Marslandschaften. Angela Steinmüller
unmittelbar nach der Veranstaltung hatte Sebastian die ersten Kommentare gelesen, meist ein freundliches digitales Schulterklopfen. Seine Stimmung trübte sich jedoch, als er, zurückgekehrt an seinen Platz, die eingehenden Meldungen checkte: »Spinner pass auf dein Hundegehirn auf«, »muss man idiot sein um heiligenschein abzu bekommen«, »Hurenson mit Aula«. – Da hatte wohl die Autokorrektur an der falschen Stelle zugeschlagen.
Er begriff nicht, was die Leute so erboste. Neid? Hielten sie ihn für überheblich? Wahrscheinlich hatten sie nicht einmal richtig zugehört. Mit einem Mal zählte er zu einer Minderheit – und wurde prompt angepöbelt.
Schließlich kam noch eine Einladung zu einer Selbsthilfegruppe Anonymer Auratischer herein. Scherz oder ernstgemeint? Wie konnte man anonym bleiben, wenn alles über einen bekannt war?
Er stand auf, ging durch den kurzen Gang vorbei an den hohen Plakaten mit Schnappschüssen ihrer ersten Apps zum Inspiration Space, holte sich einen Kaffee, setzte sich in einen der rosaroten Hängesitze und stieß sich sanft ab. So viel Aufregung um etwas Leuchten auf den Bildschirmen! Hier in der realen Welt hatte sich nicht das mindeste verändert – aber die Realität bestand ja nicht bloß aus physischen Objekten, viel wichtiger, nein: realer, waren die Beziehungen zwischen den Menschen, unter denen litt man, die bauten einen auf. So gesehen war die Aura ein sehr reales Experiment …
Devin kam aus seinem Büro: »Ach, hier steckst du.« Sebastian glitt vom Hängesitz. Beinahe hätte er Kaffee verschüttet! Er trank schnell ab.
»Dein Typ ist wieder gefragt – wo hast du bloß immer dein Handy?« Devin kam schnell zum Punkt: Eine Anfrage. Kanal III wolle ein Interview. Subito. »Du bist jetzt der Top-Experte für die Aura.«
»Das hast du mir eingebrockt.«
»Gib’s zu, du bist wirklich der Top-Experte. – Keiner weiß irgend etwas, aber du bist allen dabei immer noch eine Nasenlänge voraus. Annika richtet gerade einen Twitteraccount für dich ein: @Aura-Versteher.«
Auf diese Art Expertenstatus konnte er gern verzichten!
»Vor allem will Kanal III erfahren, was du von der These eines Oxforder Professors, Bockstroh oder so ähnlich, hältst. Entstehung einer Super-Super-Superintelligenz, Maschinen lösen die Menschheit ab und so. Du hast ja von der Künstlichen Intelligenz im Netz gesprochen. Nein, frag mich gar nicht erst, was ich davon halte. Ich bin nur fürs Geschäftliche zuständig. – Übrigens: Heute könnten wir unsere Firma dreimal so teuer verkaufen wie gestern.« Er grinste. »Kommt natürlich nicht in Frage. – Also: Torsten bereitet die Videokonferenz vor. Sie wollen dich im Bild. Und er stellt unser Banner ins richtige Licht. Parallel werden wir twittern.« Er grinste noch einmal, verschwörerisch. »Ich rufe Annika. Sie soll dich ein wenig zurechtmachen. Wir wollen ja keinen hundemäßig zerzausten Eindruck hinterlassen.«
Sebastian trank die Tasse leer. Er kam sich nicht zerzaust vor, und ohnehin würde alles durch die Aura überdeckt.
Annika hatte selbstverständlich bereits nach diesem Oxforder Professor recherchiert, der tatsächlich so ähnlich wie Bockstroh hieß. Und tatsächlich behauptete der, daß mit einem Schlag eine Superintelligenz entstanden sei, die der menschlichen Intelligenz in jeder Beziehung überlegen sei. Innerhalb weniger Tage oder auch nur Stunden werde sie sich fortentwickeln, bis sie geistige Höhen erreichte, von denen sich Menschen nicht die mindeste Vorstellung machen könnten – sie werde allwissend und folglich auch allmächtig. Was Annika für pseudoreligiösen Quark hielt.
Dann saß Sebastian im Konferenzraum, gegenüber die Kamera und der Bildschirm mit dem »Ankermann« (hießen die Moderatoren jetzt wirklich auch schon im Deutschen so?) von Kanal III, einem seriös wirkenden Mittvierziger. Und Sebastian erklärte, daß sich der Herr Professor gründlich irrte, wenn er sich die Superintelligenz als kompakte Einheit, genannt Singleton, vorstellte. Man müsse vielmehr davon ausgehen, daß eine Art Schwarmintelligenz im Netz entstanden sei, eine Vielzahl subintelligenter Einheiten, den Apps vergleichbar, die interagierten, sich verkoppelten, zusammenarbeiteten – ohne eine irgendwie geartete zentrale Instanz. Daher könnten sich die Teile auch beliebig neu zusammenschließen. »Wenn Sie so wollen: Da im Ökosystem des Netzes ist ein ganzes wildes Rudel von Subintelligenzen unterwegs. Deshalb auch haben meine Hacker-Freunde keinen Schöpfer der Aura festnageln können. Aber in ihrer Gesamtheit verhalten sich diese Subintelligenzen wie ein enorm pfiffiges und cleveres Wesen.« Er kniff die Lippen zusammen. Cut! Schnitt! Schluß, Ende.
Was zum Teufel hatte ihn in der letzten Sekunde geritten? Um ein Haar hätte er dem Impuls nachgegeben, dieses pfiffige und clevere Wesen herauszufordern: Hallo, wenn du mir gerade zuhörst, könntest du mir dann nicht ein Zeichen geben, daß ich recht habe, und beispielsweise die Aura mal für eine Sekunde ausschalten? – Das war knapp!
Die Firma versank in Anfragen: Aufträge, Übernahmeangebote, Vorträge, Interviews, Arbeitskreise. Sein Twitteraccount @Aura-Versteher hatte schon am ersten Tag über 10 000 Follower und wurde von Annika fleißig bedient. Sogar der Chaos Computer Club erkundigte sich, ob Sebastian nicht zur diesjährigen Verleihung des Big Brother Awards an »die Schöpfer der Aura« die Laudatio halten wolle. Da hatten sie wohl seine Äußerung von Kanal III irgendwie mißverstanden.
Statt sich in die Arbeit zu vertiefen, grübelte Sebastian vor sich hin: Was verband ihn mit den anderen Auratischen? Etwas Äußerliches konnte es schwerlich sein, wohl auch kaum eine medizinische Besonderheit oder Ähnlichkeiten im Lebenslauf, in den kulturellen Neigungen. Unwahrscheinlich, daß sie alle bei derselben Versicherung waren oder die gleiche Blutgruppe hatten oder gern Heavy-Metal-Musik hörten? Was verband ihn mit der ungeliebten französischen Landwirtschaftsministerin? Mit dem Mann vor der Bankfiliale, der so stolz auf seine Aura war? Mit der Goldkettchen-Dame aus der Diskussionsrunde? Und das waren auch nicht alles Schachspieler … Wenn wir den Urheber kennen, überlegte er, dann kennen wir auch den Zweck, und umgekehrt. Aber beides liegt in absolutem Dunkel.
Später saß Sebastian bei Devin, der an einer Stellenausschreibung bastelte: die üblichen IT-Qualifikationen, Mediendesign, Teamfähigkeit. Bei dem leergefegten Arbeitsmarkt war es schwer, kompetente Mitarbeiter zu gewinnen – und bei den Gehaltsverhandlungen hatte Devin stets Mühe, die vorhandenen Kollegen nicht zu übervorteilen. Irgendwie sprach sich ja doch immer herum, wieviel der Neue bekam.
»Jetzt schau dir diese Presseerklärung an!« Devin klang eher verwundert als verärgert: »Der Bundesantidiskriminierungsbeauftragte weist darauf hin, daß außer bei Models, Schauspieler*innen und verwandten Berufen Ausschreibungen keinen Bezug auf die persönliche digitale Markierung – also die Aura – nehmen dürfen. Sowohl eine Bevorzugung als auch eine Benachteiligung von sogenannten Auratischen würde als Diskriminierungstatbestand gelten.«
Sebastian nickte; so wie er es verstand, wollten die meisten Unternehmen keine Auratischen einstellen – die störten den Betriebsfrieden. Statt daß man sie vorzog, wurden sie nun benachteiligt. Die Ironie der Gerechtigkeit. Aber irgendwann würde sich das geben. Oder nicht?
Es klopfte. Torsten kam herein, so aufgeregt, daß er zuerst kaum ein Wort herausbrachte: »Wir haben den Beweis!« Einer Hackergruppe war es gelungen, den größten Teil des Softwarepakets, das auf praktisch allen Bildschirmen den Strahlenkranz malte, »einzufangen«, wie Torsten sagte. Und – nun die Sensation! – dieser Teil enthielt knapp 100 Codezeilen »von unserer Heiligenschein-App«.
Gab es eigentlich Patentverletzungsklagen gegen unbekannt?
Ob es am Auftritt in der Talkshow lag oder am Interview oder an den Kurzmeldungen, die Annika in seinem Namen absetzte, jedenfalls fand Sebastian am nächsten Tag eine Botschaft auf seinem Handy vor: »Muss dich unbedingt sehen. Wo treffen wir uns? Laura.«
Im Grunde hatte Sebastian weder Zeit noch Lust.
Die Firma versank in Arbeit, und Laura – nun, die war ein abgeschlossenes Kapitel. Abgehakt, verflossen und vergessen! Zum Schluß hatten sie sich um Nichtigkeiten gestritten, das neue, völlig unpraktische »Beleuchtungskonzept« für die Wohnung, die stupide Musik, die sie immer lauter drehte – bis ihm klargeworden war, daß sie ihn auf diese Weise sachte, doch unerbittlich vertrieb … Natürlich hing die Botschaft mit der Aura zusammen. Hatte sie selbst eine? Er hätte sie