Uwe Johnson. Bernd Neumann
daß mein Vater geboren wurde im Ritterschaftlichen Amte Crivitz und aufwuchs im Domanialamt Schwerin. [...] Dem bin ich verbunden nicht nur durch einen Vater, einen Absolventen des Landwirtschaftlichen Seminars Neukloster und Verwalter herrschaftlicher Güter, sondern auch durch eigene, ausgiebige Beschäftigung mit dem Boden dieses Landes, beim Kartoffelwracken, Rübenverziehen, Heuwenden, Einbringen von Raps und Roggen, des Umgangs mit Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen. (ebd., S. 159)
Anklam gab im Lebensplan der Eltern die entscheidende Station ab. Bereits 1934 erscheint die Familie unter der Anklamer Adresse »Am Markt 23« als gemeldet. Alles spricht also dafür: Lediglich die Mutter war zur Geburt des Kindes nach Cammin, in das ihrem elterlichen Hof am nächsten gelegene Krankenhaus, zurückgegangen. Johnson selbst hat später in dem Interview mit Wilhelm Johannes Schwarz (S. 88 f.) ausgeführt, daß er »die ersten Jahre (s)eines Lebens« an einem Ort in Mecklenburg verbracht habe. Da sprach er von Anklam.
Die Verbindung nach Cammin allerdings dauerte an. Sie war nun auch leichter aufrechtzuerhalten. Denn spätestens seit 1936 hatte das automobile Zeitalter im Haus der Johnsons eingesetzt. Das geschah in Form eines DKW-Kleinwagens, der ein Dienstwagen für Erich Johnson und ein willkommener Anlaß für seine Frau Erna war, sich der Führerscheinprüfung zu unterziehen. Auch darin setzte der Geist der Zeit sich durch. Keine zwei Jahre vor der Geburt des Uwe Klaus Dietrich war die erste der famosen Autobahnen des »Führers« eingeweiht worden, jene zwischen Köln und Bonn. Der Besitz eines Autos freilich war noch längst nicht an der Tagesordnung. Außergewöhnlich war erst recht, daß eine Frau den Führerschein erwarb. Die sozial erheblich ehrgeizige Erna Johnson absolvierte die praktische Prüfung ganz als Honoratiorenfrau. Sie erregte bei dieser Gelegenheit Aufsehen durch ihren ausladenden Sommerhut. Nach ihm muß sie sogar einmal gefaßt haben, als der mecklenburgische Sommerwind ihn entführen wollte. Das wiederum kostete die Aspirantin beinahe die Prüfung, ereignete der Vorgang sich doch am Volant. Doch Erna Johnson bestand. Nun fuhr sie oft und gern nach Wollin und Cammin und hatte den Knaben im Auto bei sich. Jetzt erblickt er, der später ein Reisender aus Leidenschaft sein wird (und dennoch nie den Führerschein machen wird), die schwarzen Wasser der Dievenow. Eine schillernd sich schlängelnde Schlange aus Wasser. Die Wegstrecke verlief mit Wasserblick auf beiden Seiten. Eine Straße, die sich dem Wasser anschmiegte, als ginge es unentwegt in die Ferien. Auf diese Weise, mit der Mutter zusammen im eigenen Wagen, die Mutter nun einmal ganz für sich allein, vermag einer zu lernen, das Reisen zu lieben für ein ganzes Leben.
Nach 1945 gehörte die frühe Gegenwelt Wollin zu Polen. Uwe Johnson besuchte da bereits eine der »Neuen Schulen« der späteren DDR. Und fand historisch gerecht, was sich in seiner nahen Verwandtschaft abspielte. Vergaß dennoch nie die Geborgenheit, die er auf Wollin erfahren hatte. Im Gegenteil: Daß Wollin in der Konsequenz des verlorenen Eroberungskrieges an Polen fallen sollte, ließ die Insel in den Mutmassungen vollends zum Ort jener Heimaterfahrung und Heimaterinnerung werden, für die sich, paradox genug, als unabdingbar erweist, daß sie real unerreichbar zu sein hat.
»Am Markt« in Anklam wohnten die Johnsons nur einige Jahre. Erkenntnisse über diese Zeit gehen einerseits auf Uwe Johnsons Leipziger Studienakte zurück, vor allem auf Berichte einer Nachbarin, die den Knaben Uwe in den zur Rede stehenden Kinderjahren erlebt hat. Im Sinne der Literatur als dem Gedächtnis der Menschheit erscheint als konsequent, daß diese Frau selbst Aufnahme in das Werk Uwe Johnsons gefunden hat. Im Abschlußband der Jahrestage, in dem Johnson zurückkehrt an die Stätten von Kindheit und Jugend, tritt der Schüler Lockenvitz auf. Dieser »freie deutsche Junge« erscheint als ein Alter ego wie eigentlich kein zweites in Uwe Johnsons Literatur. Es ist denn auch Lockenvitz, »der die Frau Knick aus der verlorenen Heimat kannte, eine vermögliche Bürgerstochter, keine Tochter von Arbeiter und Bauern«. (Jahrestage, S. 1814) Bei dieser Dame handelt es sich um die Ehefrau Anneliese des Englischlehrers von Uwe Johnson, Dr. Hansjürgen Klug. Dieser Pädagoge wurde von seinen Schülern in Güstrow »Clever« geheißen und von Johnson als »Hansgerhard Knick« nur unbedeutend verfremdet in die Jahrestage hineingenommen. Anneliese Klug, eine geborene Röhl vom Jahrgang 1923, kam in Anklam zur Welt, wuchs dort auch auf und machte 1942 ihr Abitur. Sie fungierte zeitweilig als eine Art Kindermädchen für den Knaben Johnson. Die 13- bis 14jährige Anneliese Röhl wohnte mit Johnsons im gleichen Haus. Das war »Am Markt 23«. Heute klafft dort eine große Lücke, Folge noch des Krieges. 1937 standen die Johnsons unter dieser Adresse im Anklamer Adreßbuch. Der zweijährige Uwe wurde von Anneliese viel in der Stadt herumgefahren, weil die Mutter meinte, die eher triste Umgebung des Mietshauses sei ihm wenig ersprießlich. Ein »reizendes« und stilles Kind ist der Junge gewesen, dessen spiralige rotblonde Locken die Mutter freilich schon früh stutzte, auf daß ihr Sprößling »männlicher« aussehe. Wenn irgendwer, so war dieses Kind ein »Lockenvitz«. Auch die frühesten Fotos zeigen ihn so, ganz vertieft in sein Spiel und ernst in Richtung des Photographen schauend. Auf dem Spielanzug aber, über dem Herzen des Kindes, erkennt der Betrachter das Zeichen des Frauenschaftsverbandes des »Dritten Reiches«. Der hier noch spielte, wird fortgegeben werden zur höheren Ehre eines »Führers«. Uwe Johnsons Mutter war überaus tätig in diesem Zusammenhang. Erich Johnson dagegen galt nicht als ein besonders überzeugter Nazi. Niemand würde später verstehen, daß die Rote Armee diesen ruhigen Mann ins von den Nazis übernommene KZ Neubrandenburg verbringen würde. Der Vater hatte sich politisch eigentlich nie exponiert. Seine politische Überzeugung war geradezu unbekannt. In die Partei trat er erst spät, im Krieg – genau am 1. März 1940 – und da unter erheblichem Druck, ein. Einen Reflex dieser Tatsache bietet die Vaterfigur des Dritten Buchs über Achim. Überhaupt tat Erich Johnson sich wenig hervor, und wenn, dann allenfalls in beruflicher Beziehung. »Verstanden hat sie ihren Mann, glaube ich, nicht« – so die Nachbarin Anneliese Klug über Erna Johnson. Die Mutter ihrerseits gehörte nie der Partei an. Doch die Mitgliedschaft stellt in unserem Zusammenhang gar nicht das Wesentliche dar. Man dürfte nämlich bei den Johnsons für das Neue Reich vor allem deshalb plädiert haben, weil man sich von ihm die Erfüllung der eigenen sozialen Aufstiegsträume versprach. Aber auch lesend strebte man nach Höherem. Es gab Bücher, die man 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee von zu Hause mitnahm. Deren Spannweite reichte »von der gebundenen ›Gartenlaube‹ bis zu ›Die letzte Reckenburgerin‹ von Louise von François (1817–1893)«, so erinnern es die Begleitumstände (S. 34). Der Vater pflegte der Mutter solche Literatur aus Anlaß von Geburtstagen und anderen Festen zu schenken – auch wenn er es gar nicht gern sah, daß sie diese dann süchtig las. Die Familie des »Obertierzuchtwarts« Johnson gab sich also vom DKW bis zur Lektüre als Aufsteigerfamilie, und diesen Aufstieg hatte Hitlers Regime möglich gemacht. Das band die beiden Johnsons an ihren »Führer«, so wie es Millionen anderer »Volksgenossen« verpflichtete. Dabei kann kaum Zweifel daran bestehen, daß diese Bindung ausgeprägter auf seiten der Mutter auftrat. Dennoch, und das muß deutlich ins Bewußtsein gehoben werden, handelte es sich bei den Johnsons um eine ganz normale Familie des damaligen »Dritten Reiches«. Was man fürs »Winterhilfswerk« spendete, war durchaus im Rahmen des Üblichen, wie Nachbarn sich erinnern, und auch sonst gab es Auffallendes kaum zu vermelden.
Erna Johnson steht als eine untersetzte blonde Frau vor uns, mit äußerst bestimmtem, dominantem Blick. Gab sie eine jener »atemlosen Gebärerinnen« (Drittes Buch) ab, die ihren »Führer« verehrten – und die andererseits doch eher an sozialem Aufstieg als an wirklich politischem Engagement interessiert waren? Ihr Mann mochte ihr von der Ausbildung und vom Sozialprestige her überlegen gewesen sein. Sie versorgte ja ausschließlich den Haushalt. Andererseits war sie fast ein Jahrzehnt jünger als er und immerhin ein Kind von Leuten, die einen eigenen Bauernhof besaßen. Dieser Besitz mag Erna Johnson zu Selbstbewußtsein verholfen haben gegenüber ihrem Mann. Um so mehr wuchs das freundliche und stille Kind Uwe auf die Mutter bezogen auf, zudem der Vater viel unterwegs war in Ausübung seines Berufes, der ein Herumreisen in den Molkereien des Bezirks erforderte. »Von seiner Herkunft, seinen Eltern sprach er kaum – mein Eindruck war ein gestörtes Verhältnis zur Mutter, ohne Kommentar über die Hintergründe«, so die amerikanische Verlegerin und spätere mütterliche Freundin Uwe Johnsons, Helen Wolff (in: »Wo ich her bin ...«, hg. von R. Berbig und E. Wizisla, Berlin 1993, S. 158). Kein Zweifel: Energie, Mobilität, die Bildungsaspirationen des Kleinbürgertums mit den entsprechenden Erziehungsvorstellungen zeichneten Uwe Johnsons Mutter aus.
EIN