Der Untergang des Abendkleides. Ella Carina Werner

Der Untergang des Abendkleides - Ella Carina Werner


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einmal wieder zu fühlen, wer ich war und wo ich stand. Das war mir sonst nur selten klar, daheim bei meinen Leuten, in meiner vertrauten Welt.

      »Und Walfang, was sagst du dazu?«, durchbrach Jörns übersprudelnde Stimme meine Gedanken.

      »Nicht so toll«, sagte ich.

      »Okay, finde ich auch«, murmelte er enttäuscht.

      Dann fiel ihm etwas ein: »Aber wenn das Arbeitsplätze schafft?«

      »Spielt keine Rolle!«, rief, nein, verkündete ich, spieh jede Silbe in den Nachthimmel. So langsam kam ich in Fahrt.

      »Spielt keine Rolle«, japste Jörn. »Großartig, ja komplett krank. Was für ein Gespräch!«

      Es war wirklich ein tolles Gespräch, das muss ich sagen. Wir hatten uns nichts zu sagen, aber das immerhin diametral.

      Es war erstaunlich: Bei Tageslicht hätten wir uns gehasst, im Alltag wären wir uns seit dem Abitur nie mehr über den Weg gelaufen, außer vielleicht beim TÜV, aber hier und jetzt standen wir Seite an Seite, zwei Antipoden, vereint in Differenz, und sahen gemeinsam über den endlosen Acker bis zum Horizont. Der sich, so war es schemenhaft zu erkennen, in diesem Moment noch weiter ausdehnte, immer weiter, unendlich weit, ob bedingt durch literweise Pils oder dieses Gespräch, war nicht zu unterscheiden.

      Ich dachte daran, den Arm um Jörns Schulter zu legen, aber ich tat es nicht.

      »Ella, sieh auf den Acker«, sagte Jörn, wobei seine Stimme ein leichtes Crescendo hinlegte. »Schau genau hin. Was siehst du?«

      »Monokultur«, sagte ich mit Grabesstimme. »Pestizide. Insektensterben. Vanitas.«

      »Und ich den Technologiepark, der hier bald gebaut wird«, jubelte Jörn. »So verschieden sind wir. Du Destruktion, ich Konstruktion. Du billige Zigaretten, ich gute Zigaretten. Du Rosa Luxemburg, ich Jeff Bezos!«

      Während ich noch versuchte, die beiden Genannten im Geiste zusammenzubringen, riss Jörn bereits beide Arme gen Himmel: »Ella, deine bloße Gegenwart irritiert und inspiriert mich zugleich. Deine herrlichen Denkfehler. Dein komplettes Unwissen. Deine hammergeile«, er sagte wirklich hammergeile, »Ignoranz. Jedes deiner Worte, jeder deiner Blicke, deine selbst gedrehten Ökokippen, ja sogar deine schlecht gefilzte Umhängetasche schreien mir ins Gesicht: Ich weltfremde Gutmenschtante verachte Leute wie dich!«

      »Du lieber Himmel, du bist wirklich total bekloppt«, hauchte ich. »Ich verstehe dich nicht. Nichts an dir leuchtet mir ein.«

      »Ich dich auch nicht«, strahlte Jörn.

      »Oh, hallöchen, ihr beiden.«

      Es war der nette Branko aus der Theater-AG.

      »Na, was treibt ihr beiden denn so?«, fragte er, während er aus der Tasche seines Anoraks eine Schachtel Zigaretten herausfischte.

      »Horizonterweiterung«, rief Jörn. »Zwiesprache. Neue Perspektiven gewinnen.«

      »Wir quatschen hier gerade total konträr über die großen gesellschaftlichen Fragen«, krähte ich.

      »Ist super«, riefen wir beide im Chor. »Mach mit. Erzähl uns von dir. Wer bist du? Wo stehst du? Was willst du vom Leben?«

      Branko entzündete eine Camel und sagte, er arbeite als Berufsschullehrer, spiele Tuba in der Kirchenkapelle, engagiere sich ehrenamtlich bei den Johannitern, fahre einen schmucken Audi A8 und wähle CDU oder auch mal die Grünen. »Reicht das?«

      »Uff«, sagte ich.

      »Ach du Scheiße«, sagte Jörn und kratzte sich am Kopf. »Das passt jetzt leider gar nicht. Audi A8 und Helfersyndrom zugleich, und dann noch deine Balkanwurzeln, das ist zu mehrdimensional, wo sollen wir dich einordnen?« Das brächte alles durcheinander. Das würde hier noch mal ganz neue Fässer aufmachen.

      »Und dann noch Camel-Zigaretten«, stöhnte Jörn. »Die konturloseste Marke der gesamten Tabakindustrie!«

      Er sah sich um.

      »Hey Branko, guck mal, die Tina. War das nicht deine Jugendliebe? Geh doch mal Hallo sagen«, sagte er und schob Branko ein Stück von uns weg.

      »Und Tempolimit, wie findest du das?«, erkundigte sich Jörn, als Branko wieder verschwunden war, aber seine Stimme klang nun schon etwas träger. Das Gespräch hatte ein Stück an Schwung verloren. Frauenquote, Grundrente, die Vor- und Nachteile von Atomkraft, all das rissen wir noch halbherzig an. Ausgelaugt, aber auch zufrieden umarmten wir uns nachts um drei. Dann trennten sich unsere Wege.

       Theater mit Tante

      Ab 23 Uhr ist mit den Menschen nicht mehr viel los, vor allem in der U-Bahn. Gesichtszüge entgleiten. Oberkörper verlieren an Spannkraft. Schultern sacken gegen Fenster. Wildfremde Menschen schmiegen sich aneinander. Niemand sitzt mehr kerzengerade, außer meine Tante.

      »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagt meine Tante auf dem Sitz neben mir und zupft an ihrem Abendkleid, dessen glänzender Saum den Boden streift.

      Das Theaterstück, nun ja, es habe ihr schon ganz gut gefallen. In der Dramaturgie bestünden jedoch einige Mängel. Die Figurenkonstellation sei schwach gewesen und die Handlungsschritte nicht immer klar motiviert.

      »Wie hieß das Stück noch gleich?«

      »König der Löwen«, sage ich müde und spähe durchs Fenster, über die nachtschwarze Elbe.

      »Und dieser junge Protagonist«, sagt meine Tante, »dieser adoleszente Löwe namens Simba war auch etwas eindimensional.«

      Meine Tante ist Gymnasiallehrerin. Pensionierte Gymnasiallehrerin, das muss man wissen.

      »Es ist ein Musical«, sage ich.

      Das spiele keine Rolle, erklärt meine Tante. Bühnenaufführung sei Bühnenaufführung und müsse sich beweisen. Sie bleibe dabei: Einzelne Handlungsstränge seien unverständlich, ja komplett entbehrlich gewesen, genau wie dieses quälende Popcorngeraschel hinter uns.

      »In den meisten deiner Opern ist die Handlung auch unverständlich«, sage ich.

      »In den meisten Opern ist der Eintritt wenigstens so teuer, dass man sich die Frage gar nicht stellt«, kontert meine Tante. »Und auch dieser Gegenspieler, dieser Scar! Himmel, so durchschaubar wie die Witze in der Damenkloschlange.«

      Apropos, eine so vollgepinkelte Klobrille habe sie seit der Uraufführung der Iphigenie in der Staatsoper nicht mehr gesehen.

      Uns gegenüber sitzt ein älteres Paar in komplementärfarbenen Multifunktionsjacken. Die Frau umklammert ein Königder-Löwen-Programmheft, blickt uns wortlos an.

      »Warum waren wir noch mal da drin?«, erkundigt sich meine Tante.

      »Ein Freund arbeitet da und hat mir die Karten geschenkt«, spule ich zum dritten Mal ab. Einmal im Jahr machen meine Tante und ich einen »kulturellen Abend«, nur wir zwei. Die restlichen 364 Tage muss ich mich davon erholen.

      »Und leider, leider war das Stück auch sehr epigonal«, stoßseufzt meine Tante. »Dasselbe Motiv des Brudermordes gibt es bereits bei Hamlet. Das muss man doch im Programmheft kennzeichnen.«

      Aber gut, all die literarischen Referenzen seien ja auch erfrischend. Das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis, herrlich, genau wie bei Kafka. Aber keine Verweise auf Schillers Räuber.

      »Warum eigentlich nicht?«

      Neugierig schaut meine Tante in die Runde. Die Frau gegenüber versteckt den Kopf hinter ihrem Programmheft.

      »Vor allem dieses alberne Warzenschwein, dieser Pumba«, fährt meine Tante unbeirrt fort, »war doch ein wenig zu typisiert. Immer nur fröhlich, das ist doch niemand, außer diese Grinsekatze Markus Lanz. Und überhaupt, die moralische Essenz des Stücks, dieses ›Hakuna Matata‹, es gibt keine Probleme: Komisch eigentlich, dass das beim deutschen Publikum so gut ankommt. Dass wir, die


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