Gemeinsam einsam durch die Welt. Sina Wunderlich
reden. Auch wenn wir dann noch einmal weinen müssen, weil alles wieder hochkommt, danach geht es einem besser. Manchmal muss man einfach alles rauslassen und es nicht in sich hineinfressen. Das macht einen nur kaputt.
Ich weiß, dass das Leben nicht fair ist. Gerade jetzt ist es absolut nicht fair zu mir. Doch ich kann diese Situation nicht ändern. Dazu bin ich nicht fähig. Ich sollte mich nicht von allem abschotten. Ich brauche die Menschen, die ich liebe. Mein Gott, wie konnte ich nur so blöd sein? Ich brauche Philias in meinem Leben. Dringend. Ich brauche doch meinen besten Freund. Er ist bestimmt ganz krank vor Sorge, weil ich mich seit Ewigkeiten nicht gemeldet habe. Nur, weil ich so stur war und lieber in meiner Trauer ersticken wollte. So ein Schwachsinn.
Langsam stehe ich auf. Ich gehe in den Flur, nehme das Telefon in die Hand und setze mich an das Fenster. Es ist stockdunkel geworden. Der Mond steht weit oben am Himmel und wirft Licht in mein Zimmer. Die Welt sieht mal wieder so friedlich und unschuldig aus. Auf den Straßen ist nichts los. Ich wähle eine Nummer und warte. „Komm schon. Geh ran. Ich weiß, dass du noch wach bist.“ Tatsächlich nimmt er kurze Zeit später ab.
„Philias? Es tut mir so leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich brauche dich doch.“
*
*
Seljalandsfoss
Mai 1998
Immer diese Menschen, die zu spät kommen müssen. Wo bleibt er nur? Oh Gott. Weiß er überhaupt, wann er am Flughafen sein muss? Ich dachte, Philias hätte es ihm gesagt! Seine Verspätung ist definitiv nicht in meine Zeitplanung mit eingerechnet! Also wenn er hier nicht bald auftaucht, dann gehe ich ohne ihn.
Nein! Stopp! Ich kann nicht allein in ein Flugzeug steigen. Ich brauche jemanden an meiner Seite. Ich bin noch nie in meinem Leben geflogen. Das machen meine Nerven nicht mit, wenn er mich jetzt allein lässt. Wieso taucht dieser Kerl denn nicht auf? Mein Gott, bin ich eigentlich dumm? Wieso habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Wieso fliege ich mit jemanden, den ich eigentlich gar nicht kenne, einfach so ans andere Ende der Welt? Aber Philias hätte mich niemals mit jemandem weggelassen, wenn er nicht genau wüsste, wie er tickt. Philias ist wie ein großer Bruder für mich, wie ein Beschützer.
Wo zum Teufel steckt Kilian? Ich laufe langsam zum Check-in-Schalter vor, bleibe aber nach zwei Schritten stehen. Ich kann das nicht ohne ihn. Wo bleibt er nur? Ich kaue auf meiner Lippe herum und stelle meinen Koffer neben mir ab. Ich spüre eine Hand an meiner Taille und zucke zusammen. Aua! Jetzt habe ich mir auf die Lippe gebissen! So ein Mist! Kurz bevor ich um mich geschlagen hätte, erkenne ich Kilian. Ich atme erleichtert aus. „Du bist zu spät!“, zische ich und schlendere mit meinem Koffer an ihm vorbei, vor zum Check-in-Schalter. Er macht zwei große Schritte und hat mich wieder eingeholt.
„Ich bin nicht zu spät! Voll pünktlich. Nur zwanzig Minuten zu spät. Aber die Zeit reicht doch noch vollkommen aus.“ Er zieht die Augenbrauen hoch und grinst mich an. Mein finsterer Blick lässt sein Grinsen leider nicht auslöschen. Wenn das jetzt sieben Monate so geht, raste ich aus. Es ist schließlich nicht nur ein Urlaub, sondern fast eine Weltreise.
* * *
„Darf ich dich mal was fragen?“
Wir sitzen nebeneinander im Flugzeug und sind gerade gestartet. Ich habe immer noch ein mulmiges Gefühl. Der Druck in meinen Ohren lässt langsam nach. Es ist schon faszinierend, dass so eine schwere Maschine abheben kann. Die Welt sieht von oben so unfassbar klein aus. Alles schaut aus wie Spielzeug. Wie eine Landschaft in einem Modelleisenbahnmuseum. Ich habe darauf bestanden, dass ich am Fenster sitzen darf. Kilian hat mich schon total komisch angeschaut, als ich ihm erzählt habe, dass ich noch nie geflogen bin. Ich wende meinen Blick nur langsam vom Fenster ab und schaue ihn fragend an.
„So eine Reise ist ganz sicher nicht billig. Ich meine, es sind sieben Monate. Wo hast du das ganze Geld her, wenn du auch noch die Tickets für Philias mit bezahlt hast?“
„Meine Oma hatte viel Geld, als sie starb. Sie hat es mir und meinem Bruder vermacht, als sie leider von uns gegangen ist. Sie hat sich immer gewünscht, dass ich ihre Lieblingsorte auf der Welt auch einmal sehe. Sie ist viel gereist in ihrem Leben. Ich glaube, ein wirkliches Zuhause hatte sie nicht. Sie war überall Zuhause. Kurz bevor sie starb, gab sie mir eine Liste mit den Ländern, die sie liebte und die ich mir unbedingt anschauen solle. Diese Liste arbeite ich jetzt ab.“
Er nickt nachdenklich und wendet seinen Blick wieder von mir. Ich drehe mich gerade wieder zum Fenster, als er mich anstupst. „Ist mir ein bisschen peinlich, das jetzt zu fragen. Hab’ eben nicht aufgepasst. Aber ... ähm wohin fliegen wir eigentlich? Irland? Island? Irgendwas mit I. Oder?“ Ich muss lachen. Als ob er einfach in ein Flugzeug steigt, mit einer wildfremden Person neben sich, und nicht mal weiß, wohin es geht. Philias scheint ihm ja echt viel erzählt zu haben.
„Unsere erste Station ist Island.“
„Ist es da nicht total kalt?“ Er verzieht das Gesicht.
„Na ja fünf Grad, wenn wir Glück haben. Aber glaube mir, die Landschaften müssen der Hammer sein! Die werden dir auch gefallen, obwohl es kalt ist.“
„Musst mich noch überzeugen von dem Land, befürchte ich. Wo geht es danach hin?“
„Das sag ich dir nicht. Lass dich überraschen, wo die Flugzeuge dich so hintragen“, sage ich schmunzelnd.
Er verdreht die Augen. „Ich wandere doch gerne durch die Welt, ohne zu wissen, wo wir gerade sind. Und wo übernachten wir? Ich hoffe ja mal nicht, auf der Straße.“
„Doch natürlich. Als ob ich dich mit in meinem Bett schlafen lasse.“
Jetzt müssen wir beide lachen.
„Nur der Anfang der Reise ist komplett gebucht. Am Ende sind es nur die Flüge, da habe ich noch keine Jugendherbergen. Aber wir sind ja spontan. Ich hoffe zumindest, dass du es bist. Ich plane nämlich alles eigentlich immer durch. Philias hat mir nur verboten, die ganze Reise von vorne bis hinten zu buchen. Er wollte mir Spontanität beibringen. Ihn hat es genervt, dass ich immer alles planen muss. Dumm ist nur, dass es mich wahnsinnig macht, wenn ich etwas nicht planen kann. Du hast allein schon mit deinen zwanzig Minuten Verspätung meinen ganzen Zeitplan durcheinandergeschmissen. Gewöhn dir das ja ab.“
„Alter Schwede. Hol mal Luft zwischendurch. Das ist ja nicht normal, wie schnell und wie viel du redest. Gewöhn dir das mal lieber ab, sonst halte ich es keine zwei Stunden mit dir aus.“
Ich grinse ihn nur an. Da hat er recht. Das ist eine meiner Schwächen. Ich rede definitiv manchmal zu viel. Und vor allem zu schnell. Ich lehne mich entspannt zurück und schaue aus dem kleinen Fenster. Jetzt kann ich nur noch viele weiße Wolken und blauen Himmel erkennen.
* * *
Nach sechseinhalb Stunden Flug sind wir endlich in Reykjavik angekommen. Die Hauptstadt Islands. Als wir aus dem Flugzeug steigen, ist es tatsächlich kälter, als ich erwartet habe. Da fliegt man im Mai in den Urlaub und es ist kälter als in der Heimatstadt. Aber das hatte ich ja geplant. Die Sommerklamotten bleiben in diesem Monat wohl definitiv im Koffer. Die frische, kalte Luft tut trotzdem gut, als wir endlich aus dem Flugzeug dürfen.
Eine kurze Taxifahrt später sind wir auch in unserem Hostel angekommen. Es ist nicht sonderlich groß, aber bis jetzt sind die Menschen total nett und auch mit unserem Zimmer komme ich klar. Ich stelle meinen Koffer an eine Wand und betrachte das Zimmer genauer. Ein kleines Zimmer, das aber vollkommen ausreichend ist. Es ist mit zwei Betten, einem Tisch, einem großen Schrank und einem Bad ausgestattet. Mich wundert es, dass es sogar zwei Betten gibt und kein Doppelbett hier steht, aber das ist mir auch ganz recht so. Kilian hat schon ein Bett beschlagnahmt und seine Sachen darauf geschmissen.
„Wie lange bleiben wir jetzt hier, wenn ich fragen darf?“, fragt er mich. Die Betten sind so hoch, dass er