Der Untergang des Abendkleides. Ella Carina Werner

Der Untergang des Abendkleides - Ella Carina Werner


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      »Das habe ich mich damals auch die ganze Zeit gefragt«, knurrt Mutter. »Zunächst ist aber noch der Damm gebrochen, beziehungsweise gerissen. Gefolgt von einem ohrenbetäubenden Schrei, ob aus meiner Kehle oder deiner, die du plötzlich irgendwo zwischen meinen Beinen baumeltest. Ja, da warst du.«

      »Da war ich«, echoe ich, irgendwie erleichtert.

      »›Wenn du dein Baby im Arm hältst, sind alle Schmerzen vergessen‹«, singsangt meine Mutter. »Auch so eine Weisheit. Also bei mir nicht. ›Nie wieder. Nie, nie wieder‹, habe ich nur gestammelt, als ich dich im Arm hielt. Aber das habe ich bei deinen Geschwistern später auch gesagt.«

      Mutter trinkt ihren letzten Schluck Tee. Ich fühle mich irgendwie betreten.

      »Das tut mir alles sehr leid, Mama«, sage ich und wische mir den Schweiß von der Stirn.

      »Das hättest du damals sagen sollen«, schnaubt Mutter, »anstatt auch noch die ersten hundertfünfzig Nächte durchzubrüllen.«

      Ihre hellen Augen funkeln mich an.

      »Danke für alles«, sage ich reumütig. »Danke, danke, danke.«

      »Und ich dachte schon, du würdest es nie sagen«, sagt meine Mutter mit sehr zufriedenem Blick.

      Und nun bräuchte sie dringend mal einen Schnaps.

      Ich hole kleine Gläser, wir trinken einen Kräuterbitter. Und dann noch einen.

      »Soll ich dir was sagen?«, sage ich, schon ein bisschen schnapsselig. »Manchmal, wenn mir das ganze Leben über den Kopf wächst, wünsche ich mich wieder da hinein«, sage ich und zeige auf Mutters Bauch.

      »Manchmal, wenn du als Kind mal wieder deine Ausraster hattest, kam mir derselbe Gedanke«, lächelt meine Mutter. »Und willst du auch noch wissen, wie du gezeugt wurdest«, erkundigt sie sich, »jetzt, wo ich gerade so in Fahrt bin?«

      Auch wenn das natürlich spannend klänge, sage ich, heute lieber nicht. Ich müsste das eben Gehörte erst mal verarbeiten, so die nächsten sieben, acht Jahre.

      »Ein andermal«, sage ich salomonisch. »Ein andermal bestimmt.«

       Menopause Turbosause

      Freitagabend. Wir hängen in Kirstens Wohnzimmer herum, Kirsten, Lisa, ich und vier leere Flaschen Burgunder. Ich liege in den flauschigen Kissen des Sofas und komme nicht mehr heraus.

      »Wie wäre es, wir machen mal wieder was Verrücktes?«, durchbricht Lisa die schläfrige Stille und richtet sich in ihrem Sofakissen auf.

      »Was?«, fragt Kirsten. Ihr linkes Auge schimmert durch ihr Weinglas.

      »Etwas, das wir schon immer tun wollten«, sagt Lisa. »Etwas, nach dem wir uns immer gesehnt haben.«

      »Ein abbezahltes Eigenheim«, haucht Kirsten.

      »Globaler Kommunismus«, rufe ich.

      Lisa schüttelt den Kopf.

      »Wir gründen eine Punkband«, sagt sie. »Das wollten wir doch immer. Damals, in der Schule, da waren wir kurz davor. Bis sich Ella in diesen bibeltreuen Christen verknallt hat, und aus war’s mit dem Traum.«

      Kirstens Auge guckt jetzt über ihr Weinglas. Ich sinke noch tiefer in mein Kissen. Die Bandpläne, die hatte ich ganz vergessen. Den bibeltreuen Christen hatte ich auch ganz vergessen, aber jetzt kommt alles wieder hoch.

      »Ich bin dabei«, sagt Kirsten und hebt einen Arm. »Ich bin die Sängerin.«

      »Ich bin auch die Sängerin«, sage ich.

      »Mist. Ich bin auch die Sängerin«, sagt Lisa.

      Wir schweigen.

      »Ist Punk nicht tot?«, frage ich.

      Lisa stellt ihr Weinglas ab. Ihre Wangen geraten ins Glühen.

      »Nicht Punk leicht verblühter Akademikerinnen«, sagt Lisa, »die teilweise sogar Kinder haben.«

      Was da für Potenzial drinstecke. Für Radikalität, für Wut, für überschüssige Energie, die sich in unseren Texten freisetze und in unseren Kopfsprüngen in die pogende Menge. Ein innerer Aufruhr, der sich in unserem heiseren Brüllgesang Bahn bricht und als wütender Speichel ins Mikro tropft. Der all unsere verworrenen Sehnsüchte herunterbricht in dreckige Dreitonakkorde.

      Ob man auch seinen Ärger mit der Autoversicherung in dreckige Dreitonakkorde gießen könne, fragt Kirsten, und Lisa sagt: »Das kann man.«

      Wo wir auftreten sollen und in welchen Intervallen, auf welche Körperteile wir die Büroklammern stecken, in welcher Sprache wir singen, ob Deutsch, Englisch oder in irgendeinem radikalen Anarchodialekt, Plattdeutsch oder Nordhessisch, und wer die Instrumental-CD einlegt, wenn wir zu dritt ins Mikro grölen, dass der Speichel spritzt: All das denken wir an, aber nicht zu Ende.

      »Wir brauchen Sicherheitsnadeln«, sagt Lisa. »Und wir brauchen richtig steile Iros.«

      »Der Punker, den ich mal kannte«, sage ich, »hat seinen Iro immer mit Sperma in Form gebracht.«

      Das bringt uns ins Grübeln.

      »Wir brauchen Sperma«, sagt Lisa. »Und wir brauchen einen guten Bandnamen, der klassisch-anarchisch ist und doch mit unserer realen Lebenssituation irgendwie verwoben.«

      »Eiternde Kaiserschnittnarbe«, schlägt Kirsten vor.

      »Tod im Eigenheim«, lege ich nach.

      »Kommando Klitoris«, erweitert Lisa die Liste. Lisa sagt, sie habe die aktuellen deutschen Punkbands gegoogelt, Zwangsentsamung hießen die oder Erigiert ist der größer. Nun gälte es, verkrustete patriarchale Strukturen aufzubrechen.

      »Oder wie wäre es mit Menopause Turbosause

      Dann rufen alle durcheinander: Frau Hölle, Blitzkrieg in der Baugemeinschaft, Einstürzende Drittstaaten, Rostige Rosenbüsche, Ausgeleierte Poporitze, Moshende Mütter

      »Mütter, wieso denn Mütter«, mault Lisa. Warum wir sie andauernd diskriminierten, nur weil sie als Einzige von uns keine Kinder hätte. Man könne auch ohne Kinder keine Lebensfreude haben. Man könne auch ohne Kinder richtig scheiße drauf sein.

      Ich schließe die Augen. Bildgewaltige Szenen schießen mir durch den Kopf wie der Alkohol durch die Venen. Ja, wir gründen eine Punkband. Wir werden auf rotzigen Festivals spielen, dort, wo die Bratwürste fünfzig Cent kosten und das Bier aus verbeulten Dosen schießt. In rostigen Kupferkesseln blubbert gammeliges Chili sin Carne, während die männlichen Punker uns zaudernd zulächeln. In zerfetzten Leggins und Netzhemden toben wir über die Bühne, und am Ende tritt Kirsten an den Bühnenrand und zeigt allen ihre Kaiserschnittnarbe.

      Kirsten holt eine neue Weinflasche, ein guter Grauburgunder.

      »Schlechter Grauburgunder«, sage ich, »auch ein guter Bandname.«

      Jetzt geraten wir richtig in Wallung. Jetzt ist alles auf einmal klar. Wir werden auf Reisen gehen, in unserem Tourbus, wir sausen durch Rostock, Krakau, Minsk bis hinein in Putins Kreml. Wir werden Sex haben, mit zahnlosen Hausbesetzern und den Leitern der Goethe-Institute, beschwört Lisa.

      »Wieso denn Goethe-Institute?«, frage ich.

      »Weil eine A-cappella-Punkband von Frauen mit universitärer Bildung total in deren Förderkonzept passt«, erklärt Lisa.

      Ob wir nicht lieber die FSJler der Goethe-Institute nehmen könnten, schlage ich vor, und alle sind einverstanden.

      Ob ihre Kinder mitkommen dürften, will Kirsten wissen.

      »Ja, die Kinder dürfen mit«, sagt Lisa, »aber nur im Gepäckfach.«

      Und ihr Mann auch, denn irgendwoher bräuchten wir ja das viele Sperma.

      Plötzlich scheint sich


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