P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner
grauer Seife an der Schulter; die Wachen warfen sie wahllos zu ihren Gefangenen hinein, harte, graue, billige Seife, die doch nur bedeuten konnte, dass sie weiterleben durften, dass es eine Zukunft gab, dass das noch nicht das Ende war. Das kalte Wasser war wie eine Erlösung, die Taufe am Beginn eine neuen Lebens.
Handtücher gab es nicht. Obwohl es draußen ein milder Frühsommertag gewesen war, zitterte Tomasz am ganzen Körper, als sie noch nass aus einer anderen Tür wieder hinausgetrieben wurden und sich in einem Gang in einer Reihe aufstellen und die Hände über den Kopf heben mussten. Zwei junge Sicherheitspolizisten – fast Kinder noch, dachte Tomasz, so jung, so jung! – liefen mit einer Art Pumpe an ihnen vorbei und sprühten eine widerlich stinkende Flüssigkeit auf ihre Haare, auf den Kopf, unter die Achseln, auf die Genitalien. Tomasz schloss die Augen, nicht nur, um sie vor der aggressiven Chemikalie zu schützen. Er wusste, dass er niemals die Gesichter der Männer vergessen würde, die er in diesem Zustand gesehen hatte; die ihn in diesem Zustand gesehen hatten. Dass er in Zukunft in jedem fremden Gesicht danach suchen würde, ob es dabei gewesen war. Dass er in diesem Moment aufgehört hatte, der alte Tomasz zu sein, und von jetzt an darum kämpfen musste, wenigstens ein Mensch zu bleiben, mit Leidenschaften und Schwächen, mit Träumen, Plänen, Geheimnissen. Wenigstens hatte er den Professor gleich am Eingang schon aus den Augen verloren.
Nach Desinfektion und Entlausung wurden sie an einer Kommission vorbeigeführt, immer noch nackt, die Haare feucht vom Desinfektionsmittel. Es waren drei Leute hinter einem Behördenschreibtisch, eine Frau und zwei Männer, alle in Uniform, alle mit einem gelangweilten Ausdruck im Gesicht. Tomasz konzentrierte sich darauf, nur ihre Schuhe anzuschauen, die schwarzen Stiefel der Männer, die flachen Halbschuhe der Frau. Er hob die Arme, wie ihm befohlen wurde, drehte sich, öffnete den Mund, ließ sich in den Hals sehen, in die Ohren. Tief einatmen, Luft anhalten, tief ausatmen. Knie beugen. Kopf drehen. Vergiss, wer du warst. Vergiss deine Pläne.
Nach der Untersuchung durften sie sich ihre Kleider aus einem großen Haufen wieder heraussuchen; alles war noch feucht und stank. Tomasz war erleichtert, den Beutel mit seinen persönlichen Dingen wiederzufinden. Sowohl seine Hose als auch seine Jacke waren bei der Behandlung eingelaufen und jetzt zu kurz; die Schuhe hatten sich verfärbt, waren aber noch tragbar. Er empfand ein demütigendes Gefühl von Dankbarkeit deswegen.
Die nächsten Tage verbrachten sie in ehemaligen Klassenräumen, schliefen auf Pritschen aus Drahtgittern, fünfzig, sechzig Leute in einem Raum. Dreimal am Tag wurde Essen ausgegeben, wässriger Kaffee, wässrige Suppe, Brot, Marmelade. Familien kamen wieder zusammen, Freunde trafen aufeinander, bildeten kleine Grüppchen, diskutierten. Gerüchte entstanden und verbreiteten sich wie schlechte Luft: Man werde sie alle in die Steinbrüche des Lagers Rosen bringen, sie würden zu Schanzarbeiten nach Osten an die Front verschickt, die Deutschen suchten Freiwillige für medizinische Experimente – nichts schien unmöglich, nichts zu weit hergeholt. Nachdem er vergeblich versucht hatte, Barteczko zu finden, blieb Tomasz für sich. Vielleicht war der Professor wirklich zu alt und nach Hause geschickt worden, er hoffte es wenigstens. Vielleicht würde Bartek dann Tomasz’ Familie in Kraków darüber informieren, was aus ihm geworden war. Wobei der Alte vermutlich gar nicht wusste, dass Tomasz’ Familie in Kraków wohnte. Niemand wusste das, und auch er selbst hatte es ja schon halb vergessen.
Nach vier Tagen wurden sie in Kolonnen die zwei Kilometer zum Arbeitsamt in der Kawęczyńskastraße geführt. Tomasz verstand nicht, wie es möglich war, aber offenbar wussten einige Angehörige der Internierten schon vorher darüber Bescheid, hatten am Straßenrand auf sie gewartet und versuchten jetzt, ihren Lieben Lebensmittel oder warme Kleidung zuzuwerfen. Soweit Tomasz beurteilen konnte, gelang es nur in den seltensten Fällen; das meiste landete in den Taschen der Bewacher oder im Dreck. Fast war er froh, dass er nicht damit rechnen musste, irgendjemand würde versuchen, ihm etwas mitzugeben.
Im Arbeitsamt wurden sie in eine Halle mit verschiedenen Schaltern geführt, registriert und mit einem Transportschein ausgestattet. »Ludwigsburg (Württemberg)« stand auf Tomasz’ Schein. In einem Raum in der Skaryszewskastraße hing noch eine alte Karte, und nach einigem Suchen hatte er den Ort gefunden: Er war im Südwesten des Reichs, fast schon in der Schweiz, mehr als tausend Kilometer von Warschau entfernt.
2
Vereinzelt fiel Licht durch die Ritzen des Güterwaggons; hatten die Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnt, konnte man die Menschen unterscheiden, die sich auf den Boden kauerten, flüsterten, stöhnten, weinten. In der Ecke der Latrineneimer, jetzt schon nach nur wenigen Stunden Fahrt voll bis zum Rand. Tomasz hockte an einer Seitenwand, eingezwängt zwischen einer jungen Floristin aus einer Warschauer Vorstadt und einem älteren Mann, der seit Beginn der Reise kein Wort gesprochen hatte. Es war so eng, dass man seine Beine nicht ausstrecken konnte, und Tomasz fühlte sich bald schon benommen, als hätte er zu viel getrunken. Die Angst erfüllte den Raum wie ein schlechter Geruch, dem man nicht ausweichen konnte. Mit jedem Atemzug nahm man sie auf und spürte, wie sie den ganzen Brustkorb für sich einnahm und dann ins Blut überging, um sich mit jedem Schlag des Herzens weiter im Körper auszubreiten und sich untrennbar mit der eigenen Substanz zu vermischen. Tomasz presste die Handflächen gegen die Bretterwand in seinem Rücken. Ich habe nichts mehr zu verlieren, sagte er sich. Sie können mir nichts mehr tun, ich brauche mich nicht zu fürchten. Aber die Angst interessierte sich nicht dafür.
Das unregelmäßige Ruckeln und Rattern des Zuges nahm Tomasz jedes Gefühl für die vergehende Zeit; als der Zug irgendwann unvermittelt bremste und anhielt, hätte er nicht sagen können, ob sie zwei oder zehn Stunden unterwegs gewesen waren. Draußen näherten sich Schritte, und die Waggontür wurde aufgerissen. Grelles Licht flutete herein.
»Los, raus hier, aber dalli! Scheißpause, los, los!« Die ersten taumelten nach draußen; Tomasz ließ sich zur Waggonöffnung drängen und verfluchte seine verkrampften Muskeln, als er hinaussprang und ungeschickt auf Händen und Knien landete. Der Zug stand im Nirgendwo, keine Stadt, kein Dorf, nicht einmal ein Haus war in Sicht, nur flache Steppe und vertrocknete Felder unter einem leeren Sommerhimmel. Fünfundzwanzig, dreißig Waggons, aus denen viel zu viele Menschen quollen und sich dann entlang des Bahndamms verteilten. Ein paar Frauen versuchten, sich mit ihren weiten Röcken vor zudringlichen Blicken zu schützen, andere hatten sich schon einfach irgendwo hingehockt, um ihre Notdurft zu verrichten. Die kleine Floristin war dabei, sah Tomasz, bevor er sich schnell abwandte. Sie hatte die Augen geschlossen, als könnte niemand sie sehen, wenn sie selbst auch nichts sah. Die meisten Männer stellten sich mit dem Rücken zum Zug und taten so, als wären sie allein. Eine Truppe von Wachleuten mit Gewehren hatte einen weiten Halbkreis um sie gebildet und beobachtete sie abschätzig; einer warf seine Mütze in die Luft und schoss darauf, alle übrigen lachten.
Gleich neben Tomasz stand ein Bursche von fünfzehn, höchstens sechzehn Jahren, ein hübscher Junge mit einem noch bartlosen Kindergesicht und hellblonden Haaren, die so weich aussahen, dass sie an ein Baby erinnerten. Der Junge sah sich mehrmals verstohlen um; er schien auf etwas zu warten, presste die Kiefer fest aufeinander, und Tomasz meinte zu spüren, wie dessen Muskeln bis zum Zerreißen angespannt waren und bereit, auf einen winzigen Impuls hin loszuschnellen. Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und hielt ihn fest.
»Mach das nicht, Junge«, sagte er leise. »Die knallen dich ab, ohne mit der Wimper zu zucken.« Der Junge drehte sich wild zu ihm um und sah ihm ins Gesicht.
»Lass mich los, ich muss nach Hause! Meine Eltern haben keine Ahnung, wo ich bin! Ich muss hier weg!« Riesengroße blassblaue Augen, die Pupillen groß wie Kirschkerne; ein weicher Mund mit zitternder Unterlippe.
»Sicher. Nach Hause wollen wir alle.« Tomasz verstärkte seinen Griff. »Aber wenn du jetzt losrennst, kommst du nie nach Hause. Du hast keine Chance, dich zu verstecken. Die erschießen dich, bevor du hundert Meter weit gekommen bist. Sei vernünftig.« Ein weiterer Schuss ließ sie zusammenzucken; der Junge, der gerade noch versucht hatte, sich von Tomasz loszureißen, fing an zu zittern.
»Ganz ruhig, Kleiner … Es wird alles gut, hörst du? Alles wird gut! Du darfst nur keine Dummheiten machen …« Was rede ich da für einen Unsinn?, dachte Tomasz, während er den Jungen mit sich zog zu der Stelle, wo jetzt schwarzes Brot verteilt wurde und man mit