Uwe Johnson. Bernd Neumann
einen Vater zu finden aus dem Jahr 1975 bietet erste Antworten. Seine Anfangspassagen vergegenwärtigen, was der »Urahn« August Nikolaus Mård im Mecklenburg seiner Zeit erblickt haben wird. Dem entspricht, daß Uwe Johnson für den Versuch, einen Vater zu finden auch auf die Lebenserinnerungen seines alten, verehrten Güstrower Englischlehrers Wilhelm Müller zurückgriff, die dieser auf des Schülers dringenden Wunsch in langen Briefen niedergeschrieben hatte und die zurückreichen in das Mecklenburg der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Uwe Johnson erblickt also im Versuch, einen Vater zu finden das Land Mecklenburg gleichsam mit den Augen seines Großvaters, wenn er die Situation beschreibt, in der Gesines Vater Heinrich Cresspahl aufwächst:
Es war ein Land, daraus liefen die Arbeiter fort, an die Hunderttausend in fünfzig Jahren, ein Sechstel des Staatsvolkes, da hatte der Mecklenburgische Patriotische Verein schon 1856 vergeblich John Brinckmans »Fastelabendsprärig« als Flugblatt verteilen lassen. [...] Mecklenburger vom Gesinde durften nicht ohne Erlaubnis der Dienstherrschaft aus dem Haus, vom Hof. (Versuch, einen Vater zu finden, S. 9)
Um das Jahr 1865 verließ Johnsons Urahn August Nikolaus Mård, von Zukunftslosigkeit und Arbeitslosigkeit vertrieben, das schwedische Småland. Er wollte das Geld für eine geplante Australien-Passage in Mecklenburg verdienen, wo, sein Enkel wird es beschreiben, die Arbeitskräfte fehlten. Vom nahegelegenen Hamburg aus gingen die Auswanderertransporte in die Neue Welt.
Die schwedische Familie Mård stellte seit Generationen eine Soldatenfamilie dar, was Johnson seinerseits wußte, der am 5. August 1959 an Walter Boehlich geschrieben hat: »Und mein Grossvater war noch schwedischer Staatsbürger und Soldat.« Nach der Mitteilung des schwedischen »Arkivet för Ordbok över Sveriges Medeltida Personnamn« in Uppsala läßt sich keinerlei landschaftliche Etymologie mit dem Namen »Mård« (deutsch »Marder«) konnotieren. Der Name habe jedoch eine Verbindung mit dem gleichnamigen kleinen Raubtier, auf deutsch eben »Marder«, und sei wahrscheinlich als ein Soldatenname anzusehen. Der Name mag daraus entstanden sein, daß Schwedens Bürger und Bauern die einquartierten Soldaten als unerwünschte Kostgänger empfunden haben. Als eine Bedrohung des eigenen Lebensunterhalts insgesamt und ganz konkret für ihre Hühnerställe. In Hanne-Lore Johnsons Brief heißt es:
August Nikolaus Mård ist unser Urahn hier in Deutschland. Er ist als Waise bei fremden Leuten aufgewachsen. Nun setzte in Mecklenburg die Auswanderung nach Amerika vor 100 Jahren ein. Es waren hier keine Arbeitskräfte und in Schweden eine grosse Arbeitslosigkeit.
Diese Sätze beschreiben eine historische Realität, die für Schwedens Geschichte erhebliche Prägekraft besaß. In der Periode von 1815 bis 1900 wuchs Schwedens Bevölkerung von 2,1 auf 5,1 Millionen an – wiewohl 825000 Schweden zwischen 1840 und 1900 aus dem Land emigrierten, wesentlich in die USA. Die Mårds, die im 18. Jahrhundert ihr Auskommen noch als Soldaten genossen hatten, gerieten im Zuge zunehmender Modernisierung zu landlosen Landarbeitern. Wurden zu Angehörigen eines ländlichen Proletariats (schwedisch »statare«), dessen Entstehung seinerseits die schwedische Landwirtschaft seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts geprägt und zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte autark werden lassen.
Seit Generationen waren die Mårds im småländischen Ljuder in Mittelschweden zu Hause, einem Zentrum der Auswanderung im 19. Jahrhundert. August Nikolaus’ Vater mit fast gleichem Namen: August Nils Mård, also Johnsons Urgroßvater, verehelichte sich am 24. März 1840 mit Christina Abrahamsdotter (geboren am 2. Mai 1811) im gleichen Kirchspiel Ljuder. Er war am 18. Dezember 1794 geboren und hatte in erster Ehe eine Maria Petersdotter zur Frau gehabt, mit der er vier Kinder hatte. Die zweite Eheschließung erfolgte, weil Christina schwanger war. Eine lange Verlobung war in dieser Zeit und bei der sozialen Zugehörigkeit des Soldaten Mård nicht ungewöhnlich. Man zögerte mit der Hochzeit, war diese doch teuer. Wir wissen nicht genau, wann das Kind, das Johnsons Großvater werden sollte, geboren wurde. Es wird aber wohl noch im Jahr 1840 gewesen sein. Auf den Knaben folgten die Schwester Eva, am 4. Juli 1841 geboren, später der Bruder Alfrid (am 16. März 1847) und als letzte die jüngste Schwester Caroline, die am 10. Juni 1850 zur Welt kam. Nur wenig später, am 18. September 1850, starb der Vater der Kinder, Johnsons Urgroßvater August Nils Mård, acht Jahre später, am 10. Februar 1858, die Mutter Christina. August Nils war noch Soldat gewesen, was für seinen ältesten Sohn aus zweiter Ehe nicht mehr bezeugt ist. Bereits vor dem Tod seiner Mutter kam dieser zu fremden Leuten, da die Mutter ihre Kinder nicht mehr allein versorgen konnte. Auch die Schwester Eva kam, neunjährig erst, als Dienstmädchen auf den Hof Sødregård bei Alvestad. Der Bruder Alfrid zog am 13. Oktober 1861 nach Vissefjærda. Caroline schließlich war 1862 urkundlich bei einem Sven Johannson, dem Besitzer einer Hufe in Bøkvara im Kirchspiel Algutsboda, in Diensten. Alle diese Höfe und Orte liegen im Radius von wenigen Kilometern um den Ort Ljuder und gehören zum Kirchsprengel gleichen Namens.
Der Sprengel Ljuder maß ungefähr 20 Kilometer in der Länge und fünf Kilometer in der Breite, wurde von zwei Flüssen durchflossen und aufgelockert durch vier kleine Seen. Am 1. Januar 1846 zählte Ljuder 1925 Einwohner, verteilt auf 254 kleinere Höfe und eine Handvoll Herrengüter. Die Bevölkerungszahl hatte sich seit 1750 nahezu verdreifacht. Verfünffacht hatte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Landlosen. Schließlich waren die Kornpreise so gering, daß die Bauern das Korn häufig zu Branntwein veredelten, was zum ohnehin bestehenden Alkoholproblem das seine beitrug.
Um das Jahr 1865 wanderte Johnsons Großvater August Nikolaus Mård aus. Er wird seinen Weg auf Schusters Rappen zurückgelegt haben, aus Kostengründen zuallererst. Über Vissefjærda, wo seit 1861 der Bruder Alfrid wohnte, Holmsjø und Rødeby bis nach Karlskrona, der Hafenstadt. Dann mit einem der Lastboote, Kauffahrer oder Fischer, die gewohnheitsmäßig zwischen den beiden Ufern der Baltischen See verkehrten, nach Deutschland. Mecklenburg gleicht Småland darin, daß es eine Seenplatte voll überraschend aufblitzender Wasseransichten darstellt: eine sanft hügelige Landschaft mit tiefschattigen Mischwäldern und in der Sonne leuchtenden Getreidefeldern. Darüber die Dächer von Häusern, die immer häufiger zu Walmdächern werden, je näher man der Ostseeküste kommt. Die Fremde, in die August Nikolaus ging, mag ihm auf diese Weise etwas weniger fremd erschienen sein. Auch war er jung genug, auf besseres Leben zu hoffen. Weiterhin mögen ihn die Träume von der Neuen Welt, von Australien und von den Vereinigten Staaten Amerikas als von Ländern ohne unterdrückende feudale Obrigkeiten beflügelt haben.
Daß jeder Abschied einen kleinen Tod auch bedeutet – wo wäre das deutlicher ausgeprägt als in der Literatur des Uwe Johnson?
Zurückgekommen ist August Nikolaus Mård, nach allem, was wir wissen, nie. Was er ferner mitbrachte und seinem Enkel vererbte, war seine wikingerhafte Erscheinung. Der Mann mag damals noch schlank gewesen sein, mit einer Neigung allerdings schon zum Korpulenten. Blond und groß, dabei von gedrungener, »stuckiger« Gestalt, wie die Mecklenburger ihn beschreiben würden. Ein langsamer, schweigsamer und besonnener Mensch, mit skandinavischer Geduld und Zurückhaltung als Lebensmaxime.
August Nikolaus Mård wurde seßhaft in jenem Mecklenburg, in dem der Namenspatron von Uwe Johnsons späterer Schule, John Brinckman (ein schwedischer Name!), 1855 als Fastelabendsprärig die folgenden, gegen die seinerzeit grassierende Auswanderung gerichteten Zeilen hatte verteilen lassen:
Jehann, bliw hir, – bliw hir, Jehann!/Wat wisst du in Amerika! [...]/Du seggst, dat du hir racken möhst [...] Wat du ok in dei Sälen liggst,/Di awmarachst un an di spannst, –/ Wer weit, wennir du Hüsung kriggst,/Wer weit, wennir du frigen kannst.
Bei der Fastelabendsprärig handelt es sich um ein unverdünntes, avanciertes Platt, der Mundart des Klützer Winkels zugehörig. Johnsons Großvater vermochte sie schwerlich zu lesen. Vermutlich hat er bis an sein Ende schwedisch gesprochen. Dennoch hat er sich, in Mecklenburg angelangt, nach der Aufforderung des John Brinckman gerichtet, blieb, fand Arbeit und ein Auskommen, das ihn am Ende sogar in den Stand setzte zu heiraten. Wirkliche Freiheit, sollte er sie denn gesucht haben, kann der Schwede jenseits der Ostsee freilich nicht gefunden haben. Denn diese neue Heimat gab ein vormodernes Land ab. Hier gingen alle Uhren langsamer. Selbst der Weltuntergang würde, der ostelbische Junker Otto von Bismarck nahm dies für gewiß, in Mecklenburg erst mit 300 Jahren Verspätung eintreffen. Auf dem Hintergrund der mecklenburgischen Zustände betrachtet, erwiesen sich die sozialen Umstände in Småland als fast