Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich

Gemeinsam einsam durch die Welt - Sina Wunderlich


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      Was wäre, wenn wir diese Reise nie gemacht hätten?

      Was wäre, wenn ...

      Ja, was wäre, wenn wir uns nie kennengelernt hätten?

      Wahrscheinlich hätte ich nicht die schönste Zeit meines Lebens gehabt, aber ich wäre jetzt nicht so unglücklich. Diese endlose Leere wäre nicht in mir. Ich würde nicht stundenlang grundlos die Wand anstarren. Und ich hätte nicht so viele Tränen verloren. Allerdings hätte ich auch nicht die Liebe meines Lebens getroffen. Auch wenn es vielleicht auf Dauer besser wäre, ich würde nichts rückgängig machen wollen, wenn ich könnte. Dieses Gedankenchaos hört einfach nicht auf. Egal wie viel Mühe ich mir gebe, nicht mehr so häufig darüber nachzudenken, genau dann funktioniert es am wenigsten. Egal, was ich mache, ich muss daran denken, wie wir es gemeinsam irgendwann machten. Wenn ich Musik höre, sagt der Interpret immer irgendetwas, was mich an ihn denken lässt. Selbst wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ihn hinter mir stehen. Wie er mich einst umarmte. Wie er mich einst verdammt glücklich machte. Ganz egal, was ich mache, Kilian ist einfach überall.

      * * *

      Ich habe mich doch tatsächlich aus meiner Ecke hervorbewegt. Ich sitze am Fenster und schaue nach draußen. Es ist zwar erst 17 Uhr, aber es dämmert trotzdem schon. So wie das im Dezember eben üblich ist. Es liegt kein Schnee. Es ist einfach nur kalt und grau draußen. Kein schönes Wetter. Aber in den letzten zwei Wochen war ich eh nur dann draußen, wenn ich wirklich dringend etwas brauchte.

      Die Straße vor dem Haus ist wenig befahren. Ich beobachte die Ampel, wie sie von Rot auf Gelb und anschließend auf Grün umspringt und wie ab und zu ein paar Autos an die Kreuzung heranfahren. Wo die Autos wohl gerade hinfahren? Was für Personen sitzen in den Autos? Vielleicht fahren sie gerade von der Arbeit nach Hause, begrüßen gleich ihre Kinder und den Lebenspartner, trinken noch ein Glas Wein beim Abendessen und setzen sich dann gemütlich auf die Couch, um Fernsehen zu schauen. Ich beobachte auch die Personen, die auf den Bürgersteigen entlanglaufen. Eine kleine Gruppe Jugendlicher läuft an der rechten Straßenseite entlang. Vielleicht genießen sie jetzt ihr Leben, machen sich einen schönen Abend und gehen von einem Klub in den nächsten. Vielleicht gehen sie auch ins Kino oder einfach nach Hause, weil sie schon den ganzen Tag miteinander verbracht haben. Auf der anderen Straßenseite geht ein Paar spazieren. Sie haben die Arme umeinandergeschlungen. Beide sehen noch relativ jung aus. Ob ich mit Kilian auch so glücklich aussah? Das Mädchen balanciert auf dem Bürgersteig und verliert relativ bald das Gleichgewicht. Der Junge schnappt sich schnell ihre Hand und fängt sie auf. Beide lachen und laufen weiter. Sie sehen so verdammt glücklich aus.

      Die Welt sieht so schön und friedlich aus, wenn man nur einen kleinen Teil der Welt sieht. Eigentlich ist die Welt schon komisch. Allein wenn man darüber nachdenkt, was alles der Wahrheit entspricht und was eine Lüge ist. Die Welt wird oft besser dargestellt, als sie ist. Und die Menschen haben dementsprechend keine Ahnung, was wirklich passiert. Was eine Lüge ist und was der Wahrheit entspricht. Ein Beispiel ist Urlaub machen. Die Menschen fahren doch oft in den Urlaub, um einen anderen Teil der Welt zu sehen. Doch wohin fahren sie? In irgendwelche Hotels, in denen das Leben perfekt dargestellt wird. Man macht ein paar Ausflüge zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten und meint anschließend, das Land zu kennen. Aber das Land ist doch nicht so, wie es in den Hotels dargestellt wird. Dort wird es dargestellt wie ein Paradies. Ist auch logisch, sonst würden die Menschen ja dort nicht einchecken. Meistens ist ein paar Kilometer von dem Ferienparadies entfernt alles ganz anders. Vielleicht ist Armut zu sehen. Oder sogar Kämpfe und Kriege. Das wahre Leben eben. Die Wahrheit. Der Alltag. Die Welt wird verschönt, weil die Menschen irgendwie Geld verdienen müssen. Wenn alle der Wahrheit ins Gesicht schauen würden, würde niemand mehr dort Urlaub machen. Man fährt schließlich nicht in den Urlaub, um Armut zu sehen. Sondern um zu entspannen und um sich eine Auszeit zu gönnen. Doch das Land kennt man danach ganz sicher nicht. Man kennt einen Teil der verschönten Welt. Man kennt praktisch die Lüge des Landes, die schöne Seite des Landes. Aber das wirkliche Leben des Landes, dementsprechend die Wahrheit des Landes, kennt man nicht. Ganz sicher nicht.

      Ich bin der Meinung, unter den Menschen ist es oft nicht anders. Nicht alle Menschen sind so, allerdings gibt es Menschen, die nur Lügen verbreiten, um selbst besser dazustehen. Wenn man das wahre Gesicht dieser Personen irgendwann erkennt, erschrickt man. Auch kommt es leider vor, dass Menschen über andere Menschen Lügen verbreiten, da sie nur Stichwörter aufgenommen haben, etwas falsch verstehen und Gerüchte verbreiten oder gewisse Personen einfach nicht leiden können und es denen heimzahlen wollen. Man kann in der heutigen Welt nie wissen, ob man das wahre Gesicht einer Person kennt. Man kennt nur das, was über die Person erzählt wird, und das, was die Person über sich preisgibt. In beiden Fällen kennt man die Person im Nachhinein nicht. Wenn man das kennt, was andere erzählen, kennt man die Gerüchte, die definitiv nicht immer stimmen müssen. Man kennt das Bild, wie andere die Person sehen, aber bei Weitem kennt man nicht die Person selbst. Und auch, wenn man das kennt, was die Personen über sich sagen, muss es nicht stimmen. Sie können sich in ein besseres Licht stellen. Und selbst wenn es stimmt, muss es nicht heißen, dass man das Leben einer Person dann kennt. Man kennt immer nur das, was die Person über sich erzählt. Nie das komplette Leben einer Person. Es gibt immer etwas, was sie einem verschweigt. In der heutigen Welt weiß man nie, ob es das wahre Gesicht einer Person ist, in das man schaut, und ob es die Wahrheit von der Welt ist, die dargestellt wird. Ob alles nur eine Lüge oder ob es die Wahrheit ist.

      Ich schrecke nach oben und raus aus meiner Gedankenwelt. Das Telefon klingelt. Vielleicht ist es ein Anruf aus dem Krankenhaus oder von meiner Mama. Vielleicht ist Kilian aufgewacht oder es gibt eine Besserung seines Zustands. Oh Kilian. Ich wäre so glücklich, wenn alles gut werden würde. Ich springe auf und renne hektisch in das Wohnzimmer.

      Ein verpasster Anruf von Philias, steht auf dem kleinen Display. Es war nur Philias. Auch wenn er mein bester Freund ist, möchte ich gerade nicht mit ihm sprechen. Ich möchte mit niemandem sprechen. Ich lasse den Kopf hängen. Schon wieder habe ich mir Hoffnungen gemacht, dass Kilian aufgewacht ist. Ich mache mir bei jedem Klingeln Hoffnungen. Egal ob Telefon oder Türklingel. Und dann steht nur der Postbote davor und ich könnte auf der Stelle losheulen, weil ich mir solche Hoffnungen gemacht habe. Hoffnungen auf gute Nachrichten. Man sollte sich niemals Hoffnungen machen. Egal wegen was. Wenn es nicht so kommt, wie man will, ist man nur enttäuscht. Diese Ungewissheit, nicht zu wissen, woran ich bin, macht mich komplett fertig.

      * * *

      Ich habe beschlossen, mich in mein Bett zu pflanzen und einen Kaffee zu trinken. Mittlerweile ist es fast 23 Uhr. Um diese Uhrzeit trinke ich eigentlich keinen Kaffee mehr, aber heute ist irgendwie alles anders. Ich denke wieder zu viel nach, doch ich bin nicht so niedergeschlagen wie in den letzten Stunden. Viele behaupten immer, das Leben sei nicht fair. Könnte man ja auch behaupten. Gerade ich könnte das behaupten. Ich meine, wo ist es bitte fair, dass die Liebe meines Lebens im Koma liegt und mich allein gelassen hat? Das ist nicht fair. Ganz bestimmt nicht.

      Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger Sinn macht es. Man könnte nämlich wiederum auch behaupten, dass das Leben doch fair ist, weil es zu allen Menschen unfair ist. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob meine Theorie logisch ist. Ich glaube allerdings nicht, dass es Sinn ergibt. Es gibt Menschen, die müssen in ihrem Leben viel Schlimmeres durchmachen als andere. Das Leben ist also zu manchen Menschen fairer als zu anderen. Somit ist das Leben doch unfair. Das Leben ist unfair, weil es zu manchen Menschen unfairer ist als zu anderen. Komplizierte Sache mit dem Leben. Doch was nicht kompliziert ist, ist, dass wir Menschen brauchen. Wir brauchen die Menschen, die wir lieb haben, einfach. Ganz besonders in den Momenten, in denen es uns schlecht geht. Manchmal schaffen wir es nicht allein, aus dem großen schwarze Loch heraus. Wir brauchen einen Menschen, der sich zu uns setzt und uns sagt, dass es wirklich nicht schön dort ist. Jemanden, der uns die Hand reicht und uns aus diesem düsteren Loch zieht, weil wir es ohne Hilfe einfach nicht schaffen. Jemanden, der uns auf andere Gedanken bringt, uns ablenkt und für uns da ist. Jemanden, der uns liebt, ganz egal, in welcher Situation man sich befindet.

      Es ist nicht kompliziert. Es ist eine Tatsache, dass wir die Menschen brauchen, die wir lieben. Manchmal braucht es nur ein wenig, bis wir das verstehen. Genauso ist es bei mir. Ich wollte für mich


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