Marslandschaften. Angela Steinmüller
Minuten später trafen sie sich – alle fünfzehn Mitarbeiter – im Meeting Room, einem fensterlosen Raum mit einer hellblau erleuchteten Decke, die einen leicht bewölkten Himmel nachahmte. Normalerweise galt hier Smartphone-Verbot – heute jedoch nicht. Der Anlaß hatte sich herumgesprochen. »Das ist eine Invasion«, witzelte Steve, der für die Hardware zuständig war. »Nur nicht die Invasion der Body Snatcher, sondern der Body Wrapper.« »Der moldawische Präsident soll auch eine Aura haben.« »Virales Marketing, was sonst …« »Das haben sich Hacker ausgedacht! Die treffen sich doch gerade … Soll vielleicht auf das Hackathon hinweisen.«
Sebastian ließ sich in einen Sessel fallen und lehnte sich zurück. Kaum passiert etwas, dachte er, spielen alle verrückt. Überdreht sind unsere »High Potentials« sowieso, aber jetzt … Selbst Devin fiel es schwer, »das Gequatsche«, also den lebhaften informellen Meinungsaustausch, zu unterbinden. Das Räuspern, mit dem er sonst Meetings einleitete, ging in dem Lärm unter. Er hieb mit der flachen Hand kräftig auf den Tisch. »Also Leute!« Schlagartig war Ruhe.
Sebastian erhob sich, straffte sich und ging in den Workshop-Modus über. Er nickte Annika zu, die stellte sich an das Flipchart, um Notizen zu machen. »Tragen wir zusammen, was wir wissen. Welche Geräte, welche Plattformen sind betroffen, welche nicht? Wissen wir etwas über die Verbreitungswege?«
Das Bild erhielt mehr Details, aber nichts fügte sich zu einem Ganzen. Anscheinend waren tatsächlich beliebige Smartphones, Kameras und andere Handhelds, Tablets, Laptops betroffen. Zumindest die neueren Modelle. Angeblich konnte man, einem Tweet zufolge, der heftig weitergegeben wurde, auf einem inzwischen über zehn Jahre alten Smartphone die »persönlichen Strahlenkränze« nicht sehen. Hieß das, daß nur die neueren Betriebssysteme befallen wurden? Alle schienen sich einig zu sein, daß nur eine Art Virus – ein sehr potentes Virus – die Anomalie hervorrufen konnte. Aber Annika malte ein Fragezeichen hinter das Wort.
»Ist das BSI schon dran? Was sagen McAfee, Bullguard, Norton dazu? Gibt es Warnungen aus der Datenschutz-Szene?« Er mußte nicht erwähnen, daß es sich um den gravierendsten Sicherheitsbruch seit den Attacken mit Erpresser-Software vor einigen Jahren handelte, das verstanden alle im Raum, selbst die Grafikdesigner, die derartige Fragen eigentlich nichts angingen.
Bert, der Datenschutzverantwortliche, fühlte sich jetzt doch angesprochen. »BSI – niente, ich bekomme nur Kontakt mit dem üblichen Abwimmel-Bot. EuroSec – rien. Kaspersky – null Komma nichts, nein, doch, gerade eine kurze Verlautbarung: Vermutlich harmlos, aber sie arbeiten dran. – Also, ich bleibe an der Sache. Aber ich bin sicher, das ist kein normales Virus, kein Wurm, auch kein Trojaner, der irgendwelche Sicherheitslücken nutzt.« Was es dann sei, konnte er aber nicht sagen.
Das war zwar unbefriedigend, aber es entsprach Sebastians Bauchgefühl. Er ging zum nächsten Problemkreis über: Was wußten sie über die »Strahlemänner und -frauen«, die »Aura-Träger«? Gab es Gemeinsamkeiten? Es handelte sich doch nicht ausschließlich um VIPs, oder? – Wie zu befürchten, hagelte es eine wilde Mischung von Beispielen, sogar – wohl beim Selfie-Schießen entdeckt? – aus dem persönlichen Umfeld: Hier eine Mitschülerin, da der Busfahrer, eine Nachbarin. Auf den ersten Blick herrschte hier der Zufall. Und auf den zweiten? Hatte jemand eine Idee? Auf den verstreuten Beispielen ließ sich auch keine Statistik aufbauen, akzeptiert. Immerhin hatte Torsten eine Website gefunden, auf der Bilder mit »Auratischen« gesammelt wurden. Na, fabelhaft – keiner verstand, was vor sich ging, aber einen Begriff hatte man schon. Nun wohl, am Ende würde man sehen … Es würde ihn wundern, wenn nicht bereits Dutzende von Teams weltweit an dem Problem saßen. Je unverständlicher das Ganze, desto geringer waren allerdings ihre Chancen, mit einer Patentverletzungsklage durchzukommen …
Plötzlich lief eine Welle der Unruhe durch den Meeting Room. Alex lachte nervös, Sylvia, die Praktikantin, fiel ein, Bert griff nach seinem Smartphone – und mit einem Mal hatten alle ihre Teile in der Hand und drehten die Rückseiten ihm, Sebastian, zu. Was sollte das? Das war hier kein Foto-Shooting … Und Selfies machte er immer noch selbst von sich.
»Ich fürchte, Basti«, meinte Devin, der ebenfalls sein Telefon hochhielt, halb belustigt, halb irritiert, »dich hat es auch erwischt.«
Da saß er nun an seinem Schreibtisch und wischte sich durch die Bilder, die die Kollegen von ihm gemacht hatten. Auf allen war er die Hauptperson, eben ein »Auratischer«. Er stand am Kopfende des Tischs, hatte die Hände gehoben, keine fragende Geste, eher eine der Überraschung, der Verlorenheit, der Abwehr. Und rings um ihn war dieser Strahlenkranz, diese Ganzkörperaura – als sondere er Helligkeit ab. Nein, als ein Leuchten von innen konnte man es nicht bezeichnen, eher wirkte es wie diese Kirilian-Fotografien, die vor ein paar Monaten in der Ausstellung »EsoKult – Esoterische Kunst aus Rußland« gezeigt worden waren. Wäre nur er betroffen gewesen, hätte er an einen schlechten Witz geglaubt. Und immer noch war er sich nicht sicher, ob es sich nicht doch um eine Kunstaktion oder einfach um eine besondere Werbemaßnahme handelte. Obwohl er immer noch nicht den geringsten Schimmer davon hatte, wer das veranstaltete und auf welche Weise. Die eigenen Mitarbeiter, Bert, Steve, Torsten, auf die er für gewöhnlich große Stücke hielt – schließlich hatte er sie selbst eingestellt –, versagten offensichtlich bei dieser Frage. Das war eben etwas anderes, als eine App zu entwickeln, die den Gemütszustand von Hunden anhand der Körpersprache identifizierte. Aber nichts gegen die App. »Your Dog Speaks« lief wahnsinnig gut. Schon in dritter Version.
Dann ein Screenshot. Hier hatte Alex die Aura entdeckt: Auf ihrer Firmen-Webpräsenz! Da war sein Konterfei, das eines energischen Mitinhabers eines dynamischen und innovativen Unternehmens, modebewußt in schwarzem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sebastian rief die Seite auf: Die Aura war noch da, hob ihn hervor. Wie blaß Devin dagegen wirkte! Er schaute weiter. Selbst sein Porträt bei LinkedIn war von dem hellen Strahlenkranz umgeben. Wer brachte dergleichen zustande? Wer schaffte es, zugleich Telefone und Websites zu manipulieren … Die einfachste Erklärung war noch immer, daß er spann, sozusagen sein eigenes Gespenst sah. Doch diese gespensterhafte Erscheinung war allen Kollegen erschienen, und er war beileibe nicht der einzige mit der Aura. – Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Und von wem?
Er erhob sich, spazierte reichlich unentschlossen auf den Flur. Vor dem intelligenten Spiegel, den Devin einst angeschafft hatte, um Krawatten virtuell anzuprobieren, hielt er kurz inne. Auch der mannshohe Bildschirm des Spiegels zeigte ihn mit Aura, einer lichten Ganzkörper-Aura, sinnigerweise in Kopfhöhe umgeben von einer zweiten Aura aus Börsen-Charts und Ticker-Meldungen … Schwarze Striche – Pixelausfall – verliehen dem Ganzen einen künstlerischen Anstrich. Kurz entschlossen klopfte er an Devins geöffnete Tür. »Du, was hältst du davon, wenn ich mal bei den Hackern vorbeischaue?«
Devin nahm seine Denkerpose ein, lehnte sich vor, faßte sich ans Kinn, zog die Stirn in Falten. »Die meisten«, überlegte er, »halten die Aura für eine Auszeichnung. In den sozialen Medien brüstet man sich damit: Schaut her, ich bin auserwählt! – Was für ein Humbug!« Er richtete sich auf: »Ich bin immer noch überzeugt, daß hier unsere Patentrechte verletzt werden. Das sollte uns schon etwas wert sein. Wenn mir jemand Roß und Reiter nennt, den Algorithmus bringt – das wäre mir …« Er überlegte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Was hältst du von 10 000? Gut, 5000 Belohnung – oder Erfolgshonorar – könnten auch genügen. Wir wollen es nicht übertreiben. Aber es geht um die Ehre. Und nun sieh zu, du Strahlemann, Aura-Träger, Auratischer, wie du das Ding wieder loswirst! Ist ja peinlich, so ein Weihnachtsbaum-Kostüm!«
Wenn ihn nicht alles trog, war Devin ein wenig neidisch.
Die riesige Markthalle, die früher Massen von Fischhändlern beherbergt hatte, lag in Halbdunkel, erhellt vor allem durch Hunderte und Aberhunderte von Bildschirmen, vor denen die Nerds saßen, knieten, standen. Ab und zu reckte sich einer, spazierte zwischen den Reihen entlang. In seiner Studienzeit hatte Sebastian selbst an dem einen oder anderen Hackathon teilgenommen. Er kannte den Geruch von warmer Technik und verschwitzten Menschenleibern, von verschütteten Energydrinks – damals, zu seiner Zeit, war Red Bull angesagt gewesen. Vorsichtig stieg er über Kabel, ab und zu knirschte es unter seinen Füßen.
Es hatte wilde Hackathons gegeben, bei denen man Brain Food, Chips und Studentenfutter in kleinen