P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner
werde Geistlicher. Der erste Pfarrer in meiner Familie.«
Tomasz hielt einen Seufzer zurück. Die Begeisterung für den Partisanenkampf und die alte Geschichte mit der anderen Wange schienen ihm nicht besonders gut zusammenzupassen, aber im Kopf eines Sechzehnjährigen mochte das anders sein.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie stolz meine Eltern darauf sind«, hörte er den Jungen sagen. »Ein Geistlicher in der Familie! Seit ich auf die Welt gekommen bin, haben sie jeden Złoty für meine Ausbildung zur Seite gelegt, den sie nicht unbedingt gebraucht haben.«
»Und du? Gefällt dir die Aussicht?« Der Junge straffte sich.
»Was meinst du damit? Es war meine eigene Entscheidung! Sie haben zwar immer darauf gehofft, aber letzten Endes muss man ja eine Berufung spüren, wenn man sein Leben Gott weihen will.«
»Und spürst du sie, diese Berufung?«
»O ja. Zum ersten Mal bei meiner Firmung, vor vier Jahren … Ein Gefühl, als stünde Gott selbst hinter mir und legte mir die Hand auf die Schulter, als wäre ich nach Hause gekommen …«
Tomasz war froh, dass es zu dunkel war, als dass Jan seinen Gesichtsausdruck hätte genau erkennen können. Seine eigene Beziehung zum lieben Gott hatte nach einer langen Zeit der Entfremdung und des gegenseitigen Desinteresses mit der Bombardierung Warschaus im September ’39 ihr jämmerliches Ende gefunden.
»Aha. Und wie ist es mit den Mädchen?«
»Hat mich nie interessiert. Höchstens als Kameradinnen bei den Pfadfindern …«
»Komm schon, du bist doch ein hübscher Bursche, da muss doch mal was gewesen sein!« Jan schüttelte den Kopf.
»Man muss auch Opfer bringen.«
In Tschenstochau gab es einen längeren Aufenthalt, bei dem alle Verschleppten in einem Gebäude in der Nähe des Bahnhofs erneut desinfiziert wurden, bevor man sie zurück in die Waggons trieb. Nach dieser zweiten Desinfektion hatte Tomasz keine Socken mehr – sie waren entweder in der Hitze und den Chemikalien des Ofens zu Staub zerfallen, oder jemand anderes hatte sie brauchen können. Aber wenigstens war Sommer, sagte er sich. Bis zum Winter würde er sich neue besorgen. Bis zum Winter wäre er vielleicht längst wieder zu Hause in Warschau.
Über Breslau, Berlin, Leipzig fuhren sie, fünf Tage und vier Nächte lang, ein Zug mit sechsundzwanzig Anhängern. Mehr als fünfzig Menschen waren in jedem einzelnen Waggon zusammengepfercht, in einem Raum ohne Fenster, Bänke, Decken oder Waschmöglichkeit. Gelegentlich hielt der Zug an, an einem Bahnhof, auf freier Strecke, aber nur zwei Mal jeden Tag öffneten sich die Türen, so dass die Verschleppten herausstolpern und inzwischen ohne jede Scheu oder Scham ihre Notdurft verrichten konnten; die Bewacher gaben Brot und Wasser aus, manchmal auch wässrige Kohlsuppe oder ein paar kalte Kartoffeln. Sie leerten den Kübel aus, der für Tomasz zum Sinnbild für die Schrecken dieser Fahrt geworden war, ein Eimer voller Mist und Dreck, der mit jeder Minute mehr Raum, mehr Atemluft für sich beanspruchte. Die Gegenwart des Kübels bewirkte, dass Tomasz sich selbst schmutzig und widerwärtig fühlte, dass er selbst in den Momenten, die er an der frischen Luft war, daran denken musste, wie seine eigene Kleidung, seine Haare, seine Haut stinken mussten; dass er sich schämte vor den geringschätzigen Blicken der Wachmänner und Wut empfand auf eine junge Frau, die sich während der Fahrt aus Ungeschick den Rock mit Kot beschmiert hatte. Bei einer dieser unberechenbaren Fahrtunterbrechungen sah Tomasz, wie ein paar Männer den steifen Körper einer alten Frau aus dem Nachbarwaggon hoben und am Bahndamm ablegten. Eine alte Frau mit langen dunklen Röcken und einer bestickten Jacke, mit abgearbeiteten Händen und dünnen weißen Haaren unter einem schlichten Kopftuch, gestorben an Altersschwäche, Angst und Gestank. Der eine oder andere zog sich bei dem Anblick die Mütze vom Kopf, die meisten aber nahmen den Vorgang kaum zur Kenntnis. Niemand hatte die Kraft und Energie, der Toten ein Grab auszuheben, und so lag sie noch am Bahndamm, als der Zug weiterfuhr. Immerhin hatte jemand ihr die Hände auf der Brust gefaltet und ein Kreuz aus zwei zusammengebundenen Zweigen zwischen ihre Finger gesteckt.
Bereits in der zweiten Nacht begannen die Wanzen über sie herzufallen, dreistes furchtloses Ungeziefer, für das es keine besseren Jagdgründe zu geben schien als die feuchte Wärme ungewaschener Körper. Der Junge war entsetzt, als er am nächsten Tag die rot geschwollenen Einstichstellen entdeckte, sobald sie zum ersten Mal aussteigen durften.
»Ich bin krank, Tomasz, schwer krank … Schau dir das an, überall diese Flecken! Und es juckt wie verrückt.« Nackte Panik stand in seinen Augen. »Glaubst du, es könnte Flecktyphus sein?« Jeder wusste, dass in den Lagern regelmäßig Flecktyphus ausbrach. Es war eins dieser Dinge, die man einfach wusste, ohne dass man hätte zurückverfolgen können, woher die Information eigentlich stammte. So wie man von Treblinka wusste oder von Auschwitz.
Tomasz nahm den Arm des Jungen und betrachtete ihn kritisch. »Mach dir keine Sorgen, Janek. Das sind bloß Stiche, Wanzen vermutlich.«
Jan sah ihn entgeistert an. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Ich habe noch nie Ungeziefer gehabt! Meine Mutter nimmt jedes Frühjahr die Bettgestelle auseinander und wäscht sie mit Karbollösung ab, und in den Zimmerecken verbrennen wir Schwefel, und dann … Da gibt es keine Wanzen! Garantiert nicht.«
Tomasz hätte ihm am liebsten die Haarsträhnen aus der Stirn gestrichen wie einem kleinen Kind. »Bestimmt nicht«, sagte er. »Bei mir zu Hause gibt es auch keine. Es liegt nicht an dir oder an mir, sondern an diesem Scheißwaggon und daran, dass wir hier zu so vielen eingesperrt sind, immer noch die gleichen Klamotten am Leib haben wie an dem Tag, als sie uns geschnappt haben, und uns nicht waschen können. So etwas mögen die Wanzen, da kommen sie von allein. Ich hab auch ein paar Stiche am Bein.«
»Aber …« Dem Jungen standen die Tränen in den Augen, Tomasz sah schnell zur Seite.
»Du kannst Spucke drauf machen, dann juckt es nicht mehr so sehr. Und lange werden wir nicht mehr unterwegs sein, wir sind ja schon in Deutschland. Mit Sicherheit jagen sie uns wieder durch so eine Waschküche, bevor sie uns näher an sich ranlassen.«
Jan presste die Lippen zusammen. »Ich hasse sie«, flüsterte er. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich sie hasse!«
»Besser Wanzen als Fleckfieber«, sagte Tomasz und klopfte dem Jungen leicht auf die Schulter. »Komm, dahinten kriegen wir Wasser, aber nur, wenn wir nicht länger herumtrödeln.« Der Transport verwandelte sie in genau die Kreaturen, als die die Nazi-Propaganda sie immer schon dargestellt hatte: verdreckte, verlauste, geduckte Gestalten, mutlos, trostlos, hoffnungslos; demütige Sklaven, die dankbar waren für ein Stückchen trockenes Brot und einen Schluck Kohlsuppe und sich zu sehr schämten, um auch nur den Blick zu heben und sich in die Augen zu sehen. Selbst der Junge hatte seinen Trotz und seine Wut irgendwo unterwegs verloren, stellte Tomasz fest, als er Janek mit hängendem Kopf hinter den anderen her über den Bahnsteig trotten sah, die Schultern gebeugt wie ein alter Mann. »Bietigheim« stand auf dem Schild; Tomasz hatte den Namen noch nie gehört. Er beeilte sich, um Jan unter den Hunderten grauer Menschen nicht zu verlieren, die sich jetzt in Richtung Ausgang in Bewegung gesetzt hatten. Wie ruhig sie waren, dachte Tomasz. Außer den Kommandos der deutschen Wachen war kaum etwas zu hören – scharrende Füße, mal ein Husten, leises, furchtsames Gemurmel. Als sie das Bahnhofsgebäude verließen, konnten sie einige Hundert Meter entfernt die Wohnhäuser des nächsten Ortes ausmachen, so weit entfernt, dass man die Menschen nicht erkennen konnte, die dort auf der Straße herumliefen. Genauso wenig, wie diese Dorfbewohner die ankommenden Zwangsarbeiter erkennen konnten.
Durch ein lichtes Wäldchen marschierten sie eine Straße entlang und hatten schon nach wenigen Minuten das Lager erreicht, eine Gruppe niedriger Holzbaracken auf einem drahtumzäunten Gelände. Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel quoll ihnen entgegen, stach in die Nase, brannte in den Augen, die sofort zu tränen begannen. Sie stolperten voran zu einem Seiteneingang, wo gerade ein Tor aufgeschwungen wurde. Ein Uniformierter stand gelangweilt daneben, musterte die Neuankömmlinge und machte sich einen Spaß daraus, mal dem einen, mal dem anderen einen Schlag mit seinem Gewehrkolben zu verpassen. Auch die Frau neben Tomasz wurde getroffen und schnappte nach Luft; sie wäre gestürzt, wenn er sie nicht am Arm gehalten hätte. Einen Augenblick lang, einen winzigen Augenblick