Marslandschaften. Angela Steinmüller

Marslandschaften - Angela Steinmüller


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– außer wir brauchen sie gerade in einem Text.

      Wahrscheinlich ist der Kontrast zu den neuen Storys gar nicht so groß. Auch die Erzählungen, die wir in den letzten Jahren verfaßt haben, verleugnen den Geist ihrer Zeit nicht. Wir leben heute wie die Neu-Atlantier auf schwankendem Boden und wundern uns nicht selten, in was für eine Epoche es uns verschlagen hat. Computer tragen wir wundervoll miniaturisiert in der Jackentasche, wir sind vernetzt und mobil, wir sind wie manche unserer Helden viel zu häufig auf Reisen, wenn wir auch noch nie ein Upgrade ins Oberdeck des Airliners erhalten haben (aber immerhin schon einmal einen Begrüßungs-Champagner). Wir kennen die Blitzer in Wolfsburg, und wir wissen inzwischen, wie man Einkommensteuererklärungen (im Steuerrecht ohne Fugen-s!) und Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgibt. Ja, genauso haben wir uns lebenslanges Lernen immer vorgestellt … Wo wir früher unter Informationsmangel litten, werden wir heute mit Texten und Bildern förmlich zugeschüttet, und häufig überlegt man: Fakt oder Fake News? Das war ehedem gewiß nicht besser, noch nicht einmal im antiken Alexandria. Und sind wir nicht selbst eifrige Produzenten von Fake Futures?

      Wer will, findet in unseren neueren Storys einen Nachhall der Finanzkrise, einen Kommentar zu Putins Rußland und sicherlich auch einen Schuß Nostalgie nach einer Weltraum-Zukunft, die es nie geben wird. Wie damals reiben wir uns an der Realität, seien es bornierte Zeitgenossen, aufdringliche Medienvertreter oder die unablässige Aufgeregtheit und Sensationshascherei. Spätestens dann ist es wieder da, das uns von früher vertraute allgegenwärtige Gefühl, daß es bei allem Tempo und aller Hektik kaum vorangeht, man sich bestenfalls im Kreis dreht. Bis dann eine Pandemie zuschlägt, und die Verhältnisse ins Rutschen kommen.

      Ein wenig werden wir auf unserer Zeitlinie selbst zu Zeitreisenden, die zwischen den Jahrzehnten hin und her springen und doch nur wenig vom Fleck kommen. Vielleicht sollten wir in weiteren dreieinhalb Dekaden wieder einmal auf unsere Texte schauen – als Cyborgs, die regelmäßig zur Inspektion müssen, die den Ersatzteilen aus afrikanischer Produktion mißtrauen und überhaupt Mühe haben, den Allround-Service versichert zu bekommen. Vielleicht werden wir dann zurückschauen: Ach, was waren das für gemütliche Zeiten, als Erzählungen noch von Menschen verfaßt wurden und sich nicht nach dem einmaligen Lesen in virtuelle Luft auflösten!

      Hier

      Die Aura

      oder Im Zustand der Gnade

      »Schau dir diesen Humbug an!« Selten hatte Sebastian Gruber seinen Freund Devin so aufgebracht erlebt. Er beugte sich nach vorn, um den Bildschirm von Devins Tablet besser zu sehen, rückte die Brille zurecht. Da lief eine ganz gewöhnliche Straßenszene, aufgezeichnet am Marktplatz mit seinen Händlerbuden. Passanten wechselten mehr oder weniger gestreßt und eilig über den Fahrdamm. Unter ihnen ein Mann in graubrauner Lederjoppe. Ihn umgab von Kopf bis Fuß eine Art heller, milchiger Nebel. Ein Bildfehler? Ein Beleuchtungseffekt?

      »Mann, hast du eine lange Leitung«, grummelte Devin. »Da hat uns jemand den Heiligenschein gestohlen!« Er betonte jede Silbe: »ge-stoh-len«. »Eine Unverschämtheit. Verletzung unserer Patentrechte!«

      Sebastian lehnte sich zurück. Er kannte Devin gut genug, um zu wissen, daß sein Freund, hatte er sich erst einmal in eine Idee verbissen, nicht lockerlassen würde.

      Devin kam um den niedrigen Glastisch herum, nahm neben Sebastian Platz auf der Sitzbank. Grell fiel das Licht aus der breiten Fensterfront in den »Inspiration Space«, den Raum für lockeres Nachdenken mit seinen grün bewachsenen Raumteilern, den beiden rosaroten Hängesitzen und dem abstrakten Wandgemälde in Schwarz, Weiß und Dunkelblau, das angeblich von einer Robbe im Tierpark gemalt worden war. In der Ecke am Espressoautomaten tuschelten Torsten und Annika, zwei ihrer jungen Mitarbeiter.

      »Also wie unser Heiligenschein sieht das nicht aus«, wandte Sebastian ein. Drei Jahre war es her, kurz nach seiner Scheidung. Damals hatten sie eine App auf den Markt gebracht, die, wenn man das Handy als Kamera benutzte, Personen, die man durch Antippen auswählen konnte, einen Heiligenschein verpaßte. Das machte sich auf Selfies oder Bildern von Kameraden ganz gut: Seht mal, hier wandelt ein Heiliger unter Normalmenschen! Devin und er hatten damals überlegt, ob sie die Funktion mit einer Gesichtserkennung kombinieren sollten, so daß ausgewählte Personen – spezielle Freunde oder alle Kontakte im Adreßbuch – stets so einen Heiligenschein erhielten. Merkwürdigerweise hatte er sich stets Laura, seine besserwisserische Ex, als so eine Schein-Heilige vorgestellt. Letztlich hatte sich die App jedoch nicht sonderlich gut verkauft, außerdem hatten einige Nutzer – wohl allesamt Katholiken – protestiert. Daraufhin hatte Raitan Gruber App Solutions, wie ihre Firma damals noch hieß, die Entwicklung eingestellt.

      »Hörst du mir zu, Basti?« Devin rückte noch ein Stück näher. »Ich will zuerst einmal wissen, wie das technisch funktioniert. Die Szene hat mir meine Tochter geschickt. Liane schwört, sie hätte keine spezielle App installiert, und auch bei ihren Freundinnen wären schon solche, wie sie sagt, ›Strahlemänner‹ aufgetaucht.«

      »Dann wird es wohl ein Virus sein, der die Bildverarbeitung befällt, oder vielleicht, noch einfacher, ein Bug in der Kamerasoftware.«

      »Herstellerübergreifend? Modellunabhängig? – Da ist uns jemand nicht bloß eine Nasenlänge voraus!«

      »Die benutzen alle dieselben Chips. Nur die Namen, die Marken – und die Preise – unterscheiden sich. Vielleicht haben sogar alle Freundinnen deiner Tochter dasselbe Modell. Weil das gerade Mode ist wie damals, als alles mit einem i beginnen mußte.«

      »Mann, stellst du dich heute wieder stur, Basti.« Devin atmete tief ein und fuhr sich dann mit der Hand durch das graue Haar. »Nicht allein auf Smartphones, auch auf Tablets …«

      »Alles Android oder iOS oder Windows mobile … Und wenn, dann brauchen wir als erstes mehr Beispiele, mehr Bilder oder Videos mit diesen umflorten Gestalten. Wenn uns deine Tochter und ihre Freundinnen mehr davon schicken würden? Und dann sollten wir ihren Handy-Speicher auslesen.« Devin mußte wissen, daß sich die jungen Leute kaum darauf einlassen würden. Damit hatte sich die Angelegenheit erledigt, und er, Sebastian, konnte sich wieder seinen neusten Ideen zur Emotionserkennung bei Tieren zuwenden.

      In dem Moment kam Annika heran, Torsten im Schlepptau. »Chefs, eine Sekunde?« fragte sie, wobei ihr Pferdeschwanz wippte. Sebastian nickte, doch Devin ging sofort in Abwehrhaltung. Sebastian versetzte ihm einen sanften Rippenstoß: Gerade im »Inspiration Space« sollte man immer Zeit für die Mitarbeiter haben. Interaktion brachte Innovationen hervor.

      »Da ist was im Busch.« Annika, resolut und selbstbewußt, legte ihr Smartphone neben das Tablet auf den Tisch. »Das geht schon den ganzen Morgen so. Facebook, Twitter, einfach überall.« Auch Torsten hielt nun sein Gerät Sebastian und Devin hin, Annika wischte von einer Seite zur nächsten. Und jetzt erkannte Sebastian, was sie zeigen wollten: Menschen mit diesem ominösen Strahlenkranz! Auf Privatfotos, Medienseiten, selbst in YouTube-Videos. Hier ein Fußballstar, der gerade den Verein wechselte, da eine Touristin vor der Porta Nigra in Trier, dort ein chinesischer Wachsoldat, der mit seinen Kameraden an irgendeiner Parade teilnahm, eine ältere Frau mit Rollator. – Letzteres war offensichtlich die Aufnahme einer Überwachungskamera. Und sie alle umgab ein feines, durchsichtiges, helles, fast schon strahlend weißes Gebilde. Es hüllte den gesamten Körper von Fuß bis Kopf ein, machte jede Bewegung mit, klebte wie ein privater Nebel an der Person.

      In den sozialen Medien gab es bereits die ersten Kommentare: Überall auf der Welt würden »Leute mit Aura« gesichtet. Erste Beobachtungen etwa ab null Uhr GMT. Eine Werbeaktion – von wem? Was konnte es sonst sein? Kunst?

      Sebastian lehnte sich zurück. Bei ein, zwei vereinzelten Vorfällen hätte er an einen ziemlich aufwendigen Scherz glauben können, so einen, wie sie sich Nerds ausdachten. Aber bei Hunderten von Fällen? Und wieso war er nicht selbst darauf gestoßen? Er langte nach Devins Tablet, tippte und wischte: Die Aura war inzwischen sogar in die Nachrichtenportale gelangt. Einer der Kommentatoren ereiferte sich heftig gegen den »esoterischen Begriff aus der Blogosphäre«. Streng genommen handele es sich um eine Aureole! Die wenig beliebte französische Landwirtschaftsministerin besaß eine solche Aura oder Aureole, ebenso ein Regenschirmträger


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