P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner


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      »Auf Warschau.«

      Soldaten und Sicherheitspolizisten drängten die panischen Menschen jetzt in Richtung Lesznostraße, wo eine Reihe von Lastwagen vorgefahren war. Barteczko fing an, hektisch in seinen Jackentaschen herumzuwühlen.

      »Meine Arbeitskarte … Wenn sie sehen, dass ich eine Arbeitskarte habe und eine legale Stelle, dann lassen sie mich laufen, bestimmt lassen sie mich laufen, oder, Tomasz? Was meinst du? Das Fernmeldeamt ist doch wichtig, oder? Verdammt wichtig ist das. Sie werden doch niemanden mitnehmen, der dafür sorgt, dass sie ihre Scheißtelegramme rechtzeitig auf den Weg schicken können …« Mit zitternden Fingern zog er schließlich die Papiere hervor, die im besetzten Warschau mehr wert waren als Tausendmarkscheine: die Kennkarte und die Arbeitsbescheinigung. »Hier, ich habe sogar einen Sonderausweis, weil ich beim Fernmeldeamt bin … und den Ausweis, ich habe noch meinen alten von vor dem Krieg, schau, auf dem Foto da, so habe ich damals ausgesehen …« Der alte Professor redete unentwegt, als könnte er auf diese Weise verhindern, dass die Polizeikräfte näher rückten. Tomasz griff nach den Wodkaflaschen und ließ sie eine nach der anderen auf dem Boden zerschellen. Besser so, als dass sie den Deutschen in die Hände fielen. Seine eigenen Papiere brauchte er nicht zu suchen – er trug sie immer in seiner Gesäßtasche mit sich.

      »He, ihr, rüber da! …« Deutsche Kommandos, Schlagstöcke, Stiefeltritte; das klapprige Tischchen fiel in den Dreck. Barteczko schrie auf und bückte sich nach seinen Büchern; Tomasz gelang es gerade noch, ihn an seiner Jacke wieder hochzuzerren, bevor die zurückweichende Menge über sie hinwegschwappte und sie mit sich riss. Heute hatten sie nicht einmal die Papiere kontrolliert, schoss es ihm durch den Kopf, während er schon zu einem der wartenden Lkws gedrängt wurde, den schluchzenden Barteczko hinter sich herziehend.

      »Ich hab sie verloren … Gerade hatte ich sie doch noch, und jetzt sind sie nicht mehr da!« Der Professor starrte ungläubig auf seine leeren Hände, die vor wenigen Minuten noch die rettenden Papiere gehalten hatten. »Was soll ich denn tun, wenn die mich festhalten? Was soll denn aus Antonia werden? O Gott, Antonia denkt doch, ich bin heute Abend wieder zu Hause …« Der alte Reflex hatte ihn überwältigt; die Unfähigkeit, seine geliebten Bücher im Dreck liegen zu lassen, hatte ihn eine entscheidende Sekunde lang die Papiere vergessen und sich schützend nach der Literaturgeschichte bücken lassen. Eine Sekunde lang, in der er wieder der war, als den seine Familie, seine Studenten ihn kannten: ein bibliophiler Gelehrter und schrulliger Feingeist anstelle eines abgerissenen Schwarzmarkthändlers …

      Tomasz biss die Zähne zusammen, um nicht auf ihn einzubrüllen, während der Laster sich in Bewegung setzte. »Reiß dich zusammen, Bartek! Die nehmen deine Personalien auf und schicken dich zurück nach Hause. Du bist zu alt fürs Lager.« Vielleicht stimmte es sogar. Oder vielleicht hatte Antonia noch einen Pelz oder ein Schmuckstück retten können, um ihren Mann damit freizukaufen. Mit Wertsachen war immer noch vieles möglich.

      Tomasz wandte sich ab und suchte unter den anderen Verhafteten nach einem bekannten Gesicht, aber niemand außer Barteczko kam ihm vertraut vor. Einige der Leute auf dem Wagen winkten und riefen den Passanten zu, sie sollten ihre Familien benachrichtigen, aber die meisten schienen viel zu schockiert zu sein und klammerten sich nur stumm aneinander. Ein kleines Mädchen schrie aus Leibeskräften, bis eine ältere Frau es hochhob und sein Gesicht gegen ihre Brust drückte. Lesznostraße, Tłomackiestraße, Bielańskastraße, Theaterplatz; Senatorska, Zamkowyplatz, Nowyzjazd. Vor der Kierbedziabrücke gab es einen Aufenthalt; eine Fahrradrikscha war umgekippt und blockierte die Straße. Die Polizisten brüllten auf den unglücklichen Fahrer ein, aber der Mann blutete aus einer Wunde am Kopf und war offensichtlich zu benommen, um sein Fahrzeug allein wieder auf die Räder zu stellen. Ein SS-Mann gab ihm einen Stoß vor die Brust, dass der Mann ins Taumeln geriet, rief dann einen anderen Uniformierten zu Hilfe und schob mit ihm zusammen das Gefährt aus dem Weg. Für ein paar Sekunden war die Aufmerksamkeit der Polizisten abgelenkt. Jetzt. Die Entschlossenheit, die Tomasz eben gefehlt hatte, war plötzlich wieder da, ließ ihn über die Reling hechten und auf die Straße springen. Es gab noch eine Rettung, wenn er nur schnell genug war, schnell genug in einer Seitenstraße verschwinden und sich in irgendeinem Kellerloch verstecken konnte …

      Er war noch nicht ganz gelandet, da traf ihn schon der Schlag eines Gewehrkolbens in den Rücken, so dass er aufstöhnte vor Schmerz. Der nächste Schlag ließ ihn zusammensacken wie eine Stoffpuppe.

      »Du Hurensohn, Scheißpolack, glaubst du, du kannst uns hier Ärger machen? Warte …« Er hob die Arme vors Gesicht, versuchte sich zu schützen. Dann eine andere Stimme.

      »Papiere.« In seinem Kopf war ein Dröhnen; er schmeckte Blut und fuhr sich mit der Zunge über die geplatzte Lippe. Wie im Nebel nestelte er die Papiere heraus. Ein Polizist riss ihm die Arbeitsbestätigung aus der Hand.

      »Nur das hier. Den Rest kannst du behalten.« Der Mann warf einen Blick auf die Bescheinigung, grinste und riss sie dann in Fetzen. »Wieder aufsteigen, los.«

      Tomasz konnte sich nicht erinnern, wie er wieder auf den Wagen gekommen war, aber plötzlich schwebte Barteczkos Gesicht über ihm wie ein bleiches Gespenst. »Tomek, mein Junge, kannst du mich hören? Ich fürchte, das war eine Dummheit, ich glaube nicht, dass sie dich jetzt noch laufen lassen …« Tomasz nickte stöhnend. »Kannst du aufstehen? Komm schon, ich helfe dir. Wir sind gleich in der Skaryszewskastraße.«

      Das Durchgangslager in der Skaryszewskastraße – es gab keinen Warschauer, der es nicht kannte. Es war ein klotziges, vierstöckiges Gebäude mit einer Mauer darum, in dem vor dem deutschen Einmarsch eine höhere Schule untergebracht gewesen war. Vor dem deutschen Einmarsch, bevor alle höheren Schulen und Universitäten von den Besatzern geschlossen worden waren. Wenigstens hatte Tomasz sagen hören, dass man von der Skaryszewskastraße nicht ins Konzentrationslager, sondern zur Zwangsarbeit geschickt würde. Er stolperte mit den anderen zusammen durch ein Spalier von Bewaffneten zum Tor.

      Gleich am Eingang wurden die Papiere kontrolliert. Zusammen mit anderen, die ebenfalls keine Arbeitspapiere vorzeigen konnten, wurde Tomasz weiter in das Gebäude gedrängt; er hörte die Menschen um sich herum stöhnen und schreien und eine Frau, die man ebenso wie ihn der Gruppe der Festgehaltenen zugeteilt hatte, laut und energisch protestieren.

      »… ich arbeite in einer Armeebäckerei, ich bin unabkömmlich! Ihr könnt mich hier nicht festhalten! Ich habe meine Arbeitskarte, ich kann mich ausweisen! Lasst mich gehen, ihr Schweine …« Ein dumpfer Schlag und ein Schrei beendeten die Tirade. Hatte sie wirklich ihr Schweine gesagt, fragte sich Tomasz, und wenn ja, war es dumm gewesen oder mutig? Oder beides?

      »Frauen nach rechts, Männer nach links, macht schon!« Uniformierte trieben sie durch die Flure in einen großen Raum, der vielleicht einmal ein Zeichensaal gewesen war. »Ausziehen und die Kleider ordentlich um die Schuhe zusammenrollen! Alles dahinten an den Durchgang legen! Die Kleidung wird desinfiziert. Und dann rüber zum Duschen!« Was vor wenigen Minuten noch eine Gruppe unterschiedlicher Männer gewesen war mit unterschiedlicher Lebensgeschichte – Handwerker, Berufsschüler, Geistliche, Beamte, Schieber –, verwandelte sich in eine Masse nackter, zitternder Leiber. Tomasz steckte seinen Brustbeutel in die Jackentasche und hoffte, dass er ihn später wiederfinden würde. Der Beutel enthielt ein paar wenige Dinge, die ihn mit seiner Vergangenheit verbanden – ein Exemplar seines ersten veröffentlichten Artikels; ein kleines Stückchen Bernstein. Und natürlich das Foto von Agnieszka und Jan, als der Kleine gerade drei Monate alt gewesen war.

      Die Wachen drängten ihre Gefangenen in Richtung einer großen Flügeltür; es war sinnlos, sich zu widersetzen. Die Berührung von fremder nackter Haut war unangenehm, und Tomasz bemerkte, wie ein Gefühl der Scham sich über sie alle legte und daran hinderte, sich in die Augen zu sehen, ja überhaupt ein Zeichen zu geben, dass sie sich gegenseitig wahrgenommen hatten. Als könne man so wenigstens eine Illusion von Würde bewahren.

      Der Nebenraum war so groß wie der, in dem sie ihre Kleider ausgezogen hatten, kahl und fensterlos und mit einigen Dutzend Duschköpfen ausgestattet, die an Rohren unter der Decke montiert warten. Keiner unter ihnen, der nicht schon von den Duschen gehört hatte, keiner. Tomasz spürte, wie sein Herz sich weigerte weiterzuschlagen, wie es ihm den Atem nahm, jetzt schon den Atem nahm. So war es also,


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