Uwe Johnson. Bernd Neumann

Uwe Johnson - Bernd Neumann


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Abstieg ausgenommen haben. Ihre Unzufriedenheit wuchs mit der Herausbildung der neuen »sozialistischen Ordnung«, um so mehr als umgekehrt ihr Sohn diese neue Ordnung schon bald zu unterstützen begann. Beide Kinder gingen in nicht allzu weit entfernte Schulen. Die Schwester Elke in die nur wenige Straßen, ca. zehn Minuten Fußweg entfernte heutige Wossidlo-Schule. Uwe zunächst in die gleiche Anstalt, von September 1946 bis Juli 1948 dann in die Zentralschule in Güstrow, jene Hafenschule an der Hafenstraße, am Rostock-Bützow-Güstrow-Kanal, südlich des Stadtgrabens gelegen. Die Wossidlo-Schule und Hafenschule wurden als Komplex 1930 erbaut. – In den Jahrestagen wird daraus, mit poetologischer Folgerichtigkeit, Gesines »Brückenschule« in Gneez.

      Johnsons letzte Adresse in Güstrow, nach der Übersiedlung von Mutter und Schwester in den Westen, lautete »Lange Stege« (auch: »Langestege«) Nr. 23. Sie liegt auf der anderen Seite der Nebel und am Rande der Stadt, unweit der Bahnlinie und gegenüber einem mecklenburgischen Walmdachhaus, das zum Vorbild für das inzwischen allseits bekannte Cresspahl-Haus geworden ist. In »Lange Stege« blieb Johnson gemeldet, bis er nach Westberlin übersiedelte, mithin auch während des gesamten Studiums. Auch diese letzte Wohnung muß ihm durch Vermittlung der Reichsbahn-Gewerkschaft zugekommen sein.

      Uwe Johnson war auf diese Weise in einer Stadt angekommen, die ihn prägen sollte wie keine andere, Berlin und selbst New York eingeschlossen. In Güstrow: Stadt Ernst Barlachs, würde Uwe Johnson im eigentlichen Sinn heranwachsen, sein Abitur ablegen und dann für immer zu Hause sein wollen. Heute sehen wir in ihm den anderen großen Künstler-Sohn dieser Stadt neben Barlach. Die Stadt Güstrow liegt auf einer abgeflachten Sandfläche zwischen Nebel und Inselsee. Ihr Name leitet sich aus »Guztrowe« her, was slawisch für »Krähennest« steht. – »Gneez« in den Jahrestagen, das auf russisch »Nest« zurückgehen soll, erweist sich somit auch etymologisch als ein Güstrower Pendant. Die Stadt besitzt ein klassizistisches Rathaus aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und ein seit 1961 restauriertes Renaissanceschloß. Ihre eigentliche Geschichte beginnt im 13. Jahrhundert. Fürst Heinrich Borwin II. ließ an ihrem Platz, auf damals noch wendischem Gebiet, eine landesherrliche Burg errichten. Denn dort verliefen die Handelsstraßen zwischen Rostock und Brandenburg, zwischen Lübeck und Pommern. Im Jahr 1228 erhielt Güstrow seine Stadtprivilegien ausgefertigt. Bereits im 13. Jahrhundert entstand die noch heute erhaltene, vom Schüler Johnson erlebte städtebauliche Struktur der Stadt mit ihren rundum laufenden Befestigungs- und vier Toranlagen. Insonderheit die alte Stadtmauer, ihre Reste verlaufen direkt neben der Brinckman-Schule, wird später wiederkehren in Ingrid Babendererde.

      1503 zerstörte eine Feuersbrunst die Stadt. Sie wurde danach wieder aufgebaut und diente bis 1695 als Residenz mecklenburgischer Herzöge. Wallenstein residierte 1628/29 in Güstrow. An sein Hofgericht erinnert eine Tafel unweit von Dom und Brinckman-Gymnasium. Der 1226 begonnene Backstein-Dom stellt seinerseits den Mittelpunkt und das Wahrzeichen der Stadt dar. Ein Muster norddeutscher Backsteingotik, wurde er von Heinrich Borwin II. als Kollegialskirche gestiftet und zwischen 1226 und 1500 als dreischiffige, kreuzförmige Pfeilerbasilika errichtet. Im Jahr 1660 waren 2435 Einwohner registriert. 1802 dann werden es 6542 Einwohner in insgesamt 778 Häusern sein. 1806 wurde Güstrow von Napoleons Truppen auf ihrem Zug nach Rußland besetzt und geriet danach in den »Befreiungskriegen« zum Zentrum der deutsch-patriotischen Erhebung. In Güstrow versammelten sich die Freiwilligen Jäger Mecklenburgs, um gegen den welschen Feind ins Feld zu ziehen.

      Von 1849 bis 1870 lebte der niederdeutsche Dichter und Lehrer John Brinckman in der Stadt. Das zentrale, traditionsreiche Gymnasium wird später auf seinen Namen getauft. Als er stirbt, hat die Stadt bereits 11 000 Einwohner. Und später in den dreißiger Jahren dann wohnte und arbeitete der Bildhauer und Schriftsteller Ernst Barlach am Inselsee in der Nähe der Stadt. Er vereinsamte zunehmend im Güstrow des »Dritten Reiches«, bis er 1938, fast völlig isoliert, starb und in Ratzeburg begraben zu sein wünschte. In den Jahrestagen hat Uwe Johnson dieses deutschen Künstlerschicksals gedacht:

      Am 27. Oktober starb Ernst Barlach, Bildhauer, Zeichner, Dramatiker. Weil er für einen Juden gehalten wurde, war er in Güstrow auf der Straße angespuckt worden. Den hatten sie mit Verboten von Arbeit und Ausstellungen gehetzt, bis er sich hinlegte und starb. Die Lübecker hatten einen Alfred Rosenberg zu ihrem Ehrenbürger gemacht, aber die Figuren Barlachs hatten sie nicht an ihre Katharinenkirche getan. Der Lübecker General-Anzeiger hatte zu seinem Tode nicht von sich aus etwas drucken mögen, sondern lieber aus dem Berliner Tageblatt abgeschrieben, er sei ein Problem geblieben für ein Geschlecht, das andere Wege gegangen sei. (Jahrestage, S. 712)

      Das Güstrow, in das die Johnsons 1946 kamen, gehörte später als Kreisstadt zum Bezirk Schwerin, konzentrierte Schulen und Ausbildungsstätten in sich. Industriestadt war der Ort nie gewesen. Dafür hatte die Stadt in den zwanziger und dreißiger Jahren den Ruf eines »mecklenburgischen Paris« genossen. Seit 1955 existierte ein Stadtmuseum, 1978 dann wird das Atelierhaus Barlachs am Fuß des Heidbergs, unweit des Inselsees, der Öffentlichkeit übergeben. Zwischen 1972 und 1978 werden der Marktplatz umgestaltet, Fußgängerzonen errichtet und die Innenstadt wird mit Blick auf die 750-Jahr-Feier renoviert. 1981 schließlich erhielt Güstrow vielbeachteten Besuch: Erich Honecker und Helmut Schmidt statteten der Stadt gemeinsam eine Visite ab.

      Im Dom der Stadt hängt seit 1952 Der Schwebende, Barlachs berühmter Engel mit dem Käthe-Kollwitz-Gesicht. Die Nazis hatten die Plastik als »entartet« verworfen und zu Rüstungszwecken eingeschmolzen. Die spätgotische Gertraudenkapelle fungierte dann als Barlach-Gedenkstätte, aber das auch erst als eine Art von Wiedergutmachung: nachdem nämlich die SED noch 1951 Barlachs Werk als »formalistisch« verdammt und seine Berliner Ausstellung geschlossen hatte. Das wechselvolle Geschick von Barlachs Nachruhm spielte sich am Beginn der fünfziger Jahre im Klassenraum und vor der Haustür Uwe Johnsons ab. So versetzte der letzte Wunsch des Erich Johnson: sein Sohn solle einmal die berühmte Brinckman-Schule in Güstrow besuchen, diesen mitten in die Kunstauseinandersetzung der frühen fünfziger Jahre. Davon wird anläßlich von Uwe Johnsons Abitur noch ausführlicher zu handeln sein.

      Im Güstrow des Jahres 1946 mußte die Mutter versuchen, sich neu zu etablieren, ihre beiden Kinder durchzubringen. Das hat die Bauerntochter ohne besondere Berufsausbildung mit dem ihr eigenen, auch bewunderungswürdigen Einsatz getan. Im ersten »Leipziger« Lebenslauf von wahrscheinlich 1952, der Studienakte beigefügt und fast als Selbstdarstellung Erna Johnsons zu lesen, steht über ihre Berufskarriere in Güstrow geschrieben:

      Meine Mutter, ursprünglich ohne erlernten Beruf, ist heute Zugschaffnerin am Bahnhof Güstrow. [...] Meine Mutter sah sich vor die Aufgabe gestellt, unserer Familie eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Nach einem mit Erfolg beendeten Lehrgang als Kindergärtnerin war sie zeitweilig Praktikantin am Landeskinderheim Güstrow und darauf Näherin bei der »Volkssolidarität« der Roten Armee und den Güstrower Kleiderwerken VEB.

      Erst einige Zeit nach der Umsiedlung also ging Erna Johnson zur Reichsbahn, vermutlich um der etwas besseren Bezahlung und vor allem um der Dienstwohnung willen. Sie baute unter schwierigsten Verhältnissen eine neue Existenz auf. Brachte erhebliche persönliche Opfer für das Fortkommen ihrer Kinder. Wechselte 1952 sogar vom Dienst als Personenzugschaffnerin zu dem einer Güterzugschaffnerin, um Uwes Stipendium zu erhöhen und ihm seine weitere Laufbahn als die eines »Arbeiterkindes« zu ebnen. Mithin ein Berufswechsel, in dem sich auch die sozialdarwinistische Sichtweise der DDR-Behörden spiegelt. Aus Uwe Johnsons Leipziger studentischer Personalakte vom Herbst 1956 kann man lernen, daß die sozialistischen Verwalter das ihnen übergebene Volk in zehn Kategorien einteilten. Die staatliche Zuwendungsskala schaute aus wie folgt: 1. Arbeiter 2. Landarbeiter 3. Werktätiger, Bauer 4. Schaffende Intelligenz 5. Angestellte 6. Selbständige Handwerker 7. Selbständiges Gewerbe 8. Freie Berufe 9. Großbauern 10. Sonstige.

      Uwe Johnson stufte sich, Ironie oder nicht, unter »Sonstige« ein. Den Vater führte er unter Kategorie fünf auf. Die Mutter aber wechselte von der Kategorie fünf in die Kategorie eins. Am 20. Januar 1955 verfügte Erna Johnson über ein Monatsgehalt von 263 Mark. Ausgezahlt wurde es ihr vom Bahnbetriebswerk Güstrow. Der Wechsel der Klassenzugehörigkeit, dessen psychologische Probleme Jonas Blach in den Mutmassungen erörtern wird, als er mit dem Gedanken spielt, als Rangierer vor der politischen Verfolgung wegzutauchen, brachte ihrem Sohn eine Erhöhung des Stipendiums von


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