Marslandschaften. Angela Steinmüller

Marslandschaften - Angela Steinmüller


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was seine Frau als Faulheit deutete. Auch als er aus den Schmerzen das Herannahen von Schlechtwetter vorhersagen konnte, entschuldigte sie seine Unlust nicht, ihr bei den kleinen Geschäften des Haushalts zur Hand zu gehen. Ein Jahr später gesellte sich die Gicht dazu, Schmerzmittel verloren ihre Wirkung, seine Frau reagierte kaum noch auf sein Jammern. Bald fürchtete ihn seine Verwandtschaft wegen des unablässigen Klagens, das jede Familienfeier störte. Die Enkel mieden sein Haus. Es wurde einsam um Bertram C.

      Bertram C. verlebte seine letzten Jahre im Lehnstuhl, den er nur selten verließ, sei es, um einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, sei es, um sich ein Getränk zu holen oder wenn er von seiner Frau zu Tisch gebeten wurde. Stundenlang saß er da und fühlte das Wetter. Kommender Regen kündigte sich im rechten Bein an. Gewitter plagten die Wirbelsäule, entfernte Zyklone verkrümmten ihm die Finger. Wie durch ein geheimes Gespinst feiner stacheltragender Fäden waren die Organe seines Körpers mit künftigen Ereignissen in der Erdatmosphäre verbunden.

      Das Alter gönnte Bertram C. die Ruhepause des Schönwetters nicht. Als er zum ersten Male das feine Stechen hinter seiner Stirn verspürte, ahnte er nicht, daß die morgige Hitze ihn quälte. Verzweiflung ergriff ihn erst, als sein Körper so sensibel wurde, daß jede kleinste Veränderung, selbst das Gleichbleiben des Wetters, einen speziellen Schmerz hervorrief. Er stöhnte unter der Folter der Tiefausläufer, die ihm heiß in der Brust brannten, Schönwetterfronten umklammerten sein Genick mit eiserner Hand, polare Luftmassen drohten ihm die Kniescheiben zu zermalmen. Festgebannt im Lehnstuhl, das Fernsehbild oder den herbstlichen Fall der Blätter beobachtend, ächzte Bertram C. mit jedem Wind, der am folgenden Tag wehen würde. Er litt mit den Blumen unter der kommenden Trockenheit, mit den Insekten unter drohender Nässe, mit den Vögeln unter der Kälte in der nächsten Woche. Bertram C. litt, bis er sich in seine Wetterhölle eingewöhnt hatte.

      Mit der Zeit lernte er, seine Leiden zu deuten, sie mit den Wetterkarten des Fernsehens in Einklang zu bringen. Es erleichterte ihn zu wissen, daß die Nierenschmerzen nichts als ein skandinavisches Tief bedeuteten, das Brummen im Kopf die erwärmte Festlandsluft. Nach der Art der Peinigung konnte er vorhersagen, wie hoch am nächsten Tag der Luftdruck steigen, welche Winde wehen würden und ob man einen Schirm bei sich tragen mußte.

      Es sprach sich herum. Bertram C. wurde nützlich für seine Nachbarn: Das Fernsehen mochte sich irren, er prophezeite stets, was wirklich eintrat. Wer einen Balkon oder einen Garten hatte, wußte das zu schätzen. Alte, längst vergessene Freunde meldeten sich, um Bertram C. als ein Naturwunder zu bestaunen und um ihn nach Ratschlägen für den nächsten Urlaub zu fragen. Einige versuchten sogar, ihn zu beschwatzen, welches Wetter er für sie erfühlen solle. Doch Bertram C. hatte keinen Einfluß auf den Gang der Dinge. Seine Frau aber begann die lästigen Besucher abzuwimmeln, es sei denn, sie brachten eine Kleinigkeit als Geschenk mit. Seine ehemaligen Stammtischgenossen debattierten über seinen Großvater, der Schafe gehütet hatte, über Wetterstrahlen und Horoskope.

      Bertram C.s merkwürdige Fähigkeit erreichte eine Stufe, die es ihm erlaubte, nicht nur genau zu wissen, wann in den nächsten fünf Tagen in Berlin der Regen fallen oder wo über Sachsen die Sonne scheinen würde. Er konnte Kumuluswolken bis nach Schottland verfolgen und Gewitter bis hinter den Ural. Einen Tag, bevor man in Südfrankreich Hagelraketen in drohenden Wolken explodieren ließ, erfaßte ein wilder Tremor seine Wadenmuskeln. Sein Körper verwandelte sich in eine stechende und brennende und reißende Europakarte.

      Keiner der Ärzte, bei denen Bertram C. auf Betreiben seiner Frau vorstellig wurde, nahm sein sonderbares Leiden wirklich ernst. Die einen vermuteten in ihm einen Hypochonder, die anderen spielten mit dem Gedanken, ihn zum Psychologen weiterzuschicken. Keiner nahm sich die Zeit, ihn lange genug zu beobachten, um sich von der Existenz seiner spezifischen Begabung zu überzeugen. Und: War nicht Wetterfühligkeit schon halb Aberglaube?

      Am 16. Oktober 1984 mittags 12:30 Uhr stellte Bertram C. mit wachsender Unruhe fest, daß mit seinem Körper etwas Ungewöhnliches vorging. Erregt sprang er aus dem Lehnstuhl. Vor sich hin starrend begriff er, daß der Schmerz verschwunden war! Kein Organ quälte ihn mehr mit Temperaturverläufen oder Luftdruckwerten; Fronten, Tiefdruckgebiete und Hochdruckgebiete, Niederschläge, Morgennebel – alles war verschwunden!

      Bertram C.’s Hochgefühl währte bis gegen Abend. Mit der Dämmerung stellten sich düstere Gedanken ein, die um die unerfüllte Erwartung neuer Pein kreisten. Die Freiheit von Tortur hatte ihn gleich einer großen Leere ergriffen. Bertram C. wünschte sich seine Schmerzen zurück, sie hatten ihm die Sicherheit gegeben, daß alles in Ordnung war in Europa und mit seinem Körper. Daß noch alles da war.

      Zu fortgeschrittener Stunde zog Bertram C. die einzig logische Schlußfolgerung: Der morgige Tag wird kein Wetter bringen. Sein gealterter Verstand versuchte, eine Erklärung zu finden, und konnte das Ungeheuerliche nicht fassen: morgen kein Wetter. Noch jeder Tag hatte ein Wetter gebracht, und nun dieser eine nicht … Hieß das, daß es diesen nächsten Tag, das nächste Morgen nicht geben würde? Würde der Träger des Wetters, die Lufthülle, die Erde verlassen und in den Weltraum verstieben? Bedeutete das das Ende der Welt? Als er die harmlose Wetterkarte des Fernsehens vor sich erblickte, verfiel Bertram C. in ein höhnisches Gelächter. Er hatte sich nie geirrt – und die glaubten doch tatsächlich, daß es morgen noch Wetter geben würde, daß morgen noch wie seit Anbeginn der Zeiten die Sonne aufgehen würde …

      Seine Frau war gezwungen, eine Schlaftablette zu nehmen, um seinen hysterischen Anfällen in der Nacht zu entgehen. Am Morgen des 17. Oktober 1984 war Bertram C. tot.

      Die Mediziner haben seine Krankengeschichte nachträglich recht genau notiert, können aber den wenig glaubwürdigen Berichten aus seinem Umfeld keine größere Bedeutung beimessen.

      Es heißt, sein Gesicht sei von der Furcht vor dem wetterlosen Morgen entstellt gewesen.

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