P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner
sondern auch an der Heimatfront. Deutschland müsse sich unabhängig machen von Rohstoffeinfuhren aus dem feindlichen Ausland, und er selbst gedenke sich durch die Anlage eines Gemüsegartens an der Erzeugerschlacht zu beteiligen. Der belehrende Tonfall war ihm im Laufe seines Berufslebens so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es ihm nie ganz gelang, ihn abzulegen, egal, ob er vor einer Schulklasse stand, in irgendeinem SA-Heim einen Vortrag hielt oder einfach nur im Wohnzimmer mit seiner Familie sprach. Bis sie Fahrners näher kennengelernt hatte, war Charlotte davon ausgegangen, dass es gar keinen anderen Tonfall gab, in dem ein Vater mit seinen Kindern umging. Aber es war sinnlos, sich darüber zu beschweren und zu erwarten, von ihm ernst genommen zu werden. Solange sie in diesem Haushalt wohnte, solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst, wie ihr Vater es ausdrückte, solange würde sich nichts daran ändern.
Die ausgesäten Gemüsepflanzen sahen bisher nicht vielversprechend aus – kein Wunder, da sich niemand wirklich verantwortlich dafür fühlte. Erika Voss hatte sich mit dem Hinweis, vom Bücken bekomme sie Migräne, geschickt aus der Affäre gezogen, und Hermann war durch seine kriegswichtigen Arbeiten als Fähnleinführer selbstverständlich viel zu eingespannt, um regelmäßig zu gießen oder Löwenzahn auszujäten. Von ihrem Vater selbst ganz zu schweigen – der Dienst für die Partei ließ ihm neben seiner Lehrertätigkeit ja praktisch keine freie Minute! Während sie selbst, Charlotte, doch vorhatte, in einen Bauernhof einzuheiraten. Da war ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie sich auch im elterlichen Garten ein wenig nützlich machte?
Ein paar Kannen Regenwasser würden vermutlich schon reichen, dachte sie, holte sich die Kanne und goss, bis es vier Uhr läutete. Wenn sie jetzt nicht ging, würde sie vermutlich ihrem Vater in die Arme laufen und konnte gleich ganz zu Hause bleiben. Sie durchquerte den Garten, lief an den Kartoffeläckern entlang und über die Streuobstwiesen, bis sie einen alten Hohlweg erreichte, der steil zum Schönbuchtrauf hinaufführte. Bis vor dem Krieg hatten die Breitmeyers hier noch Wein angebaut, aber seit die beiden Söhne vor zwei Jahren eingezogen worden waren, hatte der alte Bauer den Weinberg kaum noch gepflegt, und die Reben waren mittlerweile von Unkraut und Brombeeren überwuchert. Charlotte kletterte die Weinbergtreppe hoch und bahnte sich einen Weg zwischen den dornigen Ranken an Breitmeyers Werkzeugschuppen vorbei bis zu dem Trampelpfad, der zu dem aufgelassenen Steinbruch führte. Bis vor zehn, fünfzehn Jahren hatte man hier Sandstein abgebaut, Stubensandstein; ein Material, das zwar als Baustoff eingesetzt wurde, gleichzeitig aber so instabil war, dass man es zwischen den Fingern zerbröseln konnte. Der Steinbruch veränderte fortwährend sein Gesicht – hier kam ein ganzer Abschnitt ins Rutschen, dort bildeten sich Sandhügel am Fuß einer Abbruchkante. Steine bröckelten auseinander, und Wurzeln wuchsen in die entstehenden Spalten hinein, so dass diese sich immer weiter öffneten und schließlich Frost und Eis ganze Felsformationen zum Einsturz brachten. In hundert Jahren, dachte Charlotte, würde der Wald alle Spuren zugedeckt haben, die Menschen hier hinterlassen hatten. Es war ein guter Platz, wenn man seine Ruhe haben wollte, ein Platz ohne das Gedudel des Volksempfängers, ohne Fahne und Führerbild an der Wand.
Charlotte legte ihre Jacke auf die Erde und lehnte sich gegen eine immer noch sonnenwarme Felswand. Sie schloss für ein paar Minuten die Augen und genoss es, dass niemand ihr über die Schulter sah und irgendwelche Aufträge erteilte. »Fräulein Voss, können Sie das nicht gleich beim ersten Mal fehlerfrei schreiben?« Martha Belser war jahrelang die einzige Schreibkraft auf dem Rathaus gewesen und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie Charlotte für unfähig und überflüssig hielt. »Machen Sie noch eine Abschrift hiervon und bringen Sie sie mir dann zur Vorlage, ich brauche das noch vor dem Mittagsläuten … Laufen Sie doch schnell zum Postamt und geben Sie die Briefe auf … Ach, und wenn Sie schon unterwegs sind, fragen Sie gleich bei Frau Ries nach, ob sie meine Blusen fertig gebügelt hat, und bringen Sie sie mit!« Niemals hätte sie sich freiwillig auf diese Stelle beworben, aber ihre Eltern hatten ihr keine andere Wahl gelassen, als sie in Tübingen mit der Stenotypistinnen-Ausbildung fertig gewesen war. Mit neunzehn Jahren hatte sie keine Möglichkeit gehabt, sich ihnen zu widersetzen. »Sei doch dankbar, dass dein Vater dir diese Stelle besorgt hat und du nicht in irgendeiner Fabrik Maschinengewehre zusammenschrauben musst«, war der Kommentar ihrer Mutter gewesen. »Und dann erst die Zeit, die du einsparst, weil du nicht noch in die Stadt fahren musst! Da kannst du mir noch ein bisschen im Haushalt helfen oder Joachims Mutter, die braucht es nötiger als ich!« Im Unisekretariat hätte sie anfangen können, das Angebot hatte sie schon schriftlich in den Händen gehalten. Und sie hätte auch deutlich mehr verdient. Aber Arnold Voss hatte alle ihre Wünsche und Ambitionen vom Tisch gewischt. »Wenn du volljährig bist, kannst du machen, was du willst, aber bis dahin entscheide ich, was du zu tun hast. Und ich habe entschieden, dass du hier bei Bürgermeister Lanz anfängst. Lanz ist ein guter Mann, schon ewig bei der Bewegung … Der kennt jeden in der Verwaltung bis nach ganz oben! Gute Verbindungen kann man immer brauchen. Du wirst mir noch einmal dankbar dafür sein.«
Sie blies sich die Haare aus der Stirn und kramte in ihrem Korb nach den Zigaretten. »Die deutsche Frau raucht nicht«, flüsterte sie vor sich hin, während sie den ersten Zug nahm. Ihr Vater würde durchdrehen vor Wut und Entsetzen, wenn er sie jetzt sehen könnte. Aber er konnte sie nicht sehen. Solange sie tat, was er wollte, interessierte er sich selten für sie. Solange sie in dem Rahmen blieb, den er ihr gesetzt hatte: Ein. Deutsches. Mädel. Gefährtin des Mannes, patent, hilfs- und opferbereit und dabei immer das hohe Ziel vor Augen, Mutter zu werden und Kinder zu gebären, am besten gleich ein Dutzend. Deutsche Jungen, hart wie Kruppstahl und so weiter. Joachim, da war sie sich sicher, dachte anders darüber. Joachim, der sie hier, genau hier, zum allerersten Mal geküsst hatte; der sie schließlich an dem Abend, bevor er eingerückt war, überredet hatte, sich mit ihm auf die mitgebrachte Wolldecke zu legen. Richtig verloben, hatte er es genannt, mit allem, was dazugehört! Dann kann uns nichts mehr trennen. Du willst es doch auch, Lotti, oder? Du willst es? Sie war sich an dem Abend nicht sicher gewesen, ob sie es wollte, aber er hatte sie so flehentlich angesehen und ihre Brüste gestreichelt, dass sie einfach nicht gewusst hatte, wie sie ihn abweisen sollte, ohne ihn an ihrer Liebe zweifeln zu lassen. Und dann war es einfach passiert, viel schneller und prosaischer, als sie erwartet hatte. Die Erde stand keineswegs still, und auch sie selbst war kein anderer Mensch dadurch geworden. Sie war eben noch völlig unerfahren gewesen, sagte sie sich. Aber wenn sie in ihrem Bett lag, stellte sie sich gern vor, wie es wäre, ihn neben sich zu spüren; wie er ihr das Nachthemd hochstreifen und mit zärtlichen Händen über ihren Körper streichen würde, wie er sie leidenschaftlich küssen und dann mit dem Mund über ihre Haut gleiten würde … Es war gut, dass sie gemeinsam diesen Schritt getan hatten, dachte sie, und dass sie dabei nicht gleich schwanger geworden war. Niemand konnte ihr das wegnehmen, niemand konnte es rückgängig machen. Sie hatte einen entscheidenden Schritt in Richtung Erwachsenwerden getan.
Ob Eva wohl kommen würde?, überlegte sie. Eva war Joachims Schwester und seit der Kinderzeit ihre beste Freundin. Heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit hatten sie sich kurz gesehen, als Eva draußen vor dem Haus die Hühner gefüttert hatte. Im Vergleich zu der Freundin, dachte Charlotte, hatte sie es im Rathaus vielleicht doch gar nicht so schlecht getroffen. Immerhin durfte sie arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen (wenn sie auch mehr als die Hälfte davon zu Hause abgeben musste), während Evas Eltern nach der Einberufung ihres Ältesten klipp und klar gesagt hatten, dass sie auf die Hilfe der einzigen Tochter nicht verzichten könnten. Für Eva war das ein harter Schlag gewesen. Vorher hatte sie noch gemeinsam mit Charlotte die Mädchenrealschule in Tübingen besucht und geplant, eine Ausbildung zur Schneiderin zu machen, aber der Wille der Eltern ging natürlich vor – der Wille der Eltern und der Hof. Der Hof ging immer vor.
Charlotte verscharrte den Zigarettenstummel im Dreck und holte die Briefe heraus, die sie hier in Ruhe lesen wollte, den alten und den, der heute erst gekommen war. Allzuviele Briefe kamen nicht; Joachim war kein großer Briefeschreiber, das hatte sie vorher schon gewusst. Seiner Meinung nach gab es für richtige Männer Wichtigeres zu tun als lesen und schreiben, und jetzt im Dienst im Osten hatte er vermutlich sowieso kaum Zeit und Ruhe dazu. Aber darauf kam es auch gar nicht an, dachte Charlotte. Worauf es ankam, war, dass er sie aus dem Herrschaftsbereich ihres Vaters herauslösen würde, dass er ihr helfen würde, endlich frei zu sein und zu tun, was sie selbst wollte. Joa sah gut aus, verwegen geradezu in seinem Schwarzhemd und der Uniformmütze; er war ehrlich, geradlinig, zuverlässig und außerdem ein Zauberer, was Motoren