. Es ist so unfassbar still in diesem Zimmer. Nur das schreckliche Piepen der ganzen Maschinen ist zu hören. Jetzt, wo ich darauf achte, fällt mir auf, dass die Zimmertür offen ist und sich sämtliche Ärzte auf dem Gang unterhalten. Es ist nicht still. Nur in mir drinnen, tief in mir drinnen ist es still. Totenstill. Mein einsames Herz, das schlägt, ist das Einzige, was man eventuell hören könnte. Ich setze mich auf die Bettkante und nehme Kilians Hand. Ich kann ihn nicht ansehen, ohne Tränen in meinen Augen zu spüren. Wie hat er es nur geschafft, mir innerhalb so kurzer Zeit so verdammt wichtig zu werden?

      Ich habe das Gefühl, dass ich ohne ihn nicht mehr leben kann, dabei habe ich ihn erst vor sieben Monaten kennengelernt. Davor waren wir uns komplett fremd, haben uns kein einziges Mal gesehen. Zumindest haben wir uns nicht bewusst wahrgenommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir uns vorher nicht doch irgendwann einmal über den Weg gelaufen sind.

      Es klopft sachte an der Tür und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Ein junger Arzt mit langem weißem Kittel und einer Brille auf der Nase steht an der Tür. Ich habe keine Ahnung, wie lange er dort schon steht und mich mit Kilian beobachtet. Vielleicht wollte er mich nur nicht stören. Ich sehe zu ihm hoch, sage aber nichts.

      Er sieht nett aus und bringt ein zögerliches Lächeln hervor.

      „Er packt das schon.“

      *

      Planänderung

      April 1998

      Übertrieben langsam schlurfe ich den Flur entlang und biege ins Badezimmer ab. Ich taste die Wand suchend nach einem Lichtschalter ab. Ich finde ihn, drücke darauf und bereue meine Handlung sofort. Ich schlage meine Hände vor die Augen. Verflucht, ist das hell! Ich glaube, meine Augen verbrennen gleich. Jeden Morgen das gleiche Drama. Ich dachte ja eigentlich immer, dass sich meine Augen irgendwann mal schneller an das Licht im Bad gewöhnen würden. War wohl nur ein Traum, der so schnell zerplatzte wie ein Luftballon. Ich kneife meine Augen ein paarmal zusammen und öffne sie wieder, um sie an das Licht zu gewöhnen. Wahrscheinlich sehe ich dabei aus, als hätte ich eine Störung. Was bin ich froh, dass ich hier in meiner kleinen Wohnung allein lebe und mich niemand sehen kann. Ich gehe vor zum Waschbecken und lasse Wasser über meine Hände laufen. Danach schaue ich hoch in den Spiegel. Und wer schaut zurück? Ein menschlicher Panda. Wow. Na super.

      * * *

      Kaffee am Morgen ist einfach Pflicht. Ich verstehe nicht, wie Leute in der Früh aus dem Haus gehen können, ohne Kaffee getrunken zu haben. Ich glaube, niemand will mich vor dem ersten Kaffee erleben. Okay, drücken wir es anders aus. Ich weiß, dass mich niemand vor dem ersten Kaffee erleben will. Ist wohl wirklich gut, dass ich hier allein lebe. Ich bin einfach kein Morgenmensch.

      Ich sitze in meiner kleinen Küche. Wobei ich nicht einmal weiß, ob man den Raum Küche nennen kann. Hier steht nicht einmal ein Tisch. Ich besitze genau zwei Barhocker, die an der Arbeitsfläche der kleinen Küchenzeile stehen. Zusätzlich habe ich einen Kühlschrank, ein Waschbecken, Backofen und Mikrowelle. Das Wichtigste halt.

      Betonen möchte ich, dass mein Wasserkocher und mein Toaster pink sind! Ich habe sie beim Einzug von meinem Bruder eigentlich nur als Scherz geschenkt bekommen, aber ich mag sie trotzdem. Mein Kühlschrank ist von oben bis unten mit Postkarten beklebt. Die meisten kommen von meinen Eltern. Seit ich vor zwei Jahren ausgezogen bin, haben sie, so oft es ging, Urlaub an den verschiedensten Orten gemacht. Sie sind zwar beide berufstätig, nutzen aber wahrscheinlich jeden Urlaub, den sie bekommen können.

      Ich liebe meine Eltern über alles. Sie sind zwei wunderbare Personen. Meine Mama – Marilyn Louanne Aveline – hat vor ein paar Jahren die Leitung einer Veranstaltungsfirma übernommen und sie macht ihren Job unglaublich gut, denn die Firma läuft besser als je zuvor. Wie das möglich ist, obwohl sie so oft Urlaub hat, verstehe ich nicht so ganz. Wahrscheinlich hat sie ihre Leute einfach nur total


Скачать книгу