MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág. Группа авторов
»erstarren«29 – eine quasi-theatralische Intensität, die eine szenische Bildfolge imaginieren lässt.30 Die Herausforderung besteht nun darin, die Einzelgesten zu einem im weitesten Sinne sprachähnlichen Ganzen zu formen. Dabei bezieht sich Kurtág auf Ligeti: Ähnlich wie in den NouvellesAventures (1962–65) entsteht ein »parataktisch disponiertes Gebilde, eine gleichsam zerbrochene Form« dadurch, dass parallele Abläufe schichtenartig überlagert und »zunehmend ineinander verschlungen«31 werden. Im Lauf der Zeit wurden diese Verfahren von Kurtág beständig weiterentwickelt.
Im Kleinen – also in Bezug auf Miniaturen und Einzelsätze – gelingt es Kurtág auf diese Weise, aus »zerklüfteten Bruchstücken (…) Formgebilde zu bauen«.32 Es bleibt jedoch das Problem der Großform. Ligetis Hinweis auf »Monumentalformen, in denen die scheinbar zerbröckelten Bestandteile emotional und musiksprachlich eng verknüpft sind«33, sollte nicht zur Annahme verleiten, Kurtágs Formdenken sei im Großen durch übergreifende, stringente Geschlossenheit bestimmt. Trotz ihrer enormen Vielbezüglichkeit und Dichte sind Kurtágs zyklische Kompositionen auch durch »Heterogenität und Offenheit«34 sowie eine spezifische Zentripetalkraft35 gekennzeichnet. Er denkt nicht von der Form, sondern vom Einzelnen aus.36 Ligetis und Kurtágs großformale Strategien weisen somit Divergenzen auf, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Wie im Folgenden deutlich wird, lohnt es sich aber auch, der Geschlossenheit im Kleinen nachzugehen, die aus der Vielbezüglichkeit sprachähnlicher Gesten resultiert.
»… le tout petit macabre – Ligetinek«
In … pas à pas – nulle part … op. 36 setzt sich Kurtág mit Texten Becketts auseinander, die ihn bereits seit 1957 fasziniert hatten.37 Unter den vielen kurzen Einzelsätzen findet sich u. a. auch eine Ligeti-Hommage, deren Titel vielsagend ist: »… le tout petit macabre – Ligetinek« (der Untertitel lautet: »… imagine …«). Die Analyse dieser Miniatur fördert eine immense Beziehungsfülle zutage. Hier wird einsichtig, dass es Kurtág durch extreme Verdichtung38 und Vielbezüglichkeit gelingt, dem Zerfall in Einzelgesten entgegenzuwirken. Die komplexen Beziehungen, die dieses zweiteilige Stück bis ins kleinste Detail prägen, werden im Folgenden anhand unterschiedlicher Aspekte erläutert: Rhythmus/Artikulation, Stimmklang, Instrumentalklang, Intervallik/Gestus, Chromatische Linienzüge, Reihenanalyse und Tonhöhenvarianten. Auf konkrete Bezüge und Gemeinsamkeiten zu Ligeti wird dann in II.2 (»Humor«) eingegangen.
Notenbeispiel 4/ 1: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 1, Analyse)
Zu Abschnitt 1 (Notenbeispiel 4/1): Von Beginn an fällt auf, dass Kurtág – dies ist für seine Vokalmusik charakteristisch39 – die Einheit von Sprachklang und Sprachbedeutung bewahrt. So wird z. B. der staccato-Gestus »si ceci« (Phrase I/2) in Phrase I/4 (»ceci«) aufgegriffen (Notenbeispiel 4/1, »Rhythmus/Artikulation«). Zur weiteren Verdeutlichung dienen der sotto-voce-Klang der Stimme (vgl. »Stimmklang«) und das pp-Spiel des Schlagwerks (vgl. »Instr.-Klang«). Ein weiterer sprachlicher Bezug findet sich zwischen den Phrasen I/3 und I/5 (»un jour«; »un beau jour«). Im Gegensatz zu I/2 und I/4 geht es Kurtág jedoch hier darum, die Phrase I/5 vom Vorherigen abzusetzen. Dies wird anhand der folgenden Aspekte einsichtig: Erstens fällt die Phrase I/5 aus dem Metrum – im Gegensatz zu den anderen Phrasen, die rhythmisch ausnotiert sind (vgl. »Rhythmus/Artikulation«). Zweitens kontrastiert die Vortragsanweisung dolce, esagerato (vgl. »Stimmklang«) deutlich zum bisherigen Verlauf. Drittens wird I/5 erstmals von einem arco-Streichinstrument gefärbt (vgl. »Instr.-Klang«: Vla arco, ord., dolce). Viertens wird der anfängliche Abwärtsgestus in I/5 umgekehrt (vgl. »Intervallik/Gestus«; dies könnte man allerdings nicht nur als Kontrast, sondern auch als unmittelbaren Bezug verstehen). Und fünftens bricht in I/5 der schlüssige chromatische Linienzug ab (vgl. »Chromatische Linienzüge«): Das dis (Ton 11) kann nur in den Linienzug integriert werden, wenn es eine Oktave höher gelegt wird, und der letzte Ton (gis) fällt aus dem Rahmen. Dies macht insofern Sinn, als (sechstens, vgl. »Reihenanalyse«) das gis als überschüssiger (13.) Reihenton aus der Reihe fällt. Dieser Ton eröffnet deshalb nicht eine neue Reihe, weil gleich darauf der zweite Abschnitt mit einer deutlich erkennbaren Variante des Beginns einsetzt.
In Abschnitt 2 (Notenbeispiel 4/2) werden die Bezüge noch weiter verdichtet. Analog zu Abschnitt 1 beziehen sich die Phrasen II/2 und II/3 (»un jour«; »un beau jour«) textlich aufeinander. »Un beau jour« (II/3) ist allerdings wiederum vom Vorigen abgesetzt, und zwar durch ähnliche Mittel wie in Abschnitt 1: erstens durch die Fermaten (»Rhythmus/Artikulation«), zweitens durch die ironische Vortragsanweisung troppo dolce (»Stimmklang«), drittens durch die Violoncello-Färbung (»Instr.-Klang«: arco, ord., dolce) sowie viertens durch den Abbruch des Linienzugs (»Chromatische Linienzüge«: beim gis) und Reihenverlaufs (vgl. »Reihenanalyse«: beim 9. Ton).
Die Phrasen I/5 und II/3 haben also einige Gemeinsamkeiten: Neben dem Text »un beau jour« ist es auch eine gewisse Zäsur- und Kontrastfunktion, die sie miteinander verbindet. Dieser gestische und strukturelle Schnitt ermöglicht das Sammeln neuer Kräfte. Im Folgenden wird deutlich, dass die damit freiwerdenden Energien auf die letzte Phrase (II/6) hin gebündelt werden. Im dichten Beziehungsgeflecht kommt dieser Geste in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Erstens bezieht sie sich in Rhythmus und Sprache auf I/1 und II/1. Zweitens greift sie den in der Luft hängengebliebenen Spitzenton von II/3 (gis′) wieder auf (vgl. »Chromatische Linienzüge«). Drittens gibt es enge Tonhöhenbezüge zu II/2 und II/3 (und dadurch zu I/2,3 und I/5; »Tonhöhen-Varianten«). Und viertens werden mit dieser letzten Geste der Satztitel (»… imagine …«) und alle damit verbundenen Assoziationen in Erinnerung gerufen.
Notenbeispiel 4/ 2: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 2, Analyse)
Aus anderer Perspektive wird II/6 aber zu einem überraschenden Neuansatz: In der Stimme ist erstmals die Dynamik f, cresc. vorgeschrieben. Der Zickzack-Gestus von II/1 wird in sein Gegenteil verkehrt. Ferner folgt ein abrupter Ausbruch des Schlagwerks, das bis dahin unauffällig den Vokalpart gefärbt hatte. Die letzte Geste II/6 ist also einerseits in die Stimmigkeit des Beziehungsgeflechts eingebunden, sprengt aber andererseits zugleich die strukturell und klanglich definierten Maßstäbe. Dies zeigt, wie es Kurtág gelingt, singuläre profilierte Gesten herauszuarbeiten und diese durch extreme strukturelle Verdichtung über sich selbst und schlussendlich auch über die Grenzen der Miniaturformen hinausweisen zu lassen.
II.2 Humor40
In Ligetis Artikulation hatte Kurtág Qualitäten gefunden, die er als wesentlich für seine weitere Entwicklung erkannte: die Dichte der Ereignisse, die Direktheit der Aussage und das raffinierte Gleichgewicht zwischen Humor und Tragödie.41 Kurtágs Hang zum Beckett’schen Galgenhumor lässt sich also zum Teil auch von Ligeti herleiten. Einige verborgene, aber doch aufschlussreiche Hinweise dazu finden sich auch in »… le tout petit macabre – Ligetinek«. Der Titel dieser Miniatur bezieht sich auf Le grand