Uwe Johnson. Bernd Neumann

Uwe Johnson - Bernd Neumann


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Keine andere »Lehrerpersönlichkeit« repräsentiert im Erstling vergleichbar ausgeprägt die »Neue Schule« als eine bornierte »sozialistische« Zwangsanstalt wie das Paar Siebmann/Behrens. Daß beide biographisch mühelos wiedererkennbar sind, kann als Programm verstanden werden.

      Die ehemalige Güstrower Junglehrerin Liselott Prey, sie ist inzwischen verstorben, ging als Frau Behrens in die Babendererde ein. Liselott Preys fachliche Ausbildung muß sich reziprok zu ihrer sozialistischen Überzeugung verhalten haben. Als »Bettinchen« Selbich kehrt sie dann im Abschlußband der Jahrestage wieder. Auch dort eine »hübsche und sehr blonde Frau«, beeindruckt sie den Schüler Lockenvitz noch immer genauso stark wie den Jüngling Jürgen Petersen im Erstling. Liselott Prey zog die schüchterne Zuneigung des 18jährigen auf sich, während sich dieser zugleich ihrer fachlichen Begrenzungen und ihrer ideologischen Borniertheiten bewußt wurde – ein Sachverhalt, der das Dilemma verschärft haben muß.

      So gesehen, begründet das »Blonde Gift« jene stattliche Reihe von jeweils älteren Frauen, zu denen Johnson eine Zuneigung ganz besonderer Art empfand. Alle diese Damen befaßten sich mit der Literatur. Jede auf ihre Weise stellten sie Autoritäten dar auf diesem Gebiet. Ihre Reihe reicht vom »Blonden Gift« über die Hochschullehrerin Hildegard Emmel in Rostock und Margret Boveri in Berlin bis hin zur Verlegerin Helen Wolff und der Philosophin Hannah Arendt in New York. Dazwischen liegen immerhin rund dreißig Jahre.

      Zunächst also Liselott Prey alias das »Blonde Gift«. Für die Festschrift der John-Brinckman-Schule von 1953 hat sie selbst zur Feder gegriffen und ihre Lehrmeinungen skizziert:

      Die germanistische Forschung hatte 12 Jahre lang geschwiegen. Lukács’ Arbeiten zur Literaturkritik wurden erst nach 1945 bekannt. Die neueren Arbeiten von Nationalpreisträger Prof. Frings konnten nur Anregung geben. Der erste Lehrplan, der 1946 erschien, zeigte deutlich, wie schwierig es war, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Er war ein Notbehelf und gab nur Hinweise für den völlig neuen Inhalt des Unterrichts, den Weg mußte sich jeder Lehrer zunächst selbst bahnen [...] Der Lehrplan von 1951 bedeutete einen großen Fortschritt, er stützte sich auf die ersten konkreten Ergebnisse aus dem Studium der Arbeiten J. W. Stalins über den Marxismus in der Sprachwissenschaft und gab dem Grammatikunterricht und der Sprachwissenschaft auch im Unterrichtsplan der Oberschule endlich eine beherrschende Stellung. Auch der Literaturunterricht erhielt einen Aufschwung. Die Tatsache, daß die Literatur eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, des Überbaus ist, verpflichtete Schüler und Lehrer zur stärkeren Beachtung des Prinzips der Parteilichkeit, zum klassenmäßigen Herangehen an jede Literatur im Sinne von Marx und Stalin. [...] Das hieß, von der Leninschen Widerspiegelungstheorie als erkenntnistheoretischer Voraussetzung ausgehen und die Schüler lehren, das literarische Kunstwerk als eine besondere Form der Spiegelung der objektiven Wirklichkeit zu erkennen. Denn jede realistische Dichtung in ihrer Gestaltung der Widersprüche, Auseinandersetzungen und Kämpfe des gesellschaftlichen Lebens ist ein Weg zur Erkenntnis der außerhalb des menschlichen Bewußtseins existierenden objektiven Wirklichkeit.

      »Marx und Stalin« schrieb diese Junglehrerin in selbstverständlich-naiver Zusammenstellung. Methodologisch berief sie sich auf Georg Lukács, gebrochen durch das, was ein Wilhelm Girnus in den Jahren 1951/52 daraus gemacht hatte. – Girnus schrieb damals im Neuen Deutschland gegen den »Formalismus«, worauf noch näher einzugehen sein wird. Nicht zufällig bezieht sich die enthusiastische Zustimmung Liselott Preys zu den Änderungen des Lehrplans im Jahr 1951 just darauf. Im selben Jahr hatte der Kampf der SED gegen den »Formalismus« begonnen – ein Schlüsselereignis auch für die angehenden Abiturienten der John-Brinckman-Schule. Schulfreunde entsinnen sich, daß Uwe Johnson dieser Lehrerin wiederholt in sanft-ironischer Opposition (aber eben auch, um imponierend sein Wissen vorzuzeigen) nachwies, wo bei Lukács sie gerade ihre Weisheit hergeholt hatte. Girnus’ Formalismusverdikt jedenfalls berief sich auf den ungarischen Literaturpapst und dürfte von »Bettinchen« ex cathedra verkündet worden sein. Gegen solche Orthodoxie mobilisiert dann Klaus Niebuhr in der Babendererde die Position des Bertolt Brecht, dessen Bürgschaft-Parodie zitierend. Und in

      all diesem Betrieb schritt einsam Das Blonde Gift auf und ab, Nachdenklichkeit darstellend und Aufsicht führend (zweite Grosse Pause Hofaufsicht: Frau Behrens). Dies war eine füllige und nahezu hübsche und sehr blonde Frau. Streng aufgerichtet in langem blauem Kostüm ging sie hin und her und war in ihrer Würde Pius nahe verwandt. (Babendererde, S. 93)

      Der Unterricht, den diese Frau erteilte, lebte offenbar von soziologischästhetischen Begriffsmonstren. Sie wurden zudem in einer stilistisch denkbar ungelenken Art ins didaktische Treffen geführt.

      Zu jener Zeit war in Deutschland der Feudalabsolutismus die herrschende Kraft. Territoriale Aufgespaltenheit. Unterdrückung des Volkes. Grosses Elend. Wirtschaftlicher Niedergang. Die Romantik. Die Blaue Blume als Symbol des Schönen/Hohen/Reinen/Guten. Die Wendung gegen die Klassik. Die Romantik als bewusstes Werkzeug der herrschenden Klasse. Die Junge Gemeinde als amerikanisch geförderte Spionage-Organisation: ein Eiterherd im Schosse der Republik. Die Hochromantik. (Babendererde, S. 102)

      »Bettinchens« Deutschunterricht war also für sich genommen schon geeignet, die altersbedingte Oppositionsbereitschaft der Oberschüler hervorzurufen. Das verstärkte sich im Falle Johnsons noch dadurch, daß dieser bereits selbst schrieb. Was immer der Deutschunterricht behandelte, es betraf eo ipso Johnsons ureigene Sache. Die erste Fassung der Babendererde-Geschichte war seit 1951 im Entstehen begriffen, geplant noch als eine Novelle über Schülerliebe und Segeln, der es deutlich ermangelte an der politischen Dimension des späteren Romans. Erhalten ist diese Babendererde-Vorstufe nicht; die Johnson-Forschung registrierte bislang noch nicht einmal ihre Existenz. Indes werden Zweifel an ihrer Existenz widerlegt durch Zeugenschaften unterschiedlichster Provenienz: So etwa die des Sport- und Erdkundelehrers Horst Dehn, der Güstrow ebenfalls verließ und seit Mitte der fünfziger Jahre im Westen lebt, des Deutsch- und Musiklehrers Kurt Hoppenrath, mit dem Johnson eine Bekanntschaft verband, auf die noch näher einzugehen sein wird, sowie des Güstrower Kritikers Dr. Günther, dem Johnson das Manuskript 1951 zur Begutachtung vorgelegt hat – mit übrigens positivem Respons.

      Noch im selben Jahr veranstaltet der Oberschüler Johnson seine erste Lesung als Literat: Unweit der Schule, am Goetheplatz, existierte seit 1949 eine Volksbücherei, die auch er benutzte. Die Geschichte dieser Bibliothek findet sich dokumentiert in Erika Silberstorffs Güstrower Volksbücherei:

      Nach 1945 erfuhr das Bibliothekswesen eine besondere Förderung. Große Mittel wurden bewilligt zum Einkauf neuer Bücher. Die Güstrower Volksbücherei, die jetzt nicht mehr ehrenamtlich, sondern von Bibliothekaren und technischen Angestellten betreut wurde, zog im Jahre 1949 in das damalige »Haus der Kultur« am Goetheplatz. Drei schöne Räume, die zweckmäßig eingerichtet wurden, und in denen die Leser sich wohl fühlen sollen, stehen hier zur Verfügung. [...] Jeder Einwohner ab 16 Jahren konnte diese Bücherei unentgeltlich benutzen.

      Auf seine Weise nahm der Güstrower Oberschüler den letzten Satz beim Wort. Beorderte seinen Schulfreund Heinz Lehmbäcker eines Nachmittags zu dieser Bibliothek. Beide stiegen durch ein Fenster in die Stätte der Volksbildung ein, wo Uwe Johnson seinem Freund dann aus der ersten Stufe der Babendererde vorlas. Eine runde Stunde voll mit Segeln und der schüchternen Liebe zu einer Ingrid. Diese Ingrid wiederum hatte eine Schülerin zum Urbild, die Lehmbäcker aus der gemeinsamen Klasse kennen konnte. Da freilich endete die Parallele zur Güstrower Schulrealität auch schon. Denn die Ingrid in der ursprünglichen Novellenfassung protestierte (der Erinnerung Hildegard Emmels zufolge, die diese Fassung später in Rostock gelesen hat) gegen den Deutschunterricht des »Blonden Gifts«. Das wird später nicht mehr so sein.

      Wie es Uwe Johnson daneben als Literaturrezipient im Deutschunterricht ergangen sein mag, illustriert der Schüler Lockenvitz – wenn auch in einem anderen Deutschunterricht als dem des »Blonden Gifts«. Lockenvitz erweist sich als der Thomas Mann-Kenner, der Johnson damals bereits war. Der Kandidat Weserich liest mit seiner Klasse Theodor Fontanes Schach von Wuthenow. Lehrer und Klasse stellen zunächst Übereinstimmung darüber her, daß »ein Personenname immer die ehrlichste [Titel]-Ankündigung ist«. Diese Einsicht, sagen die Jahrestage in ihrem vierten Band, stamme von Thomas Mann. Das ist gewiß richtig. Doch Weserich


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