Der Untergang des Abendkleides. Ella Carina Werner

Der Untergang des Abendkleides - Ella Carina Werner


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      »Ich will nicht mehr jeden Tag die Fußbodenheizung spüren«, verkünde ich, ehe ich mein sechstes Weinglas exe. »Ich will mich nicht mehr fühlen wie in einem Song von Tocotronic

      »Du hast gar keine Fußbodenheizung«, sagt Kirsten.

      »Und natürlich schreibe ich die Texte«, rufe ich, nun kann mich nichts mehr halten.

      »Mach richtig dreckige Metaphern rein«, beflügelt mich Kirsten, und Lisa lärmt: »Richtig gute Texte schreiben, das wolltest du doch immer!«

      »Das wollte ich immer«, sage ich.

      Anarchisches Liedgut spinnt sich in meinem Kopf wie von selbst, Songtitel kommen mir in den Sinn von nie da gewesener Wucht.

      »Per Taxi in die Hölle«, »Fußpilz in Flensburg«, »Macht aus dem Staat – Couscoussalat« …

      Kirsten sitzt stumm da, schaut auf ihre Socken.

      »Eigentlich mag ich den Staat ganz gern«, sagt sie.

      »Dumpfbacke«, sagt Lisa. »Das ist doch nur metaphorisch gemeint. Wir wollen aufrütteln, provozieren, sabotieren!«

      Ich höre kaum zu, ganze Mitgrölrefrains brechen sich in meinem Kopf Bahn mit ungeahnter Wucht: »Hey, ihr Spießer, unsere Lieder brennen eure Städte nieder«, »Sie fiepen laut, sie kriechen raus – Ratten im Schauspielhaus«, oder Reformhaus? Dürfen sich Punkverse überhaupt reimen? Egal, wüste Liedzeilen fügen sich aneinander, brutaler als Battle-Rap, unappetitlicher als die Geburt meiner Tochter. Und ab und an ein bisschen Diskurs-Punk, aber nur für die Goethe-Institute. Ansonsten: dreckige, eingängige Zeilen, die sämtliche bürgerlichen Werte schreddern.

      »Ich mag die bürgerlichen Werte eigentlich ganz gern«, sagt Kirsten.

      »Scheiße Mann, ich mag die bürgerlichen Werte auch ganz gern«, sagt Lisa. »Das kann ja ruhig deine faschistische Privatmeinung sein, das musst du ja nicht gerade ins Mikro grölen.«

      Kirsten sagt, Lisas Ton sei ihr jetzt zu schroff. Gewalt befürwortende Songtexte gern, aber in dem Ton nicht untereinander. Und wenn sie darüber nachdenke, sei es ihr irgendwie doch zu intim, wenn Lisa und ich das Sperma ihres Mannes im Haar trügen. Überhaupt sei sie sich gerade gar nicht mehr so sicher. Wie solle das mit der Tournee denn laufen, ihre Söhne müssten dienstags zum Hockey.

      »Dann nehmen wir halt Analogsperma«, lenkt Lisa ein. »Dann kommt der Hockeylehrer halt mit. Jetzt darf nicht alles wieder platzen. Jetzt, wo wir so weit sind.«

      »Analogsperma«, rufe ich. »Auch ein guter Bandname!«

      »Wir kündigen unsere Jobs«, glüht Lisa. »Wir kündigen die Kitaplätze, den Generationenvertrag und den bürgerlichen Wertekanon. Fangen wir einfach an.«

      »Jetzt gleich?«, frage ich. Lisa nickt. Sie habe dieses Wochenende sonst nichts Wichtiges vor.

      »Okay«, sage ich.

      »Okay«, sagt Kirsten. »Fangen wir damit an, Löcher in unsere Strickjacken zu schneiden.«

      Ich stehe auf, wanke durchs Wohnzimmer.

      »Weißt du, wo die Küchenschere liegt?«, ruft Kirsten.

      »Ich glaube schon«, sage ich.

       Pro und Kontra

      Ich war neulich bei meinem 20-jährigen Abijubiläum, und es war richtig nett. Es war nicht mehr dieses Herumgepose wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als alle noch beim Sortieren und Ankommen waren. Alle waren inzwischen irgendwo angekommen, wie fragwürdig auch immer. Die Dinge hatten sich ein wenig gesetzt. Wer jetzt kein Kind hatte, gebar keines mehr. Wer jetzt noch rauchte, tat es für immer. Wer jetzt eine nette Ehefrau hatte, verließ sie erst in fünf bis zehn Jahren. Einträchtig stand man beisammen, freute sich, dass man noch am Leben war, und nuckelte an seiner Flasche Herforder Pils.

      »Und, Ella, was machst du noch mal?«, fragte Jörn, der draußen zwischen mir und dem Standaschenbecher stand. Wir rauchten. Hinter uns der geräumige Gasthof, in dem die Feier stieg, vor uns der nachtschwarze, westfälische Acker, der sich endlos vor unseren Füßen ausrollte bis zum Horizont.

      »Bist du nicht Analytikerin?«

      »Satirikerin«, sagte ich.

      »Oho«, sagte Jörn.

      Er blies den Rauch seiner Zigarette aus in kleinen, schnellen Stößen.

      »Also … bist du links?«, fragte er.

      »Hm. Schon«, sagte ich.

      »Wow«, sagte Jörn. Danach schwieg er eine Weile, sog gedankenvoll an seiner Zigarette, Marke Benson & Hedges.

      Dann, sagte Jörn, hätte ich vermutlich eine ganz andere Weltsicht als er. Dann, sagte er, dächte ich in vielen Dingen des Lebens quasi konträr zu ihm.

      Das sei möglich, sagte ich.

      Das sei fantastisch, sagte Jörn und strahlte mich an.

      Ich müsse wissen, seit seinem Studium der BWL und dem ersten Job in der Investmentberatung hätten immer alle dieselbe Weltsicht wie er. Ganz genau dieselbe. Sogar sein fünfjähriger Sohn spare schon sein Taschengeld für einen BMW. Immer alle d’accord, immer alle auf einer Linie, sagte Jörn mit Bedauern in der Stimme. Da erweitere man ja niemals seinen Horizont.

      »Für einen Investmentberater bist du richtig reflektiert«, sagte ich.

      Das sei er, nickte Jörn. Und ich herrlich schön frech. Ah, das habe ihm die letzten Jahre, ach was, Jahrzehnte, so manches Mal gefehlt. Einmal infrage gestellt zu werden, einmal kontra zu bekommen, wie sehr er sich danach sehne.

      Er sah mich an.

      »Wir können uns streiten, Ella«, sagte Jörn. »Pro und Kontra, Rede und Gegenrede, hier und jetzt.«

      »Okay«, sagte ich.

      »Sag mal was«, sagte Jörn.

      »Was?«, fragte ich.

      »Egal«, präzisierte Jörn. Es interessiere ihn alles. »Greif irgendwas heraus aus der Fülle an Themen.«

      Ich entfachte eine neue Zigarette und sagte, die Fülle an Themen würde mich grundsätzlich eher überfordern.

      »Dann«, sagte Jörn und raufte sich das dunkle Haar, das auch schon mal voller war: »Sag: Wie findest du Autos?«

      Er sah mich erwartungsvoll an.

      Jetzt musste ich liefern. Ich wählte meine Worte mit Bedacht.

      »Autos sind scheiße«, sagte ich. »Alle abschaffen. Alle ab in die Schrottpresse.«

      »Autos … scheiße … alle abschaffen«, wiederholte Jörn. »Unfassbar! Als wäre das so einfach. Als ob da nicht die ganzen Arbeitsplätze dranhingen und die gesamte deutsche Volkswirtschaft.«

      Er nahm aus seiner Benson & Hedges einen kräftigen Zug.

      »Und Mindestlohn, wie findest du den?«

      »Ab 20 Euro okay«, sagte ich.

      »20 Euro«, staunte Jörn und schlug sich gegen die Stirn.

      »Nein wie herrlich, nein wie realitätsfern«, sagte er und lachte leise in sich hinein. Als sei das nicht Ausweis reinsten Unwissens, ja kompletter Ignoranz.

      »Und Flüchtlinge?«, fragte er. »Was sagst du zu den vielen Flüchtlingen?«

      »Zu den Flüchtlingen sage ich Geflüchtete«, sagte ich.

      »Geflüchtete«, rief Jörn. »Köstlich! Sagt man das so in der Antifa? Salbadert man so in der taz? Und was tun, deiner Meinung nach, mit den vielen Geflüchteten?«

      Ich durfte ihn nicht enttäuschen.

      »Alle reinlassen«, sagte ich.

      »Alle


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