Uwe Johnson. Bernd Neumann
den Leitern der Anstalt – Kommandeur, Erziehungs- und Unterrichtsleiter – wird in einer kurzen Besprechung mit Vater und Jungen zunächst erkannt werden müssen, wieweit der Aufnahme Begehrende in die Anstalt paßt. [...] Die zweite Vorbedingung ist die rein körperliche Anlage des Jungen. Schwächliche Kinder mit körperlichen Fehlern, mit Erbkrankheiten (Herzfehler, Augenfehler) sind völlig ungeeignet. Bedauerlich persönlich, ein tüchtiger, rassisch einwandfreier Knabe mit solch einem Fehler, aber Humanitätsgefühle: ach der arme Junge! sind unzulässig.
Daß nun gerade Uwe Johnson, trotz eines manifesten Augenfehlers, in die nationalsozialistische Sonderschule in Kosten aufrückte, spricht für seine Schulzeugnisse. Und für die Bereitschaft der Eltern, den Knaben fortzugeben. Seit dem 7. Oktober 1937 war durch den Reichsbildungsminister Rust verfügt, daß sämtliche Volksschulen
diejenigen Jungen des dritten und vierten Schuljahres, die für eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt geeignet erscheinen, zum 1. November jedes Jahres dem Kreisschulamt melden. Der Kreisschulrat reicht die Vorschläge der nächstgelegenen Nationalpolitischen Erziehungsanstalt auf dem Dienstwege weiter.
Dieser Dienstweg muß die Akte Johnson (und vermutlich auch den Knaben selbst) über Köslin geführt haben. Vom Oktober bis zum November 1943 wird Uwe Johnson einer Vormusterung ausgesetzt gewesen sein, durchgeführt vom Anstaltsarzt, dem Unterrichtsleiter und einigen anderen Erziehern in der am nächsten gelegenen NaPoLa, im Fall des Anklamers also im genannten Köslin. Dort wurde sein Schädel vermessen, seine Abstammung untersucht, wurden seine Zeugnisse gelesen, die Farbe der Augen, der Abstand zwischen Nase und Kinn, der Neigungswinkel der Stirn, die Kopfform insgesamt taxiert. Neben den Zeugnissen muß auch die Gesundheit des Knaben erstklassig gewesen sein. Denn von allen Volksschülern des Reichs, das damals rund 80 Millionen Menschen umfaßte, wurden pro Jahrgang lediglich vierhundert zur Vorprüfung für die NaPoLa angenommen. Hinzu kamen noch die, die von den Eltern direkt gemeldet wurden. Lediglich 100 bis 120 Schüler wurden nach der Vorprüfung zur Aufnahmeprüfung zugelassen, die wiederum nur ein Drittel bestand.
Auch die praktischen Prüfungen waren in allen Fällen ähnlich. Überhorst hat sie nach dem Zeugnis eines »Jungmann K.« aus der Klasse 5a beschrieben:
Dann führte man uns die Panzernahbekämpfung vor. Wir sahen wie gefährlich ein Panzer ist und wie schwer er zu »knacken« ist. Das »Knacken« eines Panzers erfordert vor allem Ruhe, Schnelligkeit und Geistesgegenwart. Wir sahen, wie SS-Männer einen russischen Panzer vom Typ T 34 auf sich zurollen ließen und erst im letzten Augenblick, als die Ketten des Panzers etwa 75 cm vor ihrem Körper waren, zur Seite sprangen. (Überhorst, Elite, S. 396)
Diese heroische Seite besaß freilich auch ihr administratives Gegenbild. Da es sich bei dem Ganzen um eine deutsche Auslese handelte, war nämlich noch die geringste Einzelheit detailgenau geregelt:
Die Reisekosten zur Aufnahmeprüfung und der Aufenthalt in der Anstalt (täglich 1,30 Reichsmark) gehen zu Lasten der Eltern. Es empfiehlt sich, die Fahrkarte des Jungmannen für die Hinfahrt von der Bahn zu »Reklamationszwecken« bescheinigen und sich aushändigen zu lassen, da die Kosten dieser Fahrt bei Bestehen der Prüfung auf Antrag zur Hälfte erstattet werden können. (Überhorst, Elite, S. 83)
Erna Johnson, eine glückliche deutsche Mutter, wird im Sommer 1944 den Vorschriften gefolgt sein. Sie hat ihrem Sohn zusammengestellt und ganz gewiß mit seinem vollen Namen versehen:
1 braune Sporthose,
1 Braunhemd,
1 schwarze Badehose,
1 kurze Hose,
1 Badetuch,
2 Paar schwarze Strümpfe,
1 Paar Hosenträger,
1 weißes Turnhemd,
1 Wäschebeutel,
1 Nähkästchen,
1 Wandereßbesteck,
1 Zahnbürste mit Behälter,
1 Reisekoffer oder Reisekorb,
3 Nachthemden oder Schlafanzüge,
4 Handtücher, Seife,
1 Handbürste,
2 Waschlappen,
1 Nagelscherchen,
18 Taschentücher,
1 Paar Turnschuhe,
1 Kleiderbürste, evtl. Rasierzeug,
1 Wasserglas,
2 Putzlappen,
Schuhputzzeug. (Überhorst, Elite, S. 84)
Damit ausgerüstet, ein Besitzer von insgesamt 18 Taschentüchern, reiste ein Knabe im Sommer 1944 aus seinem Anklamer Häuschen ins Internat der Kostener »Heimschule«.
SCHULUNTERRICHT UND SONNENWENDFEIER
Die in der »Heimschule« mißbrauchte Sehnsucht nach Gemeinschaft wird Uwe Johnson, vor allem im Sport, recht grausam zugesetzt haben. Seine gesamte Persönlichkeit stand quer zu dem, was in der »Heimschule« gefordert wurde. Und doch wird er sich gewünscht haben, dazuzugehören. Alles erschien abgestellt auf die Identifikation mit dem Aggressor, machte sie doch das Zentrum von Herrschaftsausübung in beiden Totalitarismen unseres Jahrhunderts aus. Im Unterwerfungsritual stand das Schauspiel der Gewalt mit seiner archaischen, wortwörtlich bluttriefenden Attraktion im Mittelpunkt. »These new boarding-schools, therefore, fifteen in number, started in 1933, were modelled in more than one respect upon our English Public Schools« – so hat es damals ein Engländer, der in Hitlers Reich zu Besuch weilte, aufgeschrieben (auch dies zitiert nach Überhorst, Elite, S. 321). Das Englische stand an zentraler Stelle im Lehrplan dieser Schulen. Vor dem Krieg waren Schüleraustausch und ständige Verbindung mit englischen Schulen häufig. Vor allem den Sport als hochrangigen Erziehungsfaktor hatten Public School und NaPoLa gemeinsam. Statt des englischen Mannschaftssports freilich wurde in den von der SS gesteuerten Anstalten das Boxen Mann gegen Mann verordnet. Eine NaPoLa-eigene Zeitschrift, Der Jungmann, veranschaulicht, wie es dabei zuging:
In der [Aufnahmeprüfung] fing es an. [...] Die Zugführer standen mit Notizblock und gezücktem Bleistift bereit, jeden Fehlschlag zu vermerken. Die ersten Gegner machten sich fertig. Auf das Kommando »Los!« schossen sie wie zwei Kampfhähne aufeinander und begannen eine schreckliche Schlägerei. Sie dachten: »Je mehr wir aufeinander losgehen, desto höher wird es uns gewertet.« Schlag um Schlag prasselte auf die nackten Körper. Jeder kniff die Augen zu und schlug wild um sich. Schließlich mußte der Zugführer wegen blauer Augen und roter Nasen den Kampf abbrechen. (Jungmann, Jg. 1936, Heft 2, S. 29)
Über Uwe Johnsons Gemütsverfassung auf dem NS-Internat gibt ein Brief Auskunft, den er am 5. August 1981 an den Schulfreund Heinz Lehmbäcker gesandt hat:
Dear Henry
ich habe zu danken für zwei Briefe, vom 12. und 27. des vorigen Monats, auch für Glückwünsche zu einem Tag zwischen den beiden. Dieser 20. Juli ist mir in einem recht frühen Sommer abhanden gekommen. 1944 war ich in eine »Nationalpolitische Erziehungsanstalt« getan, eine Kaserne von einem Internat, da wurde den halben Tag Sport als Heeresdrill betrieben, auch die Freizeit war der militärischen Erziehung gewidmet, so dass ich zu leiden hatte, Brillenträger schon damals. Am 19. befand die »Stube«, ich hätte ihre Ehre durch mangelhaften Bettenbau geschändet, so dass das Geschenk zum Geburtstag in den frühen Morgenstunden erschien als nächtliche Abreibung, »Heiliger Geist« genannt, und ich am Abend recht erleichtert war über die Nachricht, in Berlin sei die Regierung abgeschafft worden, in deren Sinne Kinder der Maßen abgerichtet wurden. So fällt mir zum 20. Juli immer zuerst ein, und verdrängt das private Datum, dass an diesem Tage etwas zu meinem persönlichen Nachteil schief gegangen ist. Tatsächlich habe ich ihn in diesem Jahr zum ersten Mal zu begehen versucht. Aber in dem Luftkissenfahrzeug zwischen Dover und Frankreich, dieser fliegenden Garage, fiel mir angesichts der vierzig Minuten Reisezeit doch wieder als Hauptsache ein, dass Hitlers Seelöwe zu lahm war für diese Strecke, und in Boulogne-sur-Mer sah ich am deutlichsten an der höckerigen Stadt die vielen Eisenbahntunnel, in der [sic!] Hermann Meier mit seinem Sonderzug Asien sich verkroch, weil er Schiss hatte