In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer

In der Hölle der Ostfront - Arno Sauer


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langsamen, ängstlichen und stotternden Jungen auf der Stube, der vor lauter Angst bereits morgens um 4:00 Uhr, eine Stunde vor dem Wecken, damit begann, seine Uniform anzuziehen, sein Bett zu bauen und alles zurecht zu legen, nur damit er rechtzeitig fertig war und um beim UvD nicht negativ aufzufallen. Zum Unmut von uns anderen elf Stubenkameraden raubte er uns damit eine Stunde kostbaren Schlafs. Wir halfen ihm in den nächsten Tagen um des lieben Friedens willen, wo wir konnten. Bereits in der zweiten Woche war der Kamerad schnell und selbstsicher geworden, und alle zwölf Soldaten auf unserer Stube fanden wieder zum gewohnten Schlafrhythmus.

      Nur das Stottern konnte sich Jakob lange nicht abgewöhnen. Besonders schlimm war es für ihn an den Tagen, an denen er abends an der Reihe war, beim Eintreten des diensthabenden Unteroffiziers die Stube abzumelden. Vor Aufregung verhaspelte er sich dann beim Sprechen noch mehr und brachte kaum einen richtigen Satz hervor. Wir konnten oft das Lachen nicht mehr unterdrücken und pressten unsere Gesichter in die Wäsche unserer Feldbetten. Auch der jeweilige UvD machte keinen Hehl aus seinem Spott. Das war natürlich noch gemeiner und schlimm für Jakob, und so beschlossen wir alle, dem armen Kerl beizubringen, langsam und ruhig zu sprechen. Wir übten mit Jakob wie auf einer Theaterbühne, die Stube abzumelden, und gaben ihm auf diese Weise immer mehr Sicherheit und Selbstvertrauen. Es funktionierte, und nach kurzer Zeit hatte er seinen Sprachfehler abgelegt. Er war mächtig stolz auf seine treuen Freunde und wir auf ihn. Denn deutliche Aussprache und klare, kurze Kommandos waren nicht nur im Gelände bei unseren Schießübungen wichtig, sondern auch im Feuergefecht, wo sie je nach Situation und Feindbeschuss lebensrettend sein konnten.

      Neben Paul Seidenfuß, Paul Severin und Jakob Schmitz soll hier auch der Rest unserer Stubenbelegung vorgestellt werden. Zwei Jungs kamen aus Bayern und hießen Markus Heinrich und Toni Grad. Klaus Baulig stammte aus meinem Nachbardorf Mülheim, Georg Bauder aus Mannheim, Ulrich Schmidt aus Siegen, Herbert Niederländer aus Saarbrücken, Robert Kleinz aus Rüsselsheim und Heinz Luft aus Düsseldorf. Letzterer wurde bereits nach kurzer Zeit für uns alle zum Problem.

      Heinz war einer jener Sonderlinge, wie ich sie bereits beim Arbeitsdienst kennengelernt hatte, war jedoch irgendwie wiederum ganz anders. Er gebärdete sich noch extremer, litt scheinbar unter einer krankhaften Profilneurose und passte nicht in unsere Stube, auf unseren Flur, in unseren Kameradenkreis. Sein Mundwerk oder seine »Schnüss«, wie man hier im Rheinland zu sagen pflegt, war ätzend, laut und stand niemals still. Obwohl er auch in der Lage war, in normaler Zimmerlautstärke zu sprechen, wie man gelegentlich vernehmen konnte, musste er sich permanent aufspielen, krakeelte herum und erzählte neben irgendwelchen Halbwahrheiten allerlei haltlosen Unsinn. Er war ein »Schwätzer vor dem Herrn«, setzte sich ständig in Szene, wollte mit Gewalt auffallen, war jedoch wegen seiner mäßigen Intelligenz für nichts zu gebrauchen. Nie konnte er sich zurücknehmen, suchte ständig ein Opfer, das er belabern wollte, und ging durch seine penetrante Art jedem, der sich in seiner Nähe aufhielt, massiv auf den Geist.

      Sein durchdringendes Organ hallte durch alle Gänge und Treppenhäuser. Unentwegt sang er obszöne Lieder, erzählte primitive, vulgäre Witze und gab ansonsten nur Quatsch von sich. Er mischte sich in alle Gespräche ein, ohne deren Sinn zu erfassen, nichts konnte er für sich behalten, alles musste er sofort ausposaunen, wobei er sich zwischen Halbwissen und purer Märchenerzählerei bewegte. Morgens grüßte er mit »guten Abend«, abends mit »guten Morgen«. Am Osterfeiertag begegnete er uns mit »frohe Weihnachten« oder »frohes neues Jahr«, wie es ihm gerade passte.

      Seiner Aufschneiderei und seines Sprachschatzes wegen vermuteten wir, dass er aus dem Rotlichtmilieu kam. Jedenfalls war dieser Mann stressig und unzuverlässig und sorgte dafür, dass unsere Stube immer wieder negativ auffiel. Dazu war er dem Alkohol sehr zugetan, und es schien, als konzentriere sich sein ganzes Interesse auf Fressen und Saufen.

      Bei der militärischen Ausbildung in der Kaserne wie im Gelände stellte er ein unwägbares Risiko dar, insbesondere bei Übungen an der Waffe. Hieß es beim morgendlichen Antreten »linksum« und alle 52 Mann unseres Zuges folgten dem Kommando, so machte Heinz »rechtsum«. Er brachte mit seinen Faxen unseren netten Zugführer Feldwebel Engelbert Haymann, der ebenfalls wie unser Stubenkamerad Klaus Baulig aus meinem Nachbarort Mülheim stammte – beide waren übrigens Cousins – damit an den Rand des Wahnsinns.

      Haymann brüllte in solchen Fällen: »Sie selten dämliches Rindvieh, Sie Riesenidiot, links ist da, wo der Daumen rechts ist«, womit die Verwirrung noch größer wurde. Beim Marschieren trällerte Heinz für sich immer wieder seine frivolen Lieder und brachte damit die marschierende Truppe aus dem Tritt. Natürlich wurde ihm dann Strafexerzieren verordnet, aber auch das nutzte nichts. Die härtesten Ausbilder bissen sich an diesem Trottel die Zähne aus.

      Normalerweise wäre einem solchen Querulanten eine zünftige Abreibung in Gestalt des »Heiligen Geistes« sicher gewesen, aber wegen der zu erwartenden Aussichtslosigkeit verzichteten wir auf diese Art pädagogischer Maßnahmen.

      Eines Morgens beim Antreten vor den Stuben in unserem langen Gang, alle standen bereits in Uniform im »Stillgestanden«, kam Heinz im Schlafanzug vor den Unteroffizieren und uns Mannschaften vorbeispaziert, guckte blöd aus der Wäsche und zog dabei eine lange Schnur hinter sich her. Am Ende der Schnur hatte er seine Zahnbürste festgebunden, sprach mit ihr wie mit einem Hund und rief ständig: »Fiffi komm, Fiffi komm bei Fuß«. Wir brüllten vor Lachen. Heinz machte sichtlich auf »bekloppt« und hatte allerdings mit diesem Auftritt den Bogen endgültig überspannt.

      Als wir abends nach Dienstende auf unsere Stube einrückten, waren Bett und Spind von Heinz Luft geräumt. Ob er nach Andernach in das damalige Irrenhaus, später Landesnervenklinik genannt, eingeliefert wurde oder in einem Gefängnis oder gar einem Strafbataillon landete, haben wir nie erfahren. Wir waren nur froh, dass dieser dämliche Kerl endlich weg war. Ich persönlich glaubte nicht, dass er geisteskrank war. Vielmehr hielt ich ihn für einen Drückeberger und Simulanten. Doch diese Masche hatte in der damaligen Zeit wenig Aussicht auf Erfolg.

      Die Aufteilung der Stuben erfolgte nach Größe. Ich befand mich mit meinen Kameraden unter den Größten in der ersten Stube. Bereits in der zweiten Stube waren die Kameraden kleiner, wobei mit wachsender Nummerierung der Stuben die Größe der Soldaten umgekehrt proportional abnahm. Bereits am zweiten Tag freundete ich mich mit dem nur 1,67 Meter großen und kräftigen Landwirt Josef Reif aus Dieblich-Berg an der Mosel an, der in der letzten Stube untergebracht war, sowie mit dem Landwirt Paul Wagner aus Nörtershausen. Da ich selbst aus einem landwirtschaftlichen Betrieb kam, hatten wir ausreichend Gesprächsstoff für unsere knapp bemessene Freizeit. Auch hatte ich als bereits erfahrener Arbeitsdienstler die Möglichkeit, Josef, Paul und weiteren Kameraden in der schwierigen Anfangsphase der Grundausbildung mit Rat und Tat beizustehen. Das führte einmal zu folgender Aktion, die mir gründlich misslang, aber für uns alle zum Glück glimpflich ausging:

      Bereits in den ersten Tagen ertönten in jeder Nacht die Luftschutzsirenen über Koblenz und unserer Kaserne. Wir hatten Anweisung, in diesem Fall die Kellerräume aufzusuchen und nach der Entwarnung in die Stuben zurückzukehren. Josef allerdings hatte als erfahrener Landwirt nach dem Entwarnungssignal der Sirenen die Pferdeställe aufzusuchen, um die Tiere zu beruhigen, gegebenenfalls aus den Hallen zu führen und anschließend erst seine Stube aufzusuchen.

      Spätestens nach der vierten Alarmnacht mit permanentem Schlafentzug überredete ich Josef, einfach mit mir im Keller liegen zu bleiben und bis zum Dienstbeginn auszuschlafen. Ich hatte nämlich am Vortag einen Raum mit Betten entdeckt, in dem sich tagsüber einige Feldwebel und Unteroffiziere ein kleines »Nickerchen« erlaubten. Was diesen tagsüber vergönnt war, probierten wir in der kommenden Alarmnacht selbst aus. Dabei legten wir uns jedoch nicht auf, sondern unter die Feldbetten und schliefen nach dem beendeten Alarm so tief ein, dass wir erst am späten Morgen, als die Sonnenstrahlen bereits durch ein kleines Kellerfenster in den Raum schienen, gegen 10:00 Uhr unsanft geweckt wurden. Unser korpulenter Spieß, Hauptfeldwebel Groß, hatte uns wie Nadeln im Heuhaufen gesucht und schließlich im Keller unter den Betten gefunden. Wutentbrannt brüllte er uns an:

      »Ihr verdammten Drückeberger, seid ihr des Wahnsinns? Wir suchen euch schon seit Stunden im ganzen Kasernenbereich und ihr verpisst euch hier unten im tiefsten Keller. Ich lasse euch strafexerzieren! Arrest und Ausgangssperre für unabsehbare Zeit sind auch angesagt. Wir sind doch


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